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Deutschland im November: drei Vignetten aus einem reichen Land

I

Werktag, zwischen 21.00 und 22.00 Uhr: Fahrt mit der S-Bahn von Hamburgs Flughafen zum Hauptbahnhof. Dreimal angebettelt – allerdings nicht individuell, sondern im Kollektiv, da jeder der drei an verschiedenen S-Bahnhöfen einsteigenden Bettler sich an sämtliche Fahrgäste zugleich wandte, dabei Blickkontakt vermied. Außerdem liefen zwei Flaschen- und Dosensammler durch den Wagen, die kleinen Abfallbehälter unter den Fenstern prüfend. Einer jung, mit allen Symptomen schwerer Drogensucht; er bewegte sich durch das Abteil, als sei außer ihm und den Dämonen, die ihn zerfleischen, niemand anwesend. Der andere, zwei-drei Stationen später eingestiegen, ein älterer Mann, sauber und vergleichsweise gepflegt wirkend. Er bat um Nachsicht, daß er zwischen meinem Gegenüber und mir an den Abfallbehälter wollte.

II

Eine Kleinstadt in Weser-Nähe, Flaschenrückgabe bei einem Discounter. Ein verwahrlostes Paar in zerknitterten Regenjacken, älter, doch nicht wirklich alt, schiebt Getränkedosen und Plastikflaschen für weit über zwanzig Euro auf das Band des Rücknahme-Automaten, die sie aus riesenhaften, breiten Tüten aus recht kräftigem Plastik ziehen. Das dauert natürlich. Die Beiden sondern beißenden Gestank ab, der so schnell nicht aus dem fensterlosen Raum abziehen wird – der automatischen Türen wegen.

III

Zwei Wochen später. Eine andere, größere Stadt zwischen Aller und Elbe, ein ‚besserer‘ Supermarkt. Wieder eine stark stinkende Person am Rücknahme-Automaten, eine zierliche ältere Dame mit grauem Haar. Sie muß einmal sehr attraktiv gewesen sein. Ihr Haar klebt an ihrem Haupt, dürfte wenigstens zehn Tage nicht gewaschen worden sein. Alles an ihr ist speckig und klebt bei Berührung, so die Henkel einer der gewaltigen Plastiktüten, die berührt zu haben ein Mann mittleren Alters – Typus Handwerker – bedauert, nachdem er, der Dame helfend, die Angelegenheit vorantreiben wollte. Umgängliches Lächeln, ein Nicken zu mir, diskretes Abreiben der Finger. Der Einwurf stockt, weil die Frau am Automaten zunehmend fahriger wirkt und nicht zu verstehen scheint, weshalb – oder auch bloß: daß – der Automat die Annahme einiger Dosen oder Flaschen verweigert. Nach einigen Versuchen wird die Taste für den Pfandbon gefunden. Eine Verkäuferin eilt herbei: „Komm her, ich zahl es dir aus.“

Geschwurbel & Geschwätz

Geschwurbel & Geschwätz

Die grassierende Übellaunigkeit in der deutschsprachigen Welt (real und online) ließe sich vermutlich mildern, wenn wir davon absehen würden, unliebsame Meinungen als „Geschwurbel“, „Geschwätz“, „Gelaber“ usw. abzutun, von „Hass“ und „Hetze“ gar nicht erst zu sprechen. Wenn ein Mensch eine Auffassung äußert, der wir widersprechen möchten, kann das in würdiger Weise geschehen. Er sagt etwas, vertritt seine Sicht der Dinge, argumentiert so oder anders, folglich verdient er ein Gegenargument, eine Widerlegung ad rem (in der Sache), keine Beschimpfung, die seine Vernunftfähigkeit oder gar sein Menschsein in Abrede stellt.

Das ist doch nicht so schwierig. Und es würde dazu beitragen, das bisserl Kultur zu erhalten, welches uns geblieben ist.

(Beitragsbild: Francisco Goya, Bartolomé Sureda y Miserol, um 1803/1804 (Ausschnitt). National Gallery of Art (USA), gemeinfrei. )

Die Frage nach Gott
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Die Frage nach Gott

Süddeutsches Idyll. Seeufer. Zwei Herren in den besten Jahren, jugendlich-freizeitlich gekleidet; man hat Urlaub. Das Gespräch über Bande gespielt, per Bezug auf gemeinsame Erlebnisse. Andeutungen reichen; man kennt sich. Es kommt die Frage nach Gott auf. „Religion? Das ist nichts für mich“, sagt der Eine. Der Andere, offenbar ein recht frischer Konvertit zum Katholizismus, unternimmt einen halbherzigen Versuch, den Freund zu überzeugen. Man wechselt rasch das Thema.

