Karsten Dahlmanns: „Stefan George zwischen Antiamerikanismus und Anglophilie“ jetzt im OA verfügbar
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Karsten Dahlmanns: „Stefan George zwischen Antiamerikanismus und Anglophilie“ jetzt im OA verfügbar

Nach Ablauf der Schutzfrist ist mein Aufsatz über Antiamerikanismus und Anglophilie bei Stefan George jetzt im OpenAccess zugänglich. Sie finden ihn in der eLibrary des Verlags Vandenhoeck & Ruprecht oder hier (PDF), außerdem – mit den Fußnoten des Originals als Endnoten – einige wenige Millimeter unterhalb dieser Vorrede. Viel Freude bei der Lektüre!

I

Stefan George war kein Freund der Vereinigten Staaten von Amerika und ihrer Bewohner. Kamen Land und Leute vor dem ‚Meister‘ zur Sprache, „rümpfte Man [George – K.D.] gleich die Nase.“[1] Während eines Tischgesprächs in Minusio bemerkte der Dichter, dass „Amerika […] wohl ungefähr dem entspräche was für die Griechen die Barbarei gewesen sei.“[2] Als zur Diskussion stand, ob Friedrich Wolters für einige Monate an eine amerikanische Universität gehen solle, sprach sich George dagegen aus: „nee, um Gottes willen – wenn man da nur ausspuckt, hinterläßt man viel zu viel geist – – die pa[a]r deutschen ideen davon lebt die welt sogar der sozialismus der schund – nicht mal den können sie hervorbringen“.[3] Denn „Geist gibt’s dort nicht.“[4]

Dies ist die radikalste Variante Georgescher Amerikaverdammung; eine geringfügig mildere Abart – von Ute Oelmann aus dem Nachlass herausgegeben – gesteht
zu, dass es in der Neuen Welt ‚Geist‘ gebe, dieser aber bloß als Unterhaltung oder ergänzende, oberflächliche Motivation zu weiterer Wirtschaftstätigkeit geduldet werde:

In Amerika ist die Erziehung zum Dollar, das geistige wird dort nur geduldet, weil┌obwol xxxxx┐es doch nötig┌könnte┐damit der Dollarmensch┌macher┐nicht einschläft. (weil es vielleicht doch dazu gehört)[5]

Ob nun die schärfere oder die mildere Variante als wesentlich für Georges Denken angenommen wird: in beiden Fällen fungieren die Vereinigten Staaten als eine Art Gegenwelt. Dort herrscht, was George nicht schätzt, und dorthin lassen sich Anhänger, die den ‚Meister‘ enttäuscht oder verärgert haben, abschieben. Entsprechend bemerkte George über Percy Gothein: „Früher hat man einem solchen Menschen ein paar hundert Mark in die Hand gedrückt und gesagt, geh übers große Wasser und verschwinde!“[6]

Ein entscheidender Zug Georgescher Amerikafeindschaft besteht darin, dass sie mit den tatsächlich existierenden Vereinigten Staaten allenfalls mittelbar zu tun hat. Dies zeigt die folgende, von Edith Landmann überlieferte Äußerung, in der den Menschen in der Neuen Welt jegliche Möglichkeit abgesprochen wird, sich zum Besseren zu entwickeln:

als er [George – K.D.] von einer grässlichen rosinenbrühe erzählte, die als kalifornischer wein ausgegeben wurde, und I. [Julius Landmann – K.D.] meinte, das habe seine zeit, in 200 jahren werde es da einen possiblen wein geben, er: nie wird es ihn geben, Lumpenpack sind sie, und lumpenpack werden sie bleiben. ich weiss auch warum. aber ich werde mich hüten es zu sagen sie sollen lumpenpack bleiben[.][7]

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„Der gute und der böse Neid“ – über Helmut Schoeck.
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„Der gute und der böse Neid“ – über Helmut Schoeck.

