Schoeck und Scheler

Studia Neofilologiczne, VIII (2012), S. 61-74 (PDF)

Der Soziologe Helmut Schoeck (1922-1993) nimmt in seinem Hauptwerk Der Neid[1] mehrmals Bezug auf Max Schelers vor dem ersten Weltkrieg erschienene Studie Das Ressentiment im Aufbau der Moralen,[2] einer „bohrenden, elastischen, brillant einsichtsreichen Analyse“.[3] Die Studie des Philosophen dient ihm als ein Ausgangspunkt – als etwas, an dem man sich orientiert, um den weiteren Weg fort von ihm zu nehmen. Diese Entwicklung soll auf den folgenden Seiten beleuchtet werden, nachdem im vorigen Band der Studia Neofilologiczne Schoecks Werk im Einzelnen vorgestellt wurde.[4]

I

Unter den Passagen der Scheler’schen Abhandlung, auf die sich Schoeck bezieht, befindet sich – natürlich – auch der berühmt gewordene Passus über Ressentimentkritik. Diese zeichne sich, so Scheler, dadurch aus,

daß jede Abhilfe der als mißlich empfundenen Zustände nicht Befriedigung auslöst – wie es bei jeder Kritik mit positiven Zielen der Fall ist –, sondern im Gegenteil Mißbefriedigung hervorruft, da sie das wachsende Lustgefühl, das im puren Schelten und der Negation liegt, unterbindet.[5]

Wer Ressentimentkritik vorbringt, ist an einer Verbesserung des Zustands, dem sie gilt, nicht interessiert. Eine solche Diagnose mag auf den ersten Blick kaum glaubhaft erscheinen. Dennoch gibt es eine ganze Reihe von Verhaltensweisen, die sich ausschließlich so erklären lassen, wenn kein anderes Explanans auffindbar ist, das empirischen Gehalt[6] beanspruchen kann. Ludwig von Mises, ein guter Bekannter von Scheler,[7] zählt einige solche Arten zu handeln auf, darunter jene des wirtschaftlich weniger begabten und sich zum Ausgleich „kulturkritisch“ gerierenden Mitglieds von Unternehmerfamilien.[8] Als Beispiel aus neuester Zeit ließe sich anführen, daß viele „Klimaschützer“ weiterhin eine Katastrophe erwarten, obwohl seit etwa einem Jahrzehnt keine nennenswerte Erwärmung des Planeten zu verzeichnen ist.[9]

Schoeck geht wie Scheler davon aus, daß es Ressentimentkritik gibt, und lobt den Philosophen für dessen Hellsichtigkeit, was die Folgen im Politischen angeht:

Scheler erkannte bereits vor über einem halben Jahrhundert, wie konstituierend das Ressentiment und der Neid für manche politischen Parteien sind, die durch Beseitigung der sozialen Probleme, an denen sie ihre Kritik demonstrieren, als Machtgruppen im politischen Spielfeld erledigt würden.[10]

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Sprachimperialismus
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Sprachimperialismus

Eine Reihe von Vereinigungen in Deutschland engagiert sich für den Erhalt und die Pflege der deutschen Sprache. Sie sind recht unterschiedlichen Charakters; das Spektrum reicht von der sehr gediegenen Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) bis zum umtriebigen und teils unbotmäßig aggressiv handelnden (K. Wirth, 2010, S. 290-296) Verein Deutsche Sprache (VDS), welcher von dem Wissenschaftler, Hochschullehrer und Erfolgsautor Walter Krämer ins Leben gerufen wurde. Wo die Tätigkeit der letzteren Vereinigung von Liebe zur Muttersprache getragen wird, sich zivilisierter Umgangsformen befleißigt und während irgendwelcher „Aktionen“ das Eigentum anderer auch dann achtet, wenn diese Anglizismen lieben (ebd., S. 283), überzeugt sie. Weniger schlagend hingegen mutet ihre Analyse der Ursachen an: Da ist (i) von „Sprachimperialismus“ die Rede – was einen Kategorienfehler beinhaltet, weil das Englische sich, einem Herrscher gleich, ein Reich bauen zu wollen scheint, obschon man dergleichen Absichten nur Personen zuschreiben kann –; werden (ii) Kontinentaleuropäer, welche sich des Englischen gern und oft bedienen, zu Äffenden gestempelt – was, von Fragen der Höflichkeit abgesehen, mehr als vorschnell wirkt, denn es könnte ja gute Gründe geben, sich der führenden Verkehrssprache in Wissenschaft und Ökonomie bedienen zu wollen –; werden (iii) mit Schlagworten wie „Stoppt die Amerikanisierung“ und „USA-Massenverblödung“ (ebd., S. 283) alte Verwerfungen zwischen Anglosphäre und Kontinentaleuropa aufgerissen, die bis in die letzten Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg zurückreichen, als Max Scheler, Werner Sombart und andere wider das Merkantil-Utilitaristische im Angelsächsischen zogen.

Hören wir eine Passage aus dem Vortrag „Macht über Marionetten“ des Germanisten Gert Ueding, der auf der Website des VDS veröffentlicht worden ist:

 „Die Globalisierung läuft nach dem Vorbild der USA ab“, stellt der Leiter der Pariser Zweigstelle von McKinsey befriedigt fest und weist darauf hin, daß die Dominanz der englischen Sprache für diesen Erfolg nicht unwichtig ist. Wir können solches Understatement ruhigen Gewissens in seine reale Dimension übersetzen.

Mit der Sprache wird angelsächsisches Wirtschaftsdenken übernommen, in dem etwa, so wieder jener McKinsey-Agent, die Unternehmenspolitik den Eigentümer-Interessen bedenkenlos untergeordnet wird, die Interessen der Beschäftigten keine Rolle spielen. Daß solche ökonomische Politik zur Unternehmenskultur hochgejubelt wird, wirkt wie ein zynischer lapsus linguae, ist aber in Wahrheit Bestandteil der Sprachpolitik. (G. Ueding, 2002)

Ueding setzt dem angelsächsisch „kalten“ Stil des Wirtschaftens deutsches Verantwortungsbewusstsein entgegen. Dergleichen wirkt wie das Bekenntnis einer schönen Seele. Doch steckt nicht viel dahinter. Denn Uedings Ausführungen gereichen zu einer suppressio veri: Es ist keine Rede davon, dass (i) die den Eigentümer-Interessen Geopferten nicht selten selbst Anteilseigner sind, wo der Aktienbesitz weit gestreut ist, und (ii) in einer weniger überregulierten Wirtschaft Menschen, die entlassen werden oder kündigen, leichter andere Arbeit finden können. Außerdem „vergisst“ Ueding zu erwähnen, dass (iii) Eigentümer-Interessen selbst kulturstiftend wirken können. Stichwort: Mäzenatentum. Hingegen hat (iv) deutsche Sozialpartnerschaft ihren Preis; wer sich den Realien des Marktes verweigert, lässt seine Kinder und Kindeskinder die Zeche zahlen – was man als Verstoß gegen das siebte Gebot auffassen kann –, während in der Zwischenzeit die Bundesrepublik Deutschland als Wirtschaftsstandort an Brauchbarkeit verliert.

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Wissenschaftler an Höhlenmensch: Ich bin nicht gekauft!

Der renommierte Klimaforscher Roy W. Spencer gibt auf seiner Website einige Auskünfte über sich selbst. Dort heißt es:

Roy W. Spencer received his Ph.D. in meteorology at the University of Wisconsin-Madison in 1981. Before becoming a Principal Research Scientist at the University of Alabama in Huntsville in 2001, he was a Senior Scientist for Climate Studies at NASA’s Marshall Space Flight Center, where he and Dr. John Christy received NASA’s Exceptional Scientific Achievement Medal for their global temperature monitoring work with satellites. Dr. Spencer’s work with NASA continues as the U.S. Science Team leader for the Advanced Microwave Scanning Radiometer flying on NASA’s Aqua satellite. He has provided congressional testimony several times on the subject of global warming.

Spencer fährt fort:

Dr. Spencer’s research has been entirely supported by U.S. government agencies: NASA, NOAA, and DOE. He has never been asked by any oil company to perform any kind of service. Not even Exxon-Mobil.

Es gereicht unserer Zeit zur Schande, daß ein renommierter Wissenschaftler dergleichen überhaupt bemerken muß! Und welchen Ekel muß Spencer empfunden haben, als er diese Zeilen geschrieben hat! Denn er weiß natürlich, daß Datenfälschungen früher oder später auffliegen. Die Wissenschaft ist ein weit robusteres System zur Auffindung objektiver Erkenntnis, als der durchschnittliche Wissenssoziologe, Kulturrelativist oder Revoluzzer sich träumen läßt.

