Acta Neophilologica XXV/1 (2023), S. 85-97 (PDF)
Einführung
Die Vereinigten Staaten von Amerika spielen eine bedeutende Rolle für das Selbstverständnis vieler Menschen im deutschen Sprachraum, oft als abschreckendes Beispiel. Die US-Amerikaner handeln oder sind, wie viele Deutsche und Österreicher nicht handeln oder sein wollen.[1] Dabei bezeichnet der Übergang von einer Kritik an einzelnen Handlungen zu einer Totalverwerfung des Betrachteten, zu einer Kritik an dessen Sein, den Übergang von legitimer Kritik zu Antiamerikanismus (Markovits 2007: 11). Dass eine solche Totalverwerfung in einer beträchtlichen Anzahl von Fällen auf Neid oder Ressentiment (Diner 2003: 7; Epstein 2003: 55–57; Schoeck 1958: 178) zurückgehen dürfte, kann im gegenwärtigen Rahmen nur vermerkt, nicht aber diskutiert werden.
Der mitteleuropäische Antiamerikanismus zeigt sich sozial ungleichmäßig verteilt. „‚Gewöhnliche‘ Europäer haben niemals dieselbe Abneigung gegen Amerika gehegt wie ihre Eliten.“ (Markovits 2008: 52) Dies führt zu einer überraschenden Anomalie, wo Xenophobie im Deutschland und Österreich der Gegenwart betrachtet wird: „die Welt der Universitäten ist allen Minoritäten gegenüber toleranter als Bürger sozial niedrigerer Schichten. Nur beim Antiamerikanismus ist dies nicht der Fall.“ (Markovits 2008: 54)
Das bedeutet in lebenspraktischer Hinsicht: Während die ‚einfachen‘ Leute den (vermeintlichen oder tatsächlichen) Segnungen des American Way of Life recht offen gegenüberstehen und übernehmen, was sie ästhetisch überzeugt, sofern sie es sich finanziell erlauben können, sind es namhafte oder weniger bekannte Vertreter der schreibenden Zunft, Intellektuelle jeglicher Abstufung, die den Antiamerikanismus verbreiten. Diesem Umstand wird auf den nachfolgenden Seiten Rechnung getragen, indem der Antiamerikanismus eines Stefan George zur Sprache kommt, der antiamerikanische Gehalt des Romans Die andere Seite von Alfred Kubin, außerdem einige Artikel der satirischen Zeitschrift Simplicissimus betrachtet werden.
Natürlich unterliegt auch der deutschsprachige Antiamerikanismus kultureller Evolution, was schon deshalb berücksichtigt werden sollte, weil die folgenden Seiten Vignetten aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg bis hin zur Gegenwart versammeln. Hier muss eine wesentliche Veränderung in Betracht gezogen werden: „Das Milieu, welches früher in Österreich und Deutschland schwarz oder braun war, ist seit Ende der 60er Jahre rot und heute oft mehrheitlich grün.“ (Markovits 2008: 54) Dies betrifft natürlich vor allem die Westhälfte der heutigen Bundesrepublik Deutschland (Schwaabe 2003: 157). Der Antiamerikanismus gewisser Kreise des deutschsprachigen Bildungsbürgertums in Belle Epoque und Interbellum wird heute von neuen Wirten getragen, namentlich den Grünen[2] und ihnen nahestehenden Kulturschaffenden. Diesem Umstand wird der Hinweis auf den Liedermacher Hans Söllner und den unlängst verstorbenen Politiker Christian Ströbele Rechnung tragen.