Junge Freiheit Nr. 40/23

Herr Professor Dahlmanns, ist Ihnen da ein Fehler unterlaufen?
Karsten Dahlmanns: Inwiefern?

Der Titel Ihres Buchs lautet: „Vom besonderen Unglück tüchtigerer Minderheiten“. Sicher soll das aber doch „Glück“ heißen?
Dahlmanns: Nein, denn alles hat seinen Preis, also auch der glückliche Umstand, ein besonderes Talent zu besitzen, außergewöhnlich attraktiv zu sein oder sorgsame, wohlsituierte Eltern zu haben. Da läßt der Neid der weniger von Fortuna Bedachten nicht lange auf sich warten.

Ich spüre in der Tat die Eifersucht schon brodeln …
Dahlmanns: Und wie gehen Sie damit um?

Manche treten ihren Hund … Ich natürlich nicht!
Dahlmanns: Meist äußert sich Neid in eher harmlosen Formen, etwa in despektierlichen Beschreibungen, unterfüttert mit einer Art Küchenpsychologie.

Zum Beispiel?
Dahlmanns: Der virtuose Programmierer wird zum „Nerd“, Gutaussehende firmieren unter „Beau“ oder „Prinzeßchen“ und verfügen angeblich über einen bestenfalls oberflächlichen Charakter, und Kinder aus gutem Hause, die sich benehmen können, werden dafür bedauert, keine richtigen Kinder sein zu dürfen. Der Publizist Rainer Zitelmann weist darauf hin, daß wirtschaftlich Erfolgreiche gern als gefühlskalt, rechen- und automatenhaft beschrieben werden: Wer reich ist, der „muß“ zum Ausgleich ein emotionales Defizit aufweisen.

„Hilf dir selbst, so hilft dir Gott“, „Das Glück ist mit den Tüchtigen“, „Dem Tüchtigen gehört die Welt“ Wenn tüchtig zu sein ein Unglück ist, führen uns dann diese Volksweisheiten seit Jahrhunderten in die Irre?
Dahlmanns: Nein, sie liegen schon richtig. Ihr Gegenstand taucht bereits in einem Gleichnis Jesu auf: Wer ein Talent erhält und es vergräbt – also nichts daraus macht –, kann auf Gnade nicht hoffen. Bemerkenswert ist, daß diese Volksweisheiten eine Ermunterung darstellen. Warum aber ist eine solche Ermunterung überhaupt nötig? Wohl deshalb, weil der Begabte einen Anstoß braucht, sein Glück trotz der im Falle eines Mißerfolgs zu erwartenden Häme seiner Nachbarn, Mitschüler, Kollegen zu erproben.

Aber ist Neid nicht eigentlich ein Problem des Neiders?
Dahlmanns: Wäre er ausschließlich das Problem des Neiders, lebten wir in einer anderen Welt. Der 1993 verstorbene Soziologe Helmut Schoeck nennt eine Fülle Beispiele aus aller Herren Länder, die zeigen, wie gefährlich es werden kann, wenn man beneidet wird – bis hin zum Mord aus Neid: Ein, wie Schoeck formuliert, „unansehnlicher Gelegenheitsarbeiter“ tötete einen jungen Mann, weil er „den Glanz des erfolgreichen Sportlers nicht ertragen“ konnte, oder ein begabter Musikstudent ermordete einen noch begabteren Musikstudenten. Der in Deutschland viel zu wenig bekannte US-Soziologe Thomas Sowell ergänzt Schoecks Forschung um weitere Beispiele aus Asien, Afrika und Lateinamerika: Wo auch immer eine Minderheit in irgendeiner Form tüchtiger ist, etwa mehr Universitätsabschlüsse erwirbt oder besser verdient als die umgebende Mehrheit, drohen ihr Übel. Dies gilt besonders dann, wenn sie sich äußerlich unterscheidet, wie etwa die meisten ethnischen Chinesen in Indonesien oder indische Händler im Osten Afrikas. Erstere hatten Pogrome zu erleiden, letztere wurden aus vielen in die Unabhängigkeit entlassenen Staaten vertrieben, mitsamt ihrem Know-how. Im Peru des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts bildeten japanische Immigranten eine tüchtigere Minderheit hinsichtlich Bildung und Geschäftstätigkeit, ja selbst bei bloßer Land- und Lohnarbeit; es gab Pressekampagnen gegen sie, Boykottversuche und schließlich ein Gesetz, das die Einwanderung von Japanern gründlich einschränkte. Und honduranische Bauern klagten, es sei „unfair“, mit allzu arbeitsamen Immigranten aus Deutschland konkurrieren zu müssen. Die Beispiele zeigen, wie Sowell Schoecks Ansatz fortführt, ohne – versteht sich –, von ihm abhängig zu sein. Da von Minderheiten die Rede ist: Die kleinste Minderheit bildet, mit der libertären Autorin Ayn Rand zu sprechen, das begabte Individuum. Schoeck legt seinen Finger immer wieder auf eine besondere Wunde: die Entmutigung des begabten oder sonstwie besser situierten Einzelnen durch unterschwellige oder auch gröbere Gemeinheiten einer neiderfüllten Umgebung.