Weshalb dem so sei? Nun, wenigstens zweier Regeln wegen, die dafür sorgen, daß die Wissenschaft von unserer Erfahrungswirklichkeit handle, nicht aber von irgendeiner anderen, logisch möglichen Welt.

(1) Die Reproduzierbarkeitsregel

In die empirische Wissenschaft dürfen nur solche Sätze Eingang finden, die – ob Prüf- oder Basissatz, ob Theorie-Vorschlag – einen „Effekt“[1] beschreiben. Ein Effekt unterscheidet sich von sonstigen Beobachtungen dadurch, „daß er sich regelmäßig und von jedem reproduzieren läßt, der die Versuchsanordnung nach Vorschrift aufbaut“[2]; „nichtreproduzierbare Einzelereignisse sind […] für die Wissenschaft bedeutungslos“[3].

Folglich darf ein Experiment überhaupt nur dann ernstgenommen werden, wenn es zu Effekten führt, die sich (prinzipiell[4]) reproduzieren und also überprüfen lassen. Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als daß ein jeder „die experimentelle Anordnung nachträglich […] kontrollieren“[5] und das betreffende Experiment „mit besonderer Kontrolle der möglichen Störfaktoren“[6] wiederholen kann. Selbst Betrügereien – „daß die beobachtenden Assistenten möglicherweise unzuverlässig waren, daß ein Magnet am Plafond des Laboratoriums hätte versteckt sein können“[7] – sollten so aufzudecken sein. Datenfälschungen dürften diesem Mechanismus kaum lange standhalten.

Mit einem Wort: Reproduzierbarkeit (Überprüfbarkeit) sorgt für Objektivität. Daß tatsächlich überprüft wird, dafür sorgen Neugier und Ehrgeiz der Forscher.

(2) In Zweifelsfällen: Deduktion heterotyper Prüfsätze

Wo unklar ist, was von einer Theorie, bzw. dem Experiment zu deren Überprüfung zu halten sei, empfiehlt Gunnar Andersson, „aus einem problematischen Prüfsatz und einer Hilfshypothese einen heterotypen Prüfsatz, d.h. einen Prüfsatz anderen Typs, abzuleiten.“[8] Im Anschluß könne der erste Prüfsatz „durch Überprüfung des heterotypen Prüfsatzes […] kontrolliert und kritisch diskutiert werden.“[9] Wie Andersson ausführt,

kann z. B. der Prüfsatz, daß es an einer bestimmten Raum-Zeit-Stelle einen Fixstern gibt (Pk), dadurch überprüft werden, daß mit einer Hilfshypothese […] prognostiziert wird, daß der Stern in einem Fernrohr punktförmig aussieht […]. Wenn der Stern in einem Fernrohr nicht punktförmig aussieht, dann folgt, daß es sich nicht um einen Fixstern handelt, d. h., daß der Prüfsatz Pk falsch ist […]. So kam Herschel durch Beobachtung der Scheibenform des Uranus 1781 zu der Auffassung, daß Uranus kein Fixstern sein könne. Viele solcher Beispiele der Kritik von Prüfsätzen mit heterotypen Prüfsätzen können in der Wissenschaftsgeschichte gefunden werden.[10]

Nicht nur Theorien, sondern auch Prüf- oder Basissätze (z.B. Klimadaten) können sich als falsch erweisen. Dafür haben wir die Möglichkeit, Prüf- oder Basissätze „aufgrund ihrer deduktiven Konsequenzen“[11] selbst zu überprüfen. Durch solche „Querprüfungen“ lassen sich Datenfälschungen (oder Versehen) mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auffinden.

Rejoice, Ye Pure of Heart

Wissenschaft ist möglich, ganz gleich, was Troglodyten oder Proktophantasmisten meinen. Wenn es weniger schlimm um unsere Schulbildung und Medien stünde, bräuchte ein ehrenwerter Mann wie Dr. Roy W. Spencer sich nicht im Vorhinein gegen absurde Vorwürfe zu verteidigen.

***

[1] Karl R. Popper, Logik der Forschung. Tübingen 1976, S. 19. [2] Ebd., Hervorhebung von mir. [3] Ebd., S. 54. [4] Ebd., S. 55, Fußnote. [5] Gunnar Andersson, Kritik und Wissenschaftsgeschichte. Tübingen 1988, S. 157. [6] Ebd. [7] Ebd. [8] Ebd., S. 185. [9] Ebd. [10] Ebd. [11] Ebd., S. 186; vgl. Popper, a.a.O., S. 76, Zusatz (5). Mehr zum Thema hier.

Vom Glauben an die Vernunft

Zbliżenia interkulturowe 9 (2011)

Dirk Maxeiners Buch „Hurra, wir retten die Welt! Wie Politik und Medien mit der Klimaforschung umspringen“ läßt sich auf (wenigstens) zwei Weisen lesen. Man kann sich auf die Schilderung des Irrationalen darin konzentrieren und verzagen. Oder sich von Maxeiners Vertrauen in Vernunft und Wissenschaft inspirieren lassen.

Die Klimadebatte kreist um die Hypothese von der anthropogenen Erderwärmung, die behauptet, daß die Kohlendioxid-Emission von Industrie, Verkehr und Haushalten das Klima in entscheidender Weise beeinflusse. Bundeskanzlerin Angela Merkel, selbst promovierte Naturwissenschaftlerin, schließt diesbezüglich jeden Zweifel aus.[1] Doch liegen die Dinge weit weniger eindeutig. Wie Maxeiner ausführt, werde die Hypothese durch die Erfahrungswirklichkeit widerlegt; zum einen wirke sich eine erhöhte Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre weit weniger auf deren Temperatur aus, als die Prognosen voraussetzen; zum anderen habe seit 2001 keine Erwärmung stattgefunden, obwohl Industrie, Verkehr und Haushalte weiterhin fossile Energieträger verbrannt haben. Vor diesem Hintergrund „bleibt vom anthropogenen Treibhauseffekt nicht mehr viel übrig.“ (S. 49)

Der zweite Teil des Buches handelt von den außerwissenschaftlichen Einflüssen auf die Klimaforschung, welche der erste Teil bewußt ignoriert hat. Dazu zählen Politik, veröffentlichte Meinung (Medien), Nichtregierungsorganisationen und leider auch das unmoralische Verhalten gewisser Wissenschaftler, wie der Skandal um die Climate Research Unit (CRU) in Großbritannien gezeigt hat. Dort wurden Daten gefälscht oder, wenn von Skeptikern angefordert, „verloren“, die Redaktionen wissenschaftlicher Zeitschriften (in wenigstens einem Fall erfolgreich) unter Druck gesetzt, dissidente Aufsätze abzulehnen. Maxeiner referiert diese Geschehnisse mit hoher Bemühung um Sachlichkeit, vermeidet es auch dort, wo er deutlich Stellung bezieht, sich zu ereifern – selbst angesichts der Machinationen um die Berichte des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC). Ein gestandener Wissenschaftstheoretiker wie Karl Popper, der die ethische Dimension wissenschaftlicher Tätigkeit zu betonen pflegte, hätte weit Schneidenderes zu bemerken gefunden.

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Die Flucht vor den Fakten

Die Flucht vor den Fakten

Alan Sokal und Jean Bricmont sezieren in ihrem weitbekannten Buch Eleganter Unsinn vor allem französische Vorkommnisse „tiefer“ Psychologie, Philosophie, Literaturtheorie etc. (Sokal/Bricmont, Unsinn, 1999). Der nämlichen Erscheinung an amerikanischen Universitäten widmet Roger Kimball sein Werk The Rape of the Masters. Alle von Sokal, Bricmont und Kimball vorgeführten Akademiker vernachlässigen die Empirie; sie schreiben, was ihre Laune diktiert. Viele von ihnen zeigen zudem „die Tendenz, die verborgenen Beweggründe unserer Handlungen zu entschleiern.“ (Popper, Offene Gesellschaft, Bd. 2, S. 264). Was dabei herauskommt, sind „Deutungen“ maritimer Malerei, in denen ein Boot umkreisende Haie „can be read as castrating temptresses, their mouths particularly resembling the vagina dentata, the toothed organ that so forcefully expressed the male fear of female aggression.“  (Kimball, Rape, 2004, S. 123) Sollte ein Hai nicht auch bloß ein Hai sein können?