Was ist das Gemeinsame? Antikapitalismus und Ökologismus. Christian Ströbele und Stefan George gleichen einander in ihrer ablehnenden Einstellung zur Markt- und Unternehmerwirtschaft (irreführende Bezeichnung: Kapitalismus) sowie zu deren Erzeugnissen. Sie fällen, wie im Folgenden zu sehen sein wird, kategorische Urteile über Qualität und Bekömmlichkeit der Produkte, wobei die Frage der Bekömmlichkeit nur eine Einbruchstelle für den Ökologismus darstellt. Auch die Art und Weise der Produktion, ja die schiere Menge des Produzierten wird inkriminiert. Sowohl George als auch die Grünen zeichnen sich durch einen Malthusianismus aus, der weit über Fragen der Ernährung hinausreicht (Dahlmanns 2016: 159–162).[3]
Die Erfahrungswirklichkeit – alles im nicht-trivialen Sinne Mess- und Überprüfbare (Popper 1992: 82–85) – spielt für diese Art Antikapitalismus und Ökologismus keine oder bloß eine stark untergeordnete Rolle. So gelangen wir zu einem weiteren Wesenszug des Antiamerikanismus: zu seiner Abneigung gegen die Erfahrungswirklichkeit, die ihn, im Lichte des Kritischen Rationalismus Karl Poppers betrachtet, zur Ideologie, zum Vorurteil macht.[4] Dies wird zuweilen dadurch ausgedrückt, dass Amerika-Verächter sich ihr Amerika ‚erfinden‘ (Kamphausen 2002: 15–17).
Der vorliegende Aufsatz lässt die beiden ersten Nachkriegsjahrzehnte, die „kulturellen Flitterwochen zwischen den USA und der Bundesrepublik“ (Jessica Gienow-Hecht, nach Schwaabe 2003: 157) unbesprochen, weil er vor allem auf die Gleichartigkeit des neueren ‚grünen‘ Antiamerikanismus und seiner älteren Spielformen bereits vor dem Ersten Weltkrieg aufmerksam machen möchte. Wo die Zeit des Eisernen Vorhangs gestreift wird, konzentriert er sich auf die westliche Hälfte Mitteleuropas.
I
Der bayrische Liedermacher Hans Söllner singt in seinem 1989 veröffentlichten Album Hey Staat über einen damaligen Abgeordneten des bayrischen Landtags und späteren stellvertretenden CSU-Vorsitzenden, dieser sei „schoʼ so süchtig, dass er Büchsenbier sauft“ (Söllner 1989),[5] also bereits derart abhängig, dass er sich bereit finde, Dosenbier zu trinken. Söllner setzt dabei voraus, dass Bier aus Glas- und wohl auch Pfandflaschen zu trinken sei, und er hat offenbar allen Grund, auf die Zustimmung seines Publikums zu rechnen, da die Gewissheit, dass Bier aus Glasflaschen besser schmecke, den epistemologischen Status einer Volksweisheit oder „folk notion“ (Barnett et al. 2016: 6) besitzt. Die unterliegenden Oppositionen von kulturwissenschaftlicher Relevanz lauten: Flasche vs. Dose – von Söllner pejorativ als Büchse bezeichnet, womit zugleich ein herzhaft stabendes Kompositum gewonnen wird –, Glas vs. Weißblech etc., sehr häufig auch Pfand vs. Einweg. Und, was überraschen mag, Deutschland vs. die Vereinigten Staaten von Amerika.
Dosenbier nämlich ist eine amerikanische Erfindung. Nach Versuchen, die im Jahr 1909 im Bundesstaat Montana ihren Anfang genommen hatten, und technischen Schwierigkeiten, die u.a. der Notwendigkeit einer inneren Beschichtung, die das Metall der Dose von ihrem Inhalt trennt, geschuldet waren, wurde 1932 in Newark, New Jersey, die erste Partie von 2000 Bierdosen gefüllt, die allerdings keine Abnehmer fanden (Maxwell 1993: 95). Anfang 1935 wagte dieselbe Brauerei einen neuen Versuch, und im Verlauf des Jahres wurde die neue Darreichungsform des Gerstensafts in den USA allgemein akzeptiert. 1937 gelangte sie ins Deutsche Reich (Meier 2020, nach 17 Min., 25 Sek.). Wie das Schaffen des Liedermachers Söllner 1989 und auch die Einführung des Dosenpfands im Jahr 2003 zeigen, traf die Bier- und allgemeiner die Getränkedose in der Alten Welt auf nachhaltigen Widerstand. 2013 lag der Anteil des in Glas- und Mehrwegflaschen verkauften Bieres in der Bundesrepublik Deutschland bei über 90 Prozent (Birkenstock 2013).
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