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Karsten Dahlmanns: „Selbstbezüglichkeit, Selbstbeschränkung und Fremdausgrenzung in Monika Marons Roman Artur Lanz (2020)“ jetzt im OA verfügbar
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Karsten Dahlmanns: „Selbstbezüglichkeit, Selbstbeschränkung und Fremdausgrenzung in Monika Marons Roman Artur Lanz (2020)“ jetzt im OA verfügbar

Mein bei Vandenhoeck & Ruprecht erschienener Aufsatz über den – ja, ja – „umstrittenen“ Roman Artur Lanz von Monika Maron ist inzwischen unentgeltlich zugänglich (OpenAccess). Sie finden ihn in der eLibrary des Verlags Vandenhoeck & Ruprecht oder hier (PDF).

Der Aufsatz zitiert neben Monika Maron u.a. Norbert Bolz, David Engels, Friedrich August von Hayek, Karl Popper und Wilhelm Röpke; er bewegt sich im Übergangsfeld von Philologie und Staatsphilosophie. Viel Freude bei der Lektüre!

(Beitragsbild: DangrafArt via Pixabay.)

Aufstieg und Versagen des Peer-Review-Verfahrens
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Aufstieg und Versagen des Peer-Review-Verfahrens

Adam Mastroianni bilanziert auf seinem Substack Nutzen und Nachteil des PeerReview-Verfahrens. Sein Urteil fällt vernichtend aus.

Zur Erinnerung: Peer Review besteht darin, daß wissenschaftliche Veröffentlichungen, ob Paper (vulgo: Aufsatz), ob Monographie (vulgo: Buch), vor ihrer Publikation von anderen Wissenschaftlern begutachtet werden, die sie zulassen, Umarbeitung verlangen oder gänzlich ablehnen.

Zu einer Voraussetzung ist die Sache nach dem Zweiten Weltkrieg gemacht worden. Wissenschaftsgeschichtlich darf zwangsweise Peer Review damit als junge Entwicklung gelten, vielleicht auch als Mode, in jedem Falle aber, so Mastroianni mit leichter Ironie, als ein Experiment.

Mastroiannis Fazit:

(1) Peer Review bringt wenig, wo die Publikation unzutreffender Behauptungen verhindert werden soll. Wie Experimente zeigen, finden Gutachter nur etwa 25-30 Prozent der gravierenden Fehler in eingereichten Forschungsarbeiten.

(2) Korollar: Peer Review versieht Aufsätze, die es nicht verdienen, mit einem Odium höchster Klugheit, weil, so Mastroianni, „big stickers that say INSPECTED BY A FANCY JOURNAL“, große Aufkleber mit der Aufschrift GEPRÜFT DURCH EINE TOLLE ZEITSCHRIFT darauf gepappt werden:

That debunked theory about vaccines causing autism comes from a peer-reviewed paper in one of the most prestigious journals in the world, and it stayed there for twelve years before it was retracted.