Obschon die Misere sämtliche Nationen des Westens (und die Wasser zwischen ihnen) betrifft, liegt die zweifelhafte Ehre, solche Enthüllungsprosa zu früher Vollendung geführt zu haben, bei einem Denker deutscher Zunge. Es handelt sich um Sigmund Freud. Gegen das Denken des Begründers der Psychoanalyse und seiner Schule läßt sich schlechterdings kein Argument empirischer Natur führen. Denn ein „Psychoanalytiker kann jeden Einwand hinwegerklären, indem er zeigt, daß er das Werk der Verdrängung des Kritikers ist.“ (Popper, Offene Gesellschaft, 1980, Bd. 2, S. 264)

Nun muß die hier gegebene Einschätzung Freuds als (immer noch) umstritten gelten. Doch heißt es: „an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.“ (Mt 7, 16 und 20) Und diesbezüglich unterliegt keinem Zweifel, daß Freud eine – gewaltige! – Senkung des Gesprächsniveaus in der akademischen und nicht-akademischen Welt zu verantworten hat. Kehren wir einen Moment zu dem maritimen Gemälde zurück: Lehrt uns die Vagina-dentata-Deutung etwas über die Malerei im Allgemeinen oder das Kunstwerk selbst, an das sie heranführen möchte?  Sie verstellt den Blick auf das Gemälde durch eine Interpretation, die zugleich grobschlächtig, „entlarvend“ und trivial wirkt. Die feineren Züge des Gemäldes – weite Teile der Erfahrungswirklichkeit – werden ignoriert. Wird so etwas zur Mode, verfallen Wissenschaft und Kultur.

In der außerakademischen Welt gereicht alles im weitesten Sinne psychoanalytische Vokabular inzwischen zur Allzweckwaffe unter den Argumenten ad hominem: Jegliche Zustimmungsverweigerung kann pathologisiert werden. Diesen Eindruck bestätigt die politische Diskussion in Deutschland, namentlich der Streit um die muslimische Immigration. Seit einigen Jahren wird Bürgern, welche die Entwicklung mit Sorge betrachten, „Islamophobie“ unterstellt. Damit werden immerhin „krankhafte Angstzustände“ attestiert: „Personen, die diese Einstellungen teilen, leiden demnach unter einer Krankheit und bedürfen einer Therapie.“ (Luft, Abschied, 2006, S. 335) Das totalitäre Potential einer solchen Pathologisierung Andersdenkender ist nicht zu leugnen, zumal sich die Sowjetunion der Einweisung in psychiatrische Anstalten als Repressionsmittel bedient hat (Heller/Nekrich, Geschichte, 1981, Bd. 2, S. 279-280, 304, 356).

Bemerkenswert wirkt, daß manchen Freunden von ad-hominem-Argumenten eine Pathologisierung nicht ausreicht; sie setzen eine weitere hinzu. So die Journalistin Ulrike Baureithel in einem Beitrag zur Debatte um Thilo Sarrazins Buch Deutschland schafft sich ab:

[(i)] Müßig, an dieser Stelle das krude islamophobische Weltbild Thilo Sarrazins noch einmal aufzurufen. [(ii)] Seltener kommt allerdings zur Sprache, dass hier offenbar auch die Ängste älterer Männer gegenüber der «Flut» junger, «fremder», potenter Männer den Diskurs antreiben. (Baureithel, Deutsche, 2010)

Nach Ziffer (i) erblicken wir den bekannten Phobie-Vorwurf. Für sich genommen, sollte er bereits hinreichend unwiderleglichen Abscheu stiften. Doch bleibt er nur Präludium, da nach Ziffer (ii) ein weiterer, „tieferer“ Anwurf folgt: Sarrazin treibe die Angst des älteren Mannes vor der Unzahl jüngerer und kräftigerer Männer. Zeugt dergleichen „Doppelt genäht, hält besser!“ von zu großem, oder aber von zu geringem Vertrauen in die Zauberkraft des Meisters?

Wissenssoziologie, Ideologie-Verdacht

Nun könnte man ein Vorgehen wie das von Frau Baureithel nicht weiter ernstnehmen. Schließlich richtet sich ihr naiver Glaube an die Verläßlichkeit der Psychoanalyse selbst. Leider jedoch stellt der Ausfall der Journalistin nur den Splitter eines weit verbreiteten und ernsten Problems dar. Dies zeigt z.B. die Klage des weltbekannten Wirtschaftshistorikers David Landes über die Gesprächskultur in seinem Fach:

much of the debate has taken the form of name-calling. The purpose (or effect) of these labels is to marginalize or exclude the adversary. He is a… (fill in the classifier). Nothing more need be said. (Landes, Wealth, 1999, S. 415)

Wir haben es wiederum mit Argumenten ad hominem zu tun. Nur handelt es sich dieses Mal nicht bloß um im weitesten Sinne psychoanalytische Argumente; auch „soziologische“ und/oder „ethische“ Argumente ad hominem werden zugelassen, um Dissidenten zum Schweigen zu bringen. Zu den Bestimmungen, die in Landes’ „He is a… (fill in the classifier).“ eingetragen werden können, zählen unter anderem: (i) Eurozentrist, (ii) Imperialist, (iii) Rassist, (iv) Frauenfeind, (v) Verächter der Homosexuellen. Der uns bereits bekannte Islamophobie-Vorwurf könnte je nach Wunsch unter (i) bis (iii) subsumiert oder als weiterer Eintrag in die Liste aufgenommen werden. Es bestürzt, wie einfach es ist, Wissenschaft zu verhindern.

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Helmut Schoeck: Neid vs. Freiheit

Studia Neofilologiczne VII (2011), S. 105-114

In diesem Jahr wäre der 1922 in Graz geborene Soziologe Helmut Schoeck neunzig Jahre alt geworden. Wer ist dieser von Karl Popper und Friedrich August von Hayek geschätzte Denker, und warum lohnt es, sich seiner zu erinnern?

I

Schoecks Hauptwerk heißt Der Neid. Eine Theorie der Gesellschaft. Die monumentale Abhandlung dürfte die wichtigste Veröffentlichung zum titelgebenden Thema sein, seitdem Max Scheler seinen berühmten Aufsatz über das Ressentiment veröffentlicht hat. In der Tat bildet die Arbeit des jüngeren Gelehrten eine kritische Fortschreibung dessen, was der ältere geleistet hat. Schoeck vermeidet einige der weniger glücklichen Entscheidungen, die Scheler in methodischer Hinsicht getroffen hat – etwa die Rede von Vitaltypen[1] –, und erweitert den Gegenstandsbereich seiner Theorie: Sein Interesse gilt nicht einer durch vielfaches Wiederholen zum Charakterzug geronnenen Haltung,[2] sondern einem Motiv, welches hinter einzelnen Handlungen vermutet werden kann, wenn andere Erklärungsfaktoren versagen. Damit gelingt Schoeck eine in ihren  Voraussetzungen „schlankere“ Theorie. Sie kommt im Vergleich zur Schelerschen mit einem Weniger an Metaphysik aus. Und öffnet sich desto mehr der Empirie, während sie die von Scheler erfaßten Phänomene als Unterfall enthält.

So besteht einer der bemerkenswertesten Züge des Schoeckschen Hauptwerkes in dessen Einbeziehung kulturanthropologischer oder völkerkundlicher Forschungsergebnisse. Während seiner Lektüre wird deutlich, daß viele Handlungsweisen und Motivationen, die zumeist als kennzeichnend für die westliche oder „moderne“ Zivilisation begriffen und nicht selten inkriminiert werden, auch in außereuropäischen und vormodernen Kulturen angetroffen werden können. Diese im einzelnen immer wieder überraschende Perspektive veranlaßt dazu, landläufige Einstellungen jenen Erscheinungen gegenüber zu überdenken, Wertungen zu überprüfen. Auf diese Weise vermag Schoeck, durch faktenreiche, empirischer Kritik zugängliche Argumente für seinen Standpunkt zu werben, ohne – wie Scheler – auf den beispielhaft verbindlichen Charakter seines Wertgefühls und ein gerüttelt Maß Rhetorik zu bauen.[3] Hören wir ein Beispiel:

Eine der merkwürdigsten Institutionen des Neides, zugleich aber eine, die große Ähnlichkeit mit dem heutigen Gefühlskomplex „soziale Gerechtigkeit“ aufweist, ist der Muru-Überfall bei den Maori auf Neuseeland. […]