Schade, daß er (der „Andere“) so zurückhaltend – feige? – war. Er hätte zunächst unterscheiden sollen: die kosmologische Frage (Existenz Gottes) von der moraltheoretischen oder meinethalben vulgärmoraltheoretischen Frage (Gott als Moral-Durchsetzer) sowie von der lebensphilosophischen Frage (Gott als Gipfel der Wert-Hierarchie). So hätte er, sich auf letztere konzentrierend, seinem Freunde zu bedenken geben können: „Wenn Du ganz sicher bist, ohne Gott leben zu können, und dabei in Dingen, die ohne Ironie abgehandelt werden sollten, Ironie vermeiden kannst, und auch ganz sicher bist, ohne Gott leben zu können, und dabei von sämtlichen Formen des Zynismus abzustehen vermagst, einschließlich jener, die gerade in Mode sind und großstädtisch oder weltmännisch wirken, dann, ja dann lebe ohne Gott.“

(Beitragsbild: Chiemsee. Antranias, Pixabay.)

Sie waren „absolut totalitär unterwegs“
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Sie waren „absolut totalitär unterwegs“

Ben Brechtken bemerkt auf Nius, wobei es nicht darauf ankommt, ob bei den Prozentangaben einige Punkte abzuziehen oder (von der letzten Angabe abgesehen) hinzuzugeben wären:

Während Corona haben Politik, Medien und Gesellschaft […] in so einem großen Ausmaß versagt, dass eine richtige Aufarbeitung kaum vorstellbar ist. 70 Prozent der Deutschen, 80 Prozent der Polizisten, 90 Prozent der Journalisten, 95 Prozent der Lehrer, 97 Prozent der Ärzte, 99 Prozent der Verwaltungsmenschen und 100 Prozent der Regierungspolitiker müssten sich eingestehen, dass sie nicht nur falsch lagen, sondern absolut totalitär unterwegs waren.

Man habe sich, so Brechtken weiter, als „Diskriminierer pudelwohl gefühlt“, sich der Illusion hingegeben, im „Hass auf Ungeimpfte auf der richtigen Seite der Geschichte“ zu stehen. Wie dünn der Firnis der Zivilisation doch ist, wie brüchig die Voraussetzungen der Freiheit doch sind. Der Wunsch, „wichtig“ und „gut“ zu sein oder auch nur „wichtig“, greift in einer postreligiösen Gesellschaft, die kaum noch über bindende Traditionen verfügt, stets ins Politische, verfängt sich dort, nistet und gluckt, bis das Übliche, ein freiheitsfeindlicher Kollektivismus schlüpft. Leider. Und dann gilt, wie Brechtken konstatiert: „Nie war es einfacher, sich moralisch überlegen zu fühlen: Maske auf, Impfung rein, Andersdenkende diffamieren, fertig.“

Jordan Peterson berichtet von derselben Mentalität in Kanada. 30 Prozent seiner Nachbarn hätten es großartig gefunden, ihre Mitmenschen für Verstöße gegen den Maskenzwang zu denunzieren. „Sie hätten diese verdammten Masken für den Rest ihres Lebens getragen, um sich moralisch überlegen zu fühlen.“

Die Moral all dessen? Mißtraue dem Staat, und das vor allem dort, wo er Dein Bestes zu wollen vorgibt, indem er für Dich entscheidet. Mißtraue aber auch Deinen Mitmenschen, und das besonders dort, wo sie sich allzu einig sind. Genau deshalb heißt es bei Rudyard Kipling: „when Mob or Monarch lays / Too rude a hand on English ways“ (wenn die Menge oder der Monarch / zu sehr gegen die Sitten Englands verstößt), besteht in dieser zweifachen Verteidigung der eigentliche Zweck einer freiheitlichen Ordnung.

„Aber es sah im Angelsächsischen, in Australien oder Neuseeland nicht besser aus“, wenden Sie nun ein. Ja, das ist das Erschütternde…

(Bild: Winslow Homer, Sheep (1878).  The Metropolitan Museum of Art, New York City, Public Domain.)

Von den „armen“ Philosophen

Von den „armen“ Philosophen

Es gibt einige Mißverständnisse, was das Verhältnis der Philosophen zum Gelde und deren mutmaßliche Weltfremdheit angeht. Das wusste bereits Aristoteles, der über Thales von Milet berichtet:

Als man ihm wegen seiner Armut vorhielt, die Philosophie sei eine unnütze Beschäftigung, da – so sagt man – habe er aus der Berechnung der Gestirne erschlossen, daß eine große Olivenernte bevorstehe; er habe noch im Winter, da er gerade über bescheidene Mittel verfügte, für sämtliche Ölpressen in Milet und auf Chios Anzahlungen hinterlegt und sie für einen geringen Betrag gemietet, da niemand ein höheres Angebot machte. Als aber die Ernte kam und zur gleichen Zeit und plötzlich viele Ölpressen gesucht wurden, habe er sie nach Bedingungen, wie sie ihm gefielen, vermietet; er habe viel Geld gewonnen und bewiesen, daß es den Philosophen leicht ist, reich zu werden, wenn sie wirklich wollen – jedoch dies sei nicht, worauf sie ihr Streben richten.