(Die widerlegte Theorie über den Zusammenhang zwischen Impfungen und Autismus stammt aus einem begutachteten Aufsatz, der in einer der weltweit angesehendsten wissenschaftlichen Zeitschriften publiziert worden war. Es dauerte zwölf Jahre, bis er schließlich zurückgezogen wurde.)

(3) Wissenschaftler nehmen die Bemerkungen von Gutachtern selten ernst. Lehnt eine wissenschaftliche Zeitschrift einen Aufsatz ab, weil die Peer Review negativ ausfällt, wird der Text eher nicht umgearbeitet, sondern bei einer anderen Zeitschrift eingereicht.

(4) Wissenschaftler halten Ideen für plausibel, die noch kein PeerReview-Verfahren durchlaufen haben, weil sie „nur“ auf Konferenzen vorgetragen oder auf irgendwelchen Internet-Platformen, Blogs etc. veröffentlicht worden sind.

(5) Wissenschaft braucht Freiheit, keine institutionalisierte Selbstzensur, die, so Mastroianni, wie jede Form von Zensur das Sich-Durchsetzen der Wahrheit verlangsamt. Er fügt ein Beispiel an: Einst war Eugenik in Mode. Wie hoch wäre die Wahrscheinlichkeit, daß damalige Gutachter einen Aufsatz akzeptieren, der ihren Vorannahmen zuwiderläuft?

Und noch ein Beispiel:

if scientific journals had existed in Copernicus’ time, geocentrist reviewers would have rejected his paper and patted themselves on the back for preventing the spread of misinformation. 

(Wenn es zu Kopernikus‘ Zeiten wissenschaftliche Zeitschriften gegeben hätte, hätten geozentristisch gesonnene Gutachter sein Paper abgelehnt und einander auf die Schultern geklopft, da sie die Verbreitung von Falschheiten verhindert haben.)

Bitte lesen Sie den ganzen Text.

(Betragsbild: Pixabay.)

Von Büchsen und Burgern. Zum deutschsprachigen Antiamerikanismus innerhalb und außerhalb der schönen Literatur
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Von Büchsen und Burgern. Zum deutschsprachigen Antiamerikanismus innerhalb und außerhalb der schönen Literatur

Acta Neophilologica XXV/1 (2023), S. 85-97 (PDF)

Einführung

Die Vereinigten Staaten von Amerika spielen eine bedeutende Rolle für das Selbstverständnis vieler Menschen im deutschen Sprachraum, oft als abschreckendes Beispiel. Die US-Amerikaner handeln oder sind, wie viele Deutsche und Österreicher nicht handeln oder sein wollen.[1] Dabei bezeichnet der Übergang von einer Kritik an einzelnen Handlungen zu einer Totalverwerfung des Betrachteten, zu einer Kritik an dessen Sein, den Übergang von legitimer Kritik zu Antiamerikanismus (Markovits 2007: 11). Dass eine solche Totalverwerfung in einer beträchtlichen Anzahl von Fällen auf Neid oder Ressentiment (Diner 2003: 7; Epstein 2003: 55–57; Schoeck 1958: 178) zurückgehen dürfte, kann im gegenwärtigen Rahmen nur vermerkt, nicht aber diskutiert werden.