Das Maori-Wort muru heißt an sich plündern, und zwar das Besitztum solcher, die sich gegen die Gemeinschaft irgend etwas hatten zuschulden kommen lassen. Dagegen wäre in einer Gesellschaft ohne Justizapparat nichts einzuwenden. Nachdenklicher macht erst das Verzeichnis der „Verbrechen gegen die Gesellschaft“, die mit Muru-Überfällen geahndet wurden. Ein Mann, der einen des Plünderns durch die Gesellschaft lohnenden Besitz hatte, konnte sicher mit muru rechnen, selbst wenn ein noch so entfernt Verwandter von ihm sich irgend etwas zuschulden kommen ließ. Ähnliches ließ sich ja auch in Europa während der Hexenprozesse beobachten. […]

Der Mann, dessen Frau Ehebruch beging, die Freunde eines Mannes, der gestorben war, der Vater eines Kindes, das verunglückte, […] für dies und Hunderte von Gründen konnte der einzelne um seinen Besitz kommen, einschließlich seiner Ernte und seiner Lebensmittelvorräte. Genauso wie es in Amerika aber heute Personen gibt, die stolz auf die hohe Einkommenssteuer sind, die sie zahlen müssen, scheint es Maori gegeben zu haben, die den Muru-Überfall als Auszeichnung, als ein Zeichen des beneidenswerten hohen Ansehens betrachteten.[4]

Die geographischen Sprünge von Neuseeland nach Europa und in die Vereinigten Staaten von Amerika wirken inspirierend, und die zeitliche Perspektive trägt das Ihrige dazu bei: Was im Europa der frühen Neuzeit geschehen, ist auf Neuseeland bis ins neunzehnte Jahrhundert vorgekommen, und wie in den USA unserer Tage haben manche versucht, dem bösen Spiel etwas Gutes abzugewinnen. Sollte Schoecks meisterhafte Darstellung angemessen sein, eröffnet sie einen unverstellten Blick auf die conditio humana, – der zudem die Maori in äußerst sympathischer Weise als Menschen ernstnimmt („de-exotisiert“). Wir erkennen, was Kulturforschung leisten kann, wo sie den Dogmen des Multikulturalismus (noch) nicht unterliegt.

II

Worauf will Schoeck mit seinem kulturanthropologischen Panoptikum hinaus? Auf eine staatsphilosophische Nutzanwendung von höchster Relevanz. Für Schoeck nämlich besteht der „eigentliche Irrtum des Sozialismus“[5] und zugleich das „wirklich Tragische am sozialistischen Ideengut“[6] in der Hoffnung, man könne „eine Gesellschaft der vom Neid erlösten Gleichen […] schaffen.“[7] Der Sozialist (Marxist; Egalitarist usf.) versuche sich an etwas Unmöglichem; es sei darum weise, dergleichen von sich (und anderen) nicht zu verlangen.[8] Ultra posse nemo obligatur.

Schoecks Hauptwerk bildet, wie auch sein sonstiges Schaffen, somit ein Beispiel für einen Liberalismus, welcher, in der Form einem indirekten Beweise folgend, seine Kraft aus der logischen und/oder sachlichen Widerlegung antiliberaler Argumente schöpft. Ein solcher „Anti-Antiliberalismus“ stellt sicher eine der wirkungsvollsten Verteidigungen des Vernünftigen dar, welche die Staatsphilosophie in einer pluralistischen Gesellschaft aufzubieten vermag.[9]

Doch damit nicht genug. Schoeck beschreibt auch, was geschieht, wenn mit jenem „Grundirrtum“ die Natur des Neides unverstanden bleibt, der Egalitarismus zur politischen Maxime erhoben wird: „Praktisch wirkte sich die Muru-Institution so aus, daß niemand irgendein bewegliches Gut behalten konnte. Der Anreiz, durch Arbeit zu etwas zu kommen, ging verloren.“[10] Legt sich die Angst vor dem Neider wie Mehltau auf alle Handlungsvorsätze, erstarrt, was Innovation hätte schaffen können. Aus diesem Grunde wirkt jeglicher Egalitarismus fortschrittsfeindlich, was Wissenschaft, Technik (einschließlich Medizin)[11] und Wirtschaft angeht, und im Hinblick auf die schönen Künste lähmend.[12] Die Besten schweigen, stellen vorsichtshalber ihr Licht unter den Scheffel, – oder sie gehen (brain drain). Immerhin tragen sie auf diese Weise ihren Schöpfersinn in die weite Welt. So wirkt die „Flucht vor dem Neid der Nächsten […] nicht selten zivilisationsfördernd.“[13] Derzeit profitieren die Vereinigten Staaten von Amerika und Australien von diesem Mechanismus, während Europa seines Egalitarismus wegen zurückfällt. Wir erblicken einen Wettstreit, vor dem The Great Game sich wie ein Kinderspiel ausnimmt.

Schoeck versteht es, das Drama des Begabten, der sich vor (möglichen) Neidern zu rechtfertigen sucht, bewegend zu schildern. Er zitiert u.a. aus den Aufzeichnungen des bekannten Schweizer Seelenarztes und Autors Paul Tournier, wie dieser sich mit seiner Steuererklärung auf den Weg zu einer Gruppe von Arbeitern gemacht hat, um sich eine Kreuzfahrt „sozial erlauben“ zu lassen, und, nachdem diese Hürde genommen, sogleich den nächsten Anlaß zu schuldhafter Zerknirschung findet: Den Hunger in der Dritten Welt.[14] Bezeichnenderweise ist sich Tournier über die Haltlosigkeit seiner Selbstvorwürfe im Klaren – wir werden im nächsten Abschnitt darauf zurückkommen –; doch findet er keinen Ausweg. Schoeck spricht in diesem Zusammenhang vom „Masochismus des Abendländers“,[15] einer Haltung, die, wie er an anderem Ort anschaulich belegt, durchaus ihren Nutzen bringt. Nachdem der Soziologe einen „sozial engagierten“ Schriftsteller aus begütertem Hause auf die Gegenstandslosigkeit gewisser Vorwürfe gegen dessen Familie von Fabrikanten aufmerksam gemacht hatte, entgegnete dieser: „Rauben Sie mir nicht die Tränen meiner Kindheit!“[16] Schoeck hält es seitdem für „klar, daß der Schmerz des schlechten Gewissens, und das damit erzeugte Gefühl, ein guter Mensch zu sein, eine Investition im eigenen Gemüt bildet, die man ungern aufgibt, selbst wenn man die Falschheit der Gründe für das schlechte Gewissen voll begriffen hat.“[17] Die Psychologie des „Gutmenschen“ (Globalisierungskritikers, Klimaschützers, Gentechnik-Bekämpfers etc.) ist uns seit langem vertraut.

III

Ins Positive gewendet, bedeutet Schoecks These über den Zusammenhang von Neid, Egalitarismus und Stagnation: „Je mehr es in einer Gesellschaft den Privatleuten wie den Trägern der politischen Macht möglich ist, so zu handeln, als ob es keinen Neid gäbe, desto größer wird das wirtschaftliche Wachstum und die Zahl der Neuerungen im allgemeinen sein.“[18] Wissenschaft, Kultur, Technik und Künste (einschließlich Handwerk) werden dort am wenigsten in ihrer Entfaltung gehemmt,

wo das offizielle normative System, das Brauchtum, die Religion und die Alltagsweisheit und die öffentliche Meinung sich ziemlich einmütig so eingestellt haben, als ob man auf die Neider keine Rücksicht zu nehmen brauche. Es handelt sich dabei um eine den meisten Mitgliedern einer solchen Gesellschaft geläufige Überzeugung, die es erlaubt, mit den beobachtbaren Unterschieden zwischen den Menschen realistisch und ohne zuviel nagenden Neid fertigzuwerden, um eine […] Gesinnung also, die es ihrerseits dem Gesetzgeber und der politischen Macht erlaubt, die ungleichen Errungenschaften der Mitglieder des Gemeinwesens gleichmäßig zu schützen, aber unter Umständen ungleichmäßig zu fördern.[19]

Natürlich werde, so Schoeck, dieses Gleichgewicht auf Erden bloß annäherungsweise erreicht.