(Quelle: Aristoteles, Politik, Buch I. Über die Hausverwaltung und die Herrschaft des Herrn über Sklaven (Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung, hrsg. von Hellmut Flashar, Bd. 9.I). Berlin 1991, S. 29 (1259a). Beitragsbild: Jan Collaert I (um 1530–1581), Nova Reperta, Tafel XII (die Ölpresse), nach Jan van der Straet (1523–1605), um 1600 veröffentlicht von Philips Galle (1537–1612 ). The Metropolitan Museum of Art, New York City, Public Domain.)

Fernreise, Steak und Sechszylinder

Fernreise, Steak und Sechszylinder

Sorge Dich nicht!

Du wirst Dein Steak essen. So oft und so groß, wie es Dir gefällt.

Du wirst in den Urlaub fliegen. So oft und so weit, wie es Dir gefällt.

Du wirst einen schönen Sechszylinder fahren. Mit sattem, röhrendem Klang, wie es Dir gefällt.

Du wirst Dein großes Haus mit Erdgas oder anderen günstigen Brennstoffen heizen. Kuschelig warm oder noch wärmer, ganz wie es Dir gefällt.

Betrachte den Öko- und Klimaquatsch als eine vorübergehende Erscheinung; er wird sich austoben. Und Du, Du kannst ihn abwählen.

(Bild: Pixabay.)

Er hat’s geschafft

Es war nicht leicht. Doch hat er’s geschafft. Über Jahre hinweg alles „Problematische“, „Überholte“, „Kontroverse“ an sich ausmerzend, erkennt er sich kaum mehr wieder. Dafür wird er überall, wo es seinem Fortkommen dient, gern gesehen. Er gehört dazu. Und ist langweilig. Unglaublich langweilig.

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Theodore Dalrymple: die „Respekt“-Bürokratie

Theodore Dalrymple liefert lohnende Bemerkungen über „Respekt“ an Universitäten (und anderswo), sowie über die besondere Art von Bürokratie, welche sicherstellen soll, daß er nicht mangle:

That all should be fair, open, aboveboard, that no one should ever experience discomfort because of what someone else says, that each should be shown equal signs or marks of respect, that no one should feel left out of anything, is an impossible pipe dream, as the most minimal reflection on experience should make evident.

What is possible, however, and what has eventuated, is a large and well-paid bureaucracy that has secured what it supposes to be its own eternity by the pursuit of such chimeras. Its work will never be done. The more cowed people are by regulations of their speech and conduct, the more microaggressions remain to be discovered and adjudicated. The task of securing diversity, equity, and inclusion is like the task of Sisyphus, with this difference: that in its very impossibility lies an assurance of a job, a pension, and a gratifying sense of doing the world’s work.

(Daß alle Leute fair, offen, aufrichtig sein mögen, daß niemand jemals Unwohlsein verspüren soll, weil jemand etwas Unschönes sagt, daß allen dasselbe Maß und dieselbe Art von Respekt entgegengebracht werden sollen, niemand aus irgendeinem Kreis ausgegegrenzt werden möge, ist eine völlig unrealistische Idee, wie bereits der kürzeste Blick auf die Erfahrungswirklichkeit klar machen sollte.

Was hingegen möglich und auch tatsächlich zustande gekommen ist, das ist eine umfängliche und großzügig entlohnte Bürokratie, die ihr eigenes Bestehen für ewig sichergestellt hält, indem sie die Verwirklichung solcher Schnapsideen anstrebt. Ihre Arbeit wird niemals abgeschlossen sein. Je einschneidender die Menschen durch Sprach- und Verhaltenskodizes eingeschüchtert werden, desto mehr Mikroagressionen bleiben übrig, um aus- und unschädlich gemacht zu werden. Die Gewährleistung von Vielfalt, Gleichheit und allgemeiner Teilhabe gleicht dem Schicksal des Sisyphus – mit dem entscheidenden Unterschied freilich, daß gerade in ihrer Unmöglichkeit die Garantie für einen Job, ein Gehalt und die befriedigende Aussicht liegen, dem Guten in der Welt zu dienen.)

Es lohnt sich, den gesamten Essay zu lesen.