Der mitteleuropäische Antiamerikanismus zeigt sich sozial ungleichmäßig verteilt. „‚Gewöhnliche‘ Europäer haben niemals dieselbe Abneigung gegen Amerika gehegt wie ihre Eliten.“ (Markovits 2008: 52) Dies führt zu einer überraschenden Anomalie, wo Xenophobie im Deutschland und Österreich der Gegenwart betrachtet wird: „die Welt der Universitäten ist allen Minoritäten gegenüber toleranter als Bürger sozial niedrigerer Schichten. Nur beim Antiamerikanismus ist dies nicht der Fall.“ (Markovits 2008: 54)
Das bedeutet in lebenspraktischer Hinsicht: Während die ‚einfachen‘ Leute den (vermeintlichen oder tatsächlichen) Segnungen des American Way of Life recht offen gegenüberstehen und übernehmen, was sie ästhetisch überzeugt, sofern sie es sich finanziell erlauben können, sind es namhafte oder weniger bekannte Vertreter der schreibenden Zunft, Intellektuelle jeglicher Abstufung, die den Antiamerikanismus verbreiten. Diesem Umstand wird auf den nachfolgenden Seiten Rechnung getragen, indem der Antiamerikanismus eines Stefan George zur Sprache kommt, der antiamerikanische Gehalt des Romans Die andere Seite von Alfred Kubin, außerdem einige Artikel der satirischen Zeitschrift Simplicissimus betrachtet werden.

Natürlich unterliegt auch der deutschsprachige Antiamerikanismus kultureller Evolution, was schon deshalb berücksichtigt werden sollte, weil die folgenden Seiten Vignetten aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg bis hin zur Gegenwart versammeln. Hier muss eine wesentliche Veränderung in Betracht gezogen werden: „Das Milieu, welches früher in Österreich und Deutschland schwarz oder braun war, ist seit Ende der 60er Jahre rot und heute oft mehrheitlich grün.“ (Markovits 2008: 54) Dies betrifft natürlich vor allem die Westhälfte der heutigen Bundesrepublik Deutschland (Schwaabe 2003: 157). Der Antiamerikanismus gewisser Kreise des deutschsprachigen Bildungsbürgertums in Belle Epoque und Interbellum wird heute von neuen Wirten getragen, namentlich den Grünen[2] und ihnen nahestehenden Kulturschaffenden. Diesem Umstand wird der Hinweis auf den Liedermacher Hans Söllner und den unlängst verstorbenen Politiker Christian Ströbele Rechnung tragen.

Was ist das Gemeinsame? Antikapitalismus und Ökologismus. Christian Ströbele und Stefan George gleichen einander in ihrer ablehnenden Einstellung zur Markt- und Unternehmerwirtschaft (irreführende Bezeichnung: Kapitalismus) sowie zu deren Erzeugnissen. Sie fällen, wie im Folgenden zu sehen sein wird, kategorische Urteile über Qualität und Bekömmlichkeit der Produkte, wobei die Frage der Bekömmlichkeit nur eine Einbruchstelle für den Ökologismus darstellt. Auch die Art und Weise der Produktion, ja die schiere Menge des Produzierten wird inkriminiert. Sowohl George als auch die Grünen zeichnen sich durch einen Malthusianismus aus, der weit über Fragen der Ernährung hinausreicht (Dahlmanns 2016: 159–162).[3]

Die Erfahrungswirklichkeit – alles im nicht-trivialen Sinne Mess- und Überprüfbare (Popper 1992: 82–85) – spielt für diese Art Antikapitalismus und Ökologismus keine oder bloß eine stark untergeordnete Rolle. So gelangen wir zu einem weiteren Wesenszug des Antiamerikanismus: zu seiner Abneigung gegen die Erfahrungswirklichkeit, die ihn, im Lichte des Kritischen Rationalismus Karl Poppers betrachtet, zur Ideologie, zum Vorurteil macht.[4] Dies wird zuweilen dadurch ausgedrückt, dass Amerika-Verächter sich ihr Amerika ‚erfinden‘ (Kamphausen 2002: 15–17).