Die gegebene Passage berührt sich in drei Punkten mit den Auffassungen Friedrich August von Hayeks: (i) Wie der Hinweis auf die unter Umständen ungleichmäßige Förderung zeigt, läßt Schoeck u.a. eine besondere Unterstützung für die Ärmsten in der Gesellschaft zu; dies entspricht Hayeks positiver Haltung einer Grundsicherung gegenüber, wie sie in dessen The Road to Serfdom Ausdruck findet.[20] (ii) Des weiteren zeugt die Nennung der Religion von der Nähe der beiden Standpunkte. Hayek warnt vor dem „rationalistischen“ Mißverständnis, man könne ein Moralsystem wie jenes, auf dem die westliche Zivilisation beruht, aus einer oder sehr wenigen Grundannahmen herleiten[21] und betont die Rolle, welche der Religion für dessen Entstehen und Erhaltung zukommt.[22] Auch Schoeck hebt die Religion als Mittel zur Neidbewältigung hervor.[23] Gleichzeitig enthält er sich im Sinne Hayeks „rationalistischer“ Vorschläge, wie mit dem Neide umzugehen sei, bewegt sich in vorgefundenen, „gewachsenen“ Moralen. (iii) Schließlich gleichen sich die Theorien beider Denker auch darin, daß sie kulturelle Evolution in einer Manier abbilden, die beeindruckt. Auf diesen Zug der Schoeckschen Theorie wurde im vorigen Abschnitt durch das Wort „Wettstreit“ hingewiesen. Hayek legt eine sehr umfassende Theorie kultureller Evolution vor, die – landläufigen Klischees über liberales Denken zuwider – nicht darwinistisch ist, obgleich sie von Gruppenselektion spricht; allenfalls läßt sie sich im Anschluß an Karl Popper als Quasi-Lamarckismus bezeichnen,[24] in dem, wie von Charles S. Peirce angemahnt, liebende, selbstlose Zuwendung (Agapasmus) eine bedeutende Rolle spielt.[25]

Der evolutionäre Zugang erlaubt Schoeck, die unterschiedlichen Geschicke „erster“ und „dritter“ Welt in nicht-ideologischer Weise zu erfassen. Sein Hauptwerk präsentiert reichhaltiges Material aus den Arbeiten von Kulturanthropologen und Völkerkundlern, welches deutlich macht, wie sehr die Menschen innerhalb und außerhalb des Westens ihres Glückes Schmied gewesen und es weiterhin sind. So gibt es in weiten Gebieten der Welt eine „Neidschranke“.[26] Sie ist magisch bewehrt; der Tüchtige und/oder Glückliche fürchtet sich vor dem „bösen Blick“ oder anderen Formen des Schadenzaubers, den Neider ausüben.[27] Außerdem wird ihm selbst unterstellt, durch nicht-redliche, jenseitige Mittel sein überdurchschnittliches Talent oder seinen Wohlstand  erworben zu haben: „Ein frühreifes, aufgewecktes Kind bei den Lovedu gilt als künftige Hexe.“[28] Aus alledem entsteht Furcht vor dem Erfolg. Entwicklung wird verhindert.[29]

Wie Schoecks Beispiele mannigfach verdeutlichen, ist Afrika nicht deshalb arm, weil es vom industrialisierten Norden „ausgebeutet“ werde. Europas Kultur hat die Neidschranke überwinden – oder wenigstens in entscheidender Weise mildern können, die Bildung dynamischer, stets voranschreitender Konkurrenzgesellschaften ermöglicht.[30] Der „dritten Welt“ ist dergleichen nicht gelungen; die dortigen Gesellschaften sind statisch geblieben. Diesen Sachverhalt mag man im Westen bedauern, doch liegt er außerhalb westlicher Verantwortung. Es besteht kein Grund für ein schlechtes Gewissen à la Tournier; Schoeck stellt das Gegengift bereit.

IV

Neid ist unstillbar. Wo ein Anlaß erlischt, sucht er sich den nächsten. Diesen Umstand verdeutlicht Schoeck – wiederum kompositorisch brillant –, indem er auf die Kibbuzim in Israel hinweist. Von Idealisten erschaffen, einem konsequenten Egalitarismus verpflichtet, der die Abschaffung des Privateigentums einschließt, wird in diesen Experimentalsiedlungen schließlich derjenige beneidet, welcher gern allein ist, um einem besonderen Interesse zu frönen.[31] Folglich muß der Einzelne seinen Neid je für sich besiegen; durch Willensanstrengung und Übung. Religion kann, wie schon bemerkt, dazu beitragen. Aber auch der Beistand von Verwandten und Bekannten: „Helena Morley, Pseudonym für Senhora Augusto Mario Caldeira Brant, Gattin eines führenden Mannes in Rio de Janeiro, […] berichtet aus ihrer Kindheit: ‚Als ich klein war, litt ich sehr unter dem Neid. Dafür bin ich meiner Großmutter dankbar. Sie half mir aus dem Neid.’“[32] Entferntere Vorbilder dürften ein Übriges tun.

Das Motiv fremder Hilfe zur Neidüberwindung enthält auch ein Roman Eugène Sues. Schoeck widmet diesem Stück Literatur besondere Aufmerksamkeit, weil dessen Autor den Zorn von Karl Marx hervorgerufen hat:

Sue führt uns eine vollständige Psychotherapie eines Neiders vor. […] Der Dialog, in dem David seinen Schüler dazu bringt, den Neid in ein Gefühl des Ansporns zu verwandeln und es auf den ihm möglichen Gebieten dem Marquis gleichzutun, bietet eine Weltanschauung, die jedem Sozialrevolutionär ein Greuel sein muß. Es ist […] die Überzeugung, daß am Status quo alles in Ordnung sei […]. Jeder könne etwas aus sich und seinem Leben machen, wenn er nur wolle. Und niemandem sei geholfen, wenn man lediglich die obere Schicht enteigne oder vernichte. Es überrascht deshalb nicht, daß Georg Lukács auf die beißende Kritik von Karl Marx an Eugène Sue hinweisen kann: Sue habe sich „feig der Oberfläche der kapitalistischen Gesellschaft angepaßt … aus Opportunismus die Wirklichkeit verzerrt und verfälscht“.[33]

Damit erreichen wir eine Wasserscheide. Die Standpunkte Marx’ und Sues schließen einander aus; sie sind unversöhnlich. Für Schoeck zeigt sich hier eine Kulturrevolution, deren Bekämpfung er die verbleibenden Jahre seines Lebens gewidmet hat. Die Moderne habe mit dem Neunten und Zehnten Gebot die Grundlagen von Juden- und Christentum aufgegeben und sei zur „Weisheit“ der Naturvölker zurückgekehrt: Wo beneidet wird, wird nicht mehr der Neider, sondern der Beneidete beschuldigt.[34] Es liegt Ironie darin; was sozialistische Intellektuelle verbreiten, mutet aus Schoeckscher Perspektive weniger fortschrittlich, denn reaktionär an.[35]

Schoeck hat in einer Fülle von kleineren und größeren Schriften gegen diesen „Umsturz der Werte“ (Scheler) angekämpft. Sie beziehen sich zum größeren Teil auf einzelne Vorgänge oder Äußerungen aus Politik, Kultur und gesellschaftlichem Leben, die inzwischen weniger prominente Einträge in den Annalen der Zeitgeschichte ausmachen. So läßt sich an ihnen manches über die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (und anderer Staaten) – und auch manches Prinzipielle lernen. Daß dabei sowohl Schoecks Standpunkt, als auch seine Sprache sich von dem unterscheidet, was unserer Tage in der politischen Diskussion Deutschlands den Ton angibt, erhöht den Reiz solcher Lektüre in nicht unbeträchtlicher Weise.

Eines seiner schmaleren Bücher widmet sich dem Werte-Umbruch, wie er in Schulbüchern zu beobachten ist. Es ist zunächst unter dem Titel Schülermanipulation erschienen,[36] später in einer erweiterten Neuausgabe als Kinderverstörung, von Karl Popper mit großem Nachdruck empfohlen.[37] Schoeck unterstellt darin den Verfassern „fortschrittlicher“ Schulbücher die Absicht, „eine Generation haßerfüllter Neider heranzuziehen, die mit dem bestem Gewissen der Welt jeden, der durch Glück und Zufall ihnen etwas voraus hat, vernichten wollen.“[38] Man möchte dergleichen für übertrieben halten, doch überzeugen die im Verlaufe der kleinen Schrift aufgebotenen Zitate aus Kinder- und Schulbüchern, sowie Lehrerhandbüchern (teils zu jenen Schulbüchern, teils allgemeinerer Natur) vom Gegenteil. Außerdem läßt sich eine Probe aufs Exempel machen. Wer in den achtziger Jahren ein westdeutsches Gymnasium besucht hat, kann seine Schulbücher aus dem Keller holen, um sie mit den Schulbüchern älterer Verwandter zu vergleichen. Ein solcher Vergleich bestätigt Schoecks Diagnose, soweit die bescheidenen Mittel des Verfassers blicken lassen. Während das ältere Buch eine neidfreie Haltung und tätige Zuversicht empfiehlt,[39] fehlt diese Lehre im neueren Lehrwerk; dort wird anläßlich des Themas „Mündig werden“ zum Neid auf die Eltern angestachelt,[40] wo nicht zur Furcht vor dem Beneidet-Werden angehalten wird.[41] Sein Kapitel „Lebensläufe“ enthält keinen einzigen Text, welcher davon berichtet, daß jemand durch Talent und harte, ehrliche Arbeit etwas aus sich gemacht hätte, wie von Sue als Gegengift wider den Neid empfohlen.[42]

V

Unter den Diagnosen, die Schoeck während seines Kulturkampfes trifft, wirken viele wie Vorwegnahmen.