Der vorliegende Aufsatz lässt die beiden ersten Nachkriegsjahrzehnte, die „kulturellen Flitterwochen zwischen den USA und der Bundesrepublik“ (Jessica Gienow-Hecht, nach Schwaabe 2003: 157) unbesprochen, weil er vor allem auf die Gleichartigkeit des neueren ‚grünen‘ Antiamerikanismus und seiner älteren Spielformen bereits vor dem Ersten Weltkrieg aufmerksam machen möchte. Wo die Zeit des Eisernen Vorhangs gestreift wird, konzentriert er sich auf die westliche Hälfte Mitteleuropas.

I

Der bayrische Liedermacher Hans Söllner singt in seinem 1989 veröffentlichten Album Hey Staat über einen damaligen Abgeordneten des bayrischen Landtags und späteren stellvertretenden CSU-Vorsitzenden, dieser sei „schoʼ so süchtig, dass er Büchsenbier sauft“ (Söllner 1989),[5] also bereits derart abhängig, dass er sich bereit finde, Dosenbier zu trinken. Söllner setzt dabei voraus, dass Bier aus Glas- und wohl auch Pfandflaschen zu trinken sei, und er hat offenbar allen Grund, auf die Zustimmung seines Publikums zu rechnen, da die Gewissheit, dass Bier aus Glasflaschen besser schmecke, den epistemologischen Status einer Volksweisheit oder „folk notion“ (Barnett et al. 2016: 6) besitzt. Die unterliegenden Oppositionen von kulturwissenschaftlicher Relevanz lauten: Flasche vs. Dose – von Söllner pejorativ als Büchse bezeichnet, womit zugleich ein herzhaft stabendes Kompositum gewonnen wird –, Glas vs. Weißblech etc., sehr häufig auch Pfand vs. Einweg. Und, was überraschen mag, Deutschland vs. die Vereinigten Staaten von Amerika.

Dosenbier nämlich ist eine amerikanische Erfindung. Nach Versuchen, die im Jahr 1909 im Bundesstaat Montana ihren Anfang genommen hatten, und technischen Schwierigkeiten, die u.a. der Notwendigkeit einer inneren Beschichtung, die das Metall der Dose von ihrem Inhalt trennt, geschuldet waren, wurde 1932 in Newark, New Jersey, die erste Partie von 2000 Bierdosen gefüllt, die allerdings keine Abnehmer fanden (Maxwell 1993: 95). Anfang 1935 wagte dieselbe Brauerei einen neuen Versuch, und im Verlauf des Jahres wurde die neue Darreichungsform des Gerstensafts in den USA allgemein akzeptiert. 1937 gelangte sie ins Deutsche Reich (Meier 2020, nach 17 Min., 25 Sek.). Wie das Schaffen des Liedermachers Söllner 1989 und auch die Einführung des Dosenpfands im Jahr 2003 zeigen, traf die Bier- und allgemeiner die Getränkedose in der Alten Welt auf nachhaltigen Widerstand. 2013 lag der Anteil des in Glas- und Mehrwegflaschen verkauften Bieres in der Bundesrepublik Deutschland bei über 90 Prozent (Birkenstock 2013).

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Jetzt erschienen: Karsten Dahlmanns, Vom besonderen Unglück tüchtigerer Minderheiten. Eine Reaktualisierung des Werks von Helmut Schoeck
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Jetzt erschienen: Karsten Dahlmanns, Vom besonderen Unglück tüchtigerer Minderheiten. Eine Reaktualisierung des Werks von Helmut Schoeck

Der in Graz geborene Soziologe Helmut Schoeck (1922-1993) war nicht nur ein hochbegabter Forscher, sondern auch ein mutiger Kämpfer für die Freiheit des Einzelnen, gegen jede Form von Gruppenkult und Sozialismus. Es lohnt, sich mit seinen Argumenten vertraut zu machen.

Vom besonderen Unglück tüchtigerer Minderheiten erforscht Schoecks Einsichten, Hoffnungen und Befürchtungen im Lichte des neueren Freiheitsdiskurses, zitiert u.a. Roland Baader, Norbert Bolz, Theodore Dalrymple, Thomas Sowell und Rainer Zitelmann, außerdem Vasilij Grossman, Rudyard Kipling, Michael Klonovsky und Alfred, Lord Tennyson. Entstanden ist ein elegant geschriebener Großessay, der zuweilen amüsant, manchmal auch bestürzend wirkt, in jedem Falle aber Mut macht.