Der Soziologe warnte bereits in den 1970er Jahren vor einer Aufweichung des Leistungsprinzips in Bildung und Arbeitswelt. Die „Entschulung der Schule“,[43] die Senkung der Standards im Rahmen „emanzipatorischer“ Pädagogik, schaffe nichts Gutes, allenfalls „ein Heer von unbeschäftigbaren jungen Menschen, eine Wirtschaft, die weder dynamische Renten noch regelmäßige Reallohnsteigerungen ermöglicht“.[44] Flankiert werde diese Bewegung durch eine „Verschulung der Gesellschaft“, die vor allem eine sich verbreitende Unselbständigkeit aufzeige und weiter befördere: Während man früher selbst etwas aus sich gemacht habe, erwarte man heute, daß dies von einer Institution – also von außen – geleistet werde.[45] Im Jahre 2011 produziert die deutsche „Beschulungsbürokratie“[46] Schulabgänger, deren Wissen, sofern sie überhaupt zu lesen und schreiben vermögen, nicht an das früherer Schülergenerationen heranreicht. Die sprichwörtliche Hartz-IV-Gesellschaft besteht nur noch zum Bruchteil aus Arbeitswilligen, welche – ein Bruchteil vom Bruchteil – die notwendigen Fertigkeiten erworben haben; dies alles geschieht im Einvernehmen mit einer sowohl profitierenden, als auch den Niedergang weiter verstärkenden Betreuungsbürokratie.[47] Über diejenigen, welche diese beiden Fehlentwicklungen in Wort und/oder Tat vorantreiben, bemerkte der Soziologe, Schelers Kritik am Typus (nicht „Vitaltypus“) des „sozial“ Engagierten aufnehmend,[48] bereits vor mehr als einem halben Jahrhundert:

Zu den erstaunlichsten sittlichen Perversionen unserer Zeit gehört ja gerade die Scheinheiligkeit, mit der sogar der berufsmäßige (und wohldotierte) Agitator, der systematische Aufwiegler neidvoller Ressentiments sich selbst als Verkörperung der volonté générale ausgeben kann, ohne sofort durch energische Kritik in Schranken gewiesen zu werden. Er argumentiert etwa wie folgt: Ich stachle den Neid der Leute auf, damit sie voller Zorn das fordern, was ich glaube, daß sie fordern sollen. Mein Kollege Ronald F. Howell, Professor für politische Theorie, pflegt diesen Auftrag in Rousseaus volonté générale so zu definieren: „General will is what the people would want if they wanted what they ought to want.“[49]

Diese Kritik reicht sehr tief; auch wenn ihre Form an ein Argument ad hominem gemahnt, weist sie auf die unheilige Allianz von Neid, Demagogentum und Despotie, sowie darauf, daß die kontinentaleuropäische Tradition es jenen Aufwieglern leichter mache, als – wie zu ergänzen wäre – ihr angelsächsischer Widerpart. Dort steht es besser um die „negative“ Freiheit des Bürgers, den Schutz des Einzelnen vor Übergriffen des Staates und/oder der Mehrheit seiner Mitbürger.

Gleichfalls bereits in den 1970er Jahren erkannte Schoeck das freiheitsfeindliche Potential übergroßer Sorge um die Umwelt, und er machte deren wissenschaftliche und philosophische Schwächen dingfest.[50] Heute kämpft Dirk Maxeiner (zusammen mit Michael Miersch und anderen) gegen die Dogmen eines zum mainstream gewordenen Ökologismus, unter dessen prominenten Vertretern einige freimütig eingestehen, die liberale Demokratie für einen Teil des Problems zu halten.[51]

Vor über fünfzig Jahren erschienen Werk beklagte Schoeck die Naivität westlicher „Kanonenbootpolitik im Rückwärtsgang“;[52] wer versuche, durch den Verzicht auf eigene Interessen und wirtschaftliche Förderung die Sympathien außerwestlicher Staaten zu gewinnen, möge sich erinnern, daß solches Handeln für gewöhnlich Undankbarkeit, Neid und Ressentiment, sowie bei jeglichem Mißlingen Schadenfreude hervorrufe.[53] Im zweiten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends erleben wir einen Westen, der sich weitgehend selbst aufgegeben hat. Ohne deshalb seinen Widersachern sympathischer geworden zu sein.

Schluß

Schoeck hat seinen Krieg verloren. Er war nicht zu gewinnen – in einem Land, in dem „sich der Scharfsinn mehrerer Generationen professioneller Sozialpolitiker weniger darauf richtete, die Gesellschaft von der sozialen Prothetik der Bismarckzeit zu befreien, als diese vielmehr zu vervollständigen.“[54] Und, den überzeugenden Argumenten des Soziologen zum Trotze, weiter diesem Ziele dient. Die Bundesrepublik Deutschland zeigt sich im Jahre 2011 etatistischer, als noch vor dreißig Jahren. Auch der Egalitarismus wirkt stärker denn je. Der Ökologismus (einschließlich Klima-Sorge) feiert wildere Feste, denn vor einigen Jahrzehnten.

Man könnte diesen Sachverhalt in der Rückschau wie folgt ausdrücken: Schoecks Bemühungen zum Trotze hat Deutschland in seiner Standardtendenz verharrt; es nähert sich weiterhin „– in unpersönlicher und technisch perfekter Form – dem ‚wohlwollenden Despotismus’ des 17. und 18. Jahrhunderts.“[55] Die sich fortschrittlich gerierenden Gruppierungen der 1960er und 70er Jahre haben dazu beigetragen. Damit erweisen sie sich als Fortschreibung, nicht aber als der Bruch mit deutschen Traditionen übelträchtigen Charakters, zu welchem sie sich erklären. Wenn Ironie und Tragik sich vermählen können, erblicken wir es hier.

Schoeck wird in Deutschland wenig gelesen. „Der Neid“ läßt sich in der Originalsprache derzeit nur antiquarisch erhalten. In der angelsächsischen Welt erinnert man sich des streitbaren Soziologen öfter, wie sich per Suchmaschine belegen läßt. Eine englische Übersetzung seines Hauptwerkes steht Interessierten zur Verfügung, verlegt vom renommierten Liberty Fund in den USA.

Was würde Schoeck dazu sagen? Der Neid vertreibt die Besten, und diese tragen ihr Wissen in die Welt.

Anmerkungen

[1] Vgl. Scheler, Max: Das Ressentiment im Aufbau der Moralen. In: Scheler, Max: Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen und Aufsätze. Bern u. München: Francke 1972. S. 33-147, besonders S. 132 und 137.
[2] Vgl. ebd., S. 36.
[3] Der Kritische Rationalismus erkennt im Übergang von nicht-prüfbaren („metaphysischen“) zu prüfbaren, d.h. wissenschaftlichen Ausführungen einen Fortschritt. Vgl. Popper, Karl: Logik der Forschung. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1976. S. 222.
[4] Schoeck, Helmut: Der Neid. Eine Theorie der Gesellschaft. Freiburg im Brsg. u. München: Karl Alber 1966. S. 354. Inkonsequente Schreibung des Wortes „Muru-Überfall“ wie im Original.
[5] Ebd., S. 228, ohne Kursive.
[6] Ebd., S. 229.
[7] Ebd., S. 229. Vgl. ebd., S. 387-388.
[8] Vgl. ebd. S. 390.
[9] Vgl. Dahlmanns, Karsten: Wissenschaftslogik und Liberalismus. Mit dem Kritischen Rationalismus durch das Dickicht der Weltanschauungen. Berlin: Weidler 2009. S. 174-175.
[10] Schoeck, H.: Der Neid. S. 355.
[11] Vgl. Rand, Ayn: Capitalism. The Unknown Ideal. New York: Signet 1967. S. 172.
 