Karsten Dahlmanns, Vom besonderen Unglück tüchtigerer Minderheiten. Eine Reaktualisierung des Werks von Helmut Schoeck. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag. 222 Seiten, gebundene Ausgabe (Hardcover). Inhaltsverzeichnis hier.

Neuerscheinung: Karsten Dahlmanns / Aneta Jachimowicz (Hrsg.), Geliebtes, verfluchtes Amerika
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Neuerscheinung: Karsten Dahlmanns / Aneta Jachimowicz (Hrsg.), Geliebtes, verfluchtes Amerika

Die Vereinigten Staaten von Amerika fungierten im deutschen Sprachraum zwischen 1888 und 1933 als Traum oder Alptraum, als eine Verkörperung von Moderne und Kapitalismus, die bewundert, verachtet oder gar gefürchtet wurde.  

14 Aufsätze erforschen das Verhältnis ausgewählter deutschsprachiger Dichter, Schriftsteller und Publizisten, Wissenschaftler und Architekten jener Zeit zu den USA. Besprochen werden so verschiedene Temperamente wie Alfred Kubin und Stefan George, Ernst Jünger und Erich Maria Remarque, Adolf Loos und Friedrich August von Hayek. Bekannte Schriftsteller wie Stefan Zweig und Joseph Roth haben ihren Auftritt, aber auch weniger bekannte Autorinnen und Autoren wie Bertha Eckstein-Diener, Marta Karlweis und Maria Leitner, Hugo Bettauer, Bernhard Kellermann und Arthur Rundt.

„Der Band zeichnet ein breitgefächertes, methodisch vielfältiges und überaus lesenswertes Panorama der Auseinandersetzung mit den USA in der Literatur und Publizistik der deutschsprachigen Länder vor und nach dem Ersten Weltkrieg.“ Prof. Wynfrid Kriegleder (Wien)

Zur Sprache der Berliner Republik. Michael Esders‘ „Sprachregime. Die Macht der politischen Wahrheitssysteme“

Zur Sprache der Berliner Republik. Michael Esders‘ „Sprachregime. Die Macht der politischen Wahrheitssysteme“

ORBIS LINGUARUM 54 (2021) – PDF

Michael Esders analysiert Deformation und Dienstbarmachung der Sprache in der Bundesrepublik Deutschland der vergangenen zwei Jahrzehnte. Seine Studie möchte zeigen, daß eine Reihe sprachlicher Kniffe in der Politik, den Medien und an den Universitäten dazu beiträgt, dem Souverän eine selbstzerstörerische Migrations- und wohlstandsvernichtende Umweltpolitik akzeptabel zu machen, allgemeiner gesprochen: die demokratische Willensbildung soweit zu manipulieren, daß deren Klassifikation als ‚postdemokratisch‘ kaum überzogen wirkt. Der mit einer Arbeit über literarische Formen der Philosophie promovierte Autor nennt diesen Prozeß und dessen Ergebnis „Sprachregime“.

Esders beruft sich gleich zu Beginn auf Victor Klemperers berühmtes Buch über die Sprache des Dritten Reiches:

Der gegenbildlichen Identität und Staatsräson der Bundesrepublik entsprechend, hat sich eine LTI mit umgekehrten Vorzeichen ausgebreitet. Die Sprache wurde zu dem, was ihre emanzipatorischen Leitbegriffe am entschiedensten negieren. Sie konnte es werden, weil sie […] das ‚Nie wieder‘ so ausstellt, dass niemand die Offensichtlichkeit des ‚Wieder‘ wahrnehmen muss. (S. 8)

Dieses „Wieder“ ist ein von vielen Bundesbürgern wahrgenommener Mangel an Gedankenfreiheit bei ideologischer Gängelung, eine heute nicht mehr feldgraue oder braune, sondern „bunttümelnde Eintönigkeit“ (ebd.), wobei „bunt“ natürlich die Voraussetzungen und Auswirkungen einer multikulturellen und auf dem Felde der Sexualmoral nicht mehr von überkommenen Vorstellungen geprägten Gesellschaft meint. 