[12] Vgl. Röpke, Wilhelm: Jenseits von Angebot und Nachfrage. Erlenbach-Zürich u. Stuttgart: Eugen Rentsch 1966. S. 261-262.
[13] Schoeck, H.: Der Neid. S. 383.
[14] Vgl. ebd., S. 288 und 294.
[15] Ebd., S. 294, ohne Kursive.
[16] Schoeck, Helmut: Die 12 Irrtümer unseres Jahrhunderts. München u. Berlin: Herbig 1985. S. 349.
[17] Ebd., S. 349-350.
[18] Schoeck, H.: Der Neid, S. 17.
[19] Ebd.
[20] Vgl. Hayek, Friedrich August von: The Road to Serfdom. Chicago: The University of Chicago Press 2007. S. 215.
[21] Vgl. Hayek, Friedrich August von: The Fatal Conceit. The Errors of Socialism. Chicago: The University of Chicago Press 1991. S. 52.
[22] Vgl. ebd., S. 136-137.
[23] Vgl. Schoeck, H.: Der Neid. S. 147-150.
[24] Vgl. Hayek, F. A. von: The Fatal Conceit. S. 25.
[25] Vgl. Peirce, Charles Sanders: Evolutionary Love (Collected Papers of Charles Sanders Peirce 6.287-6.317). http://www.cspeirce.com/menu/library/bycsp/evolove/evolove.htm (28.05.2011).
[26] Vgl. Schoeck, H.: Der Neid. S. 58.
[27] Vgl. ebd., S. 42-47, 65 u.ö.
[28] Ebd., S. 51.
[29] Vgl. ebd., S. 68-74.
[30] In Europa lassen sich Überbleibsel von Schaden- und Gegenzauber nachweisen. Schoeck bemerkt: „In Bayern und Österreich mischen alte Bauern noch ‚Neidkraut’ im Stall ins Futter, um das Vieh vor dem ‚Verneiden’ zu schützen.“ (Ebd., S. 414.) Als der Verfasser des vorliegenden Aufsatzes vor wenigen Jahren seinen Sohn im Kinderwagen durch ein Städtchen im nördlichen Kleinpolen spazierengefahren hat, ist ihm empfohlen worden, eine rote Kokarde am Kinderwagen zu befestigen; dergleichen verhindere Übel, wenn neidische Menschen auf das Kind blickten.
[31] Vgl. Schoeck, H.: Der Neid. S. 320-326.
[32] Ebd., S. 327.
[33] Ebd., S. 163.
[34] Vgl. ebd., S. 284 und 289.
[35] D’accord Hayek, F. A. von: The Fatal Conceit. S. 17-19.
[36] Vgl. Schoeck, Helmut: Schülermanipulation. Freiburg im Brsg.: Herder 1976.
[37] Vgl. Schoeck, Helmut: Kinderverstörung. Asendorf: Mut 1987. S. 4. Popper hat seine Empfehlung handschriftlich verfaßt; sie trägt das Datum „11-9-87“. Der Verfasser dankt dem Mut-Verlag in Asendorf für die Übersendung einer Kopie dieses Schreibens.
[38] Ebd., S. 84. (Schoeck, H.: Schülermanipulation. S. 62.)
[39] Vgl. Iben, Harry, Reitemeier, Heinrich u.a. (Hrsg.): Schauen und Schaffen. Ein deutsches Lesebuch für das siebte Schuljahr. Frankfurt a.M., Berlin u. Bonn: Moritz Diesterweg 1959. S. 43-45, 117, 209.
[40] Vgl. Eggert, Hartmut, Kleinegees, Helmut u.a. (Hrsg.): texte deutsch. Gy8. Braunschweig: Westermann 1978. S. 88-123.
[41] Vgl. ebd., S. 28-39, 206-241.
[42] Vgl. ebd., S. 170-200.
[43] Vgl. Schoeck, Helmut: Ist Leistung unanständig? Osnabrück: A. Fromm 1971. S. 37-40.
[44] Ebd., S. 60.
[45] Vgl. Schoeck, Helmut: Das Geschäft mit dem Pessimismus. Freiburg im Brsg.: Herder 1975. S. 79-89. Welche Relevanz diesem Umbruch zukommt, verdeutlichen ex negativo die folgenden Zeilen von Bruce Caldwell über Friedrich August von Hayek: „Schooled in a university tradition that permitted bright students to explore areas on their own, he was confident enough to plunge into new fields of study when he thought that they might help him discover solutions to his problems.“ Caldwell, Bruce: Hayek’s Challenge. An Intellectual Biography of F.A. Hayek. Chicago u. London: The University of Chicago Press 2005: 9.
[46] Schoeck, H.: Die 12 Irrtümer unseres Jahrhunderts. S. 51.
[47] Vgl. Heinsohn, Gunnar: Der Sozialstaat pumpt Geld und vermehrt die Armut. http://www.welt.de/debatte/article6305249/Der-Sozialstaat-pumpt-Geld-und-vermehrt-die-Armut.html (9.06.2011).
[48] Vgl. Scheler, M.: Das Ressentiment im Aufbau der Moralen. S. 81-83.
[49] Schoeck, Helmut: Was heißt politisch unmöglich? Erlenbach-Zürich u. Stuttgart: Eugen Rentsch 1959. S. 225.
[50] Vgl. Schoeck, Helmut: Die Lust am schlechten Gewissen. Freiburg im Brsg.: Herder 1973. S. 150-153. Vgl. ferner Schoeck, H.: Die 12 Irrtümer unseres Jahrhunderts. S. 107-137.
[51] Vgl. Maxeiner, Dirk: Hurra, wir retten die Welt! Wie Politik und Medien mit der Klimaforschung umspringen. Berlin: wjs 2010. S. 106.
[52] Schoeck, H.: Was heißt politisch unmöglich? S. 152.
[53] Vgl. ebd., S. 167-172.
[54] Habermann, Gerd: Geschichte der deutschen Sozialpolitik in freiheitlicher Bewertung. In: Vaubel, Roland, und Barbier, Hans D.: Handbuch Marktwirtschaft. Pfullingen: Neske 1986: 78. Was die Jahre von 1933 bis 1945 angeht, folgt der gegenwärtige Aufsatz Götz Alys These von der „Gefälligkeitsdiktatur“. Vgl. Aly, Götz: Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus. Frankfurt a.M.: S. Fischer 2006. S. 36-38.
[55] Ebd., S. 79.
Deutscher Antiamerikanismus: Das antikapitalistische Motiv
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Deutscher Antiamerikanismus: Das antikapitalistische Motiv

Siegfried Frederick „Fred“ Singer ist ein distinguierter Wissenschaftler aus den Vereinigten Staaten von Amerika. Er lehnt die Hypothese von der anthropogenen Erderwärmung ab. Damit erregt er den Unwillen der Bundestagsfraktion „Bündnis 90/Die Grünen“. Am 3.11.2010 bringt sie eine Kleine Anfrage ein, deren Gegenstand Singer bildet:

Ist der Bundesregierung bekannt, von wem Herr Singer in der Vergangenheit für seine Aktivitäten finanziert worden ist? Sind der Bundesregierung in Deutschland Geldgeber bekannt, die – ähnlich wie Exxon und Koch Industries in den USA – die Aktivitäten von Klimawandelleugnern finanzieren?

[…] Teilt die Bundesregierung die Einschätzung, dass man durch Veranstaltungen mit Herrn Singer reinen Interessenvertretern der fossilen Energiewirtschaft ein Forum gibt und damit deren unwissenschaftliche Arbeiten und unseriösen Aktivitäten bewusst aufwertet?[1]

Wir erblicken ein klassisches adhominem-Argument. Eine inhaltliche Auseinandersetzung findet nicht statt. Dafür werden Verdächtigungen geäußert, welche die Glaubwürdigkeit Singers untergraben sollen. Der Hinweis auf die „Geldgeber“ soll den Wissenschaftler als käuflich desavouieren.

Nun wirkt diese Angelegenheit in vielfacher Hinsicht bedenklich. Dirk Maxeiner empfiehlt sie Geschichts- und Sozialkundelehrern als Gegenstand einer Unterrichtsstunde zum Thema Totalitarismus[2]. Das mag noch übertrieben sein[3], obgleich das Vorgehen der Bundestagsfraktion „Bündnis 90/Die Grünen“ Anlaß zu mancherlei politischem, moralischem und auch ästhetischem Einwand gibt.