Nun dürften sowohl Esders‘ politische Voraussetzungen, als auch die Selbstverständlichkeit, mit der er seine Abhandlung in die Tradition Klemperers stellt, Teile des gebildeten Publikums abschrecken. Die Lektüre sei dennoch empfohlen. Esders‘ dreiteilige Studie – sie enthält die Abschnitte „Wahrheitssysteme“, „Narrative der Hypermoral“, „Matrix der Differenz“ – zeichnet sich durch gepflegte, nicht selten elegant zugespitzte und zumeist solide fundierte Argumente aus. Von Dumpfheit, Ressentiment oder der Freude an Verschwörungstheorien ist in der Theodor W. Adorno, Emmanuel Lévinas, Hermann Lübbe u.a. streifenden Studie wenig zu spüren. Die eingangs getroffene Feststellung über Kniffe sprachlicher Art impliziert ja keinesfalls, daß diese Kniffe durch eine Instanz zentral geplant oder gesteuert seien; spontane Koalitionen, zweckbestimmte, auch konkurrierende und widerstreitende Allianzen sollten stets in Betracht gezogen werden.

„Wahrheitssysteme“ ist ein ungewohnter Begriff. Er stammt vom sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer, der 2018 im „Zusammenhang mit den behaupteten ‚Hetzjagden‘ in Chemnitz […] von einem ‚Angriff auf unsere Wahrheitssysteme‘“ gesprochen hatte (S. 10, vgl. auch S. 24). Esders kommentiert:

Wahrheiten sind organisierbar, gibt diese Äußerung zu verstehen. […] Nur wer die Wirkungsweise solcher ‚Wahrheitssysteme‘ versteht und ihr semantisches Betriebssystem entschlüsselt, kann die Macht des Sprachregimes brechen (S. 10),

mithin, wie Esders annehmen dürfte, von postdemokratischer zu demokratischer Willensbildung zurückkehren.

Esders ist zuzustimmen, wo er eine Analyse auf der Wortebene für unzureichend hält. Die seinerseits in den Blick genommenen sprachlichen Kniffe sind oftmals logischer und epistemologischer Natur; dabei ist die solide wissenschaftstheoretische Ausbildung des Verfassers zu spüren. Die Diskussion, ob Migrantengewalt als „Einzelfälle“ und somit in politischer und staatsphilosophischer Hinsicht als irrelevant zu gelten habe, wird mit den Mitteln der Konventionalismus-Diskussion in der Wissenschaftstheorie des Kritischen Rationalismus von Karl Popper begriffen. Auch die zitierte Äußerung des sächsischen Ministerpräsidenten wird im Lichte des Konventionalismus kommentiert:

Nicht die Tötung des Daniel H. [in Chemnitz] wird als „Angriff“ gewertet, sondern die Reaktion auf diese Tat. Im System wird Wahrheit zur autopoietischen Kategorie, zur Frage optimierbarer Selbstorganisation. Was im Widerspruch zu den eigenen Sätzen und Setzungen steht, wird […] als aggressiver Akt interpretiert und kriminalisiert. […] Die Falsifikation der eigenen Thesen käme schon deshalb einer Vernichtung gleich, weil jede Behauptung Selbstbehauptung ist. (S. 25; vgl. auch S. 70)

Jeder mit der Philosophie Poppers auch nur oberflächlich Vertraute ermißt, wie vernichtend dieses Urteil über die Vernunftwilligkeit der Beteiligten ist.

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