Uns soll vor allem eines interessieren: Das antikapitalistische Motiv, und wie es auf die Vereinigten Staaten gemünzt wird. Ganz offenbar wird Singers Wirken von den Grünen im Bundestag als eine Bedrohung empfunden, zu der es ohne die Finanzierung durch amerikanische Konzerne nicht gekommen wäre. Die USA treten in diesem Szenario als Nation auf, welche am stärksten durch den Kapitalismus geformt, in welcher der Kapitalismus am schärfsten ausgeprägt ist – und nach Deutschland getragen wird. Als jener „Brand […], der in die umfriedeten Hütten unserer Kultur geschleudert wird“, wie es Werner Sombart im Jahre 1913 ausgedrückt hat[4]. Hier haben wir eines der wesentlichen Motive des deutschen Antiamerikanismus in seiner Kontinuität: Eine westliche Nation bedroht mit ihrem Kapitalismus deutsche Wege und Weisen, und wie sowohl die Feuer-Metapher, als auch die Emphase der Klima-Diskussion andeuten, handelt es sich dabei um einen Konflikt auf Leben und Tod.

Zum Amerika-Bild deutscher Eliten vor 1914

Zehn Jahre vor dem Ersten Weltkriege lud St. Louis zur Weltausstellung in die Vereinigten Staaten von Amerika. Unter den Gästen waren auch bedeutende Vertreter des reichsdeutschen Wissenschaftsbetriebs, Max Weber und Werner Sombart, einer der führenden Vertreter der Jüngeren Historischen Schule in der Nationalökonomie, Verfasser vieler damals für bedeutend gehaltener Bücher, die über das Fachpublikum hinaus gelesen wurden.

Sombart kehrte mit Eindrücken aus Amerika wieder, die sich von denen Webers fundamental unterscheiden; er stieß sich an der (vermeintlichen oder tatsächlichen) Kommerzialisierung des Lebens in der Neuen Welt: „«Greetings from this ghastly cultural Hell» read one of his postcards back to Germany. To another colleague he wrote that America was the land of the «Götterdämmerung of culture»”[5]. Weber hingegen vermochte mehr zu sehen, nämlich zum einen die religiöse Fundierung des Gastlandes:

Weber uncovered in the sects that he encountered in his America travels a “moral kernel” beneath what appeared to be that land’s shallow materialism. In doing so, he reversed the formula by which most German academics, including Sombart, viewed America. The American “sect,” for him, demonstrated that in the midst of modern capitalism the personal ethic of individual responsibility, about which he was writing in The Protestant Ethic, had survived and was the basis for social action.[6]

Wer sich der Weber’schen Charakterisierung protestantischer Kirchenzucht (das Luthertum ausnehmend) erinnert[7], dürfte erkennen, daß auf dieser Ebene von Laissez-faire und Anything goes keine Rede sein kann.

Zum anderen begreift Weber die Wirkung freiwilliger und zugleich anspruchsvoller Vereinigungen innerhalb und außerhalb der religiösen Sphäre. Da jeglicher Interessent sich um Aufnahme bewerben muß und, sofern durch keinen hinreichend anständigen Lebenswandel gewürdigt, abgewiesen werden kann, ist ein positiver Bescheid „gleichbedeutend mit einem Billet zum Aufstieg, vor allem mit der Bescheinigung vor dem Forum seines eigenen Selbstgefühls: sich «bewährt» zu haben.“[8] Weber bezeichnet diese Vereinigungen als „Träger jener ständischen Aristokratisierungstendenzen, welche, neben und – was wohl zu beachten ist – zum Teil im Gegensatz zur nackten Plutokratie“[9] wirken; „in der Vergangenheit und bis in die Gegenwart hinein war es ein Merkmal gerade der spezifisch amerikanischen Demokratie: daß sie nicht ein formloser Sandhaufen von Individuen, sondern ein Gewirr streng exklusiver, aber voluntaristischer, Verbände war.“[10]

Wie das Wort „mehr“ andeutet, handelt es sich hier nicht bloß um eine Meinungsverschiedenheit zwischen Sombart und Weber, die als subjektiv zu übergehen wäre. Vielmehr erfaßt der Soziologe all dasjenige, was auch der Vertreter der Jüngeren Historischen Schule in der Nationalökonomie zu erblicken vermag, und darüber hinaus die beiden gegenwärtig beschriebenen Sachverhalte. Damit erweist sich Webers Diagnose als umfassender und also – vom Standpunkt des Kritischen Rationalismus – besser im Vergleich zur Sombart’schen. [11].

Was Sombart auf seinen Postkarten nur anreißt, findet monumentalen Ausdruck in seinem Werk Der Bourgeois. Zur Geistesgeschichte des modernen Wirtschaftsmenschen, das im Jahre 1913 erschienen ist. Dort erscheinen die Vereinigten Staaten von Amerika als das am meisten „kapitalistische“ Land[12]. Dabei dienen die prominentesten Vertreter der „amerikanischen Dollarmenschen“[13] als Belege für die psychologisierende Hauptthese des Buches, daß der „moderne Wirtschaftsmensch“ zutiefst kindisch – und dessen Infantilität ansteckend sei:

In der Tat scheint mir die Seelenstruktur des modernen Unternehmers, wie des von seinem Geiste immer mehr angesteckten modernen Menschen überhaupt am ehesten uns verständlich zu werden, wenn man sich in die Vorstellungs- und Wertewelt des Kindes versetzt […]. Die letzten Wertungen dieser Menschen bedeuten eine ungeheure Reduktion aller seelischen Prozesse auf ihre allereinfachsten Elemente […], sind also eine Art von Rückfall in die einfachen Zustände der Kinderseele.[14]

Sombart läßt eine viergliedrige Analogie folgen, die diese These belegen soll. So spiegele zum Beispiel die Freude des Kindes an bloßer Größe, wie sie dessen Bewunderung für den Erwachsenen verrate, die Vorliebe des „modernen Wirtschaftsmenschen“ für das Quantitative:

In Amerika, wo wir natürlich diesen „modernen“ Geist immer am besten studieren können, weil er hier seine einstweilen höchste Entwicklungsstufe erreicht hat, macht man kurzen Prozeß und setzt einfach den Kostenpreis vor den zu bewertenden Gegenstand […]: „Haben Sie den 50 000-Dollar-Rembrandt im Hause des Herrn X. schon gesehen?“[15]

Wenn wir die Namen „Weber“ und „Sombart“ als Chiffren für zwei Weisen nehmen, in denen man sich den Vereinigten Staaten von Amerika nähern kann, unterliegt kaum einem Zweifel, daß der Sombart’sche Weg in Deutschland den Sieg davongetragen hat. Dies zu konstatieren, bedeutet natürlich nicht zu behaupten, daß ein jeder, der dem Sombart’schen Weg folgt, dessen Werke gelesen habe. Es geht schlicht darum, daß eine Haltung, die der Sombart’schen entspricht, sich unter deutschen Eliten weit verbreitet findet.

Der Erste Weltkrieg dürfte dazu beigetragen haben. Beide Seiten befleißigten sich höchst „kreativ“ der Propaganda, und auch die geistigen Schichten wollten nicht zurückstehen[16]. Wie Ludwig von Mises in der Rückschau auf die erste Zeit des Krieges bemerkt, konnte manches Mitglied der Jüngeren Historischen Schule „sich in Anpöbelung der «Unkultur» der Franzosen und Engländer nicht genug tun.“[17] Nach Eintritt der Vereinigten Staaten sollte auch ihnen die nämliche Ehre zugekommen sein.

Einen der verstörendsten Beiträge in diesem Zusammenhang liefert Max Scheler, der Begründer der Materialen Wertethik, welcher später einen großen Einfluß auf Karol Wojtyła/Johannes Paul II. ausüben sollte[18]. Der deutsche Philosoph zeigte schon vor dem Ersten Weltkrieg eine bis ins Eugenische vorgetriebene Angelsachsen-Verachtung. Seiner Auffassung nach rekrutiere in den Vereinigten Staaten und Großbritannien

die repräsentative Frauenschicht – ceteris paribus – sich mehr und mehr, wahrscheinlich schon durch Auslese der Erbwerte, aus solchen Individuen […], die spezifisch weiblicher Reize bar sind und wenig durch Liebes- und Mutterschaftssorgen im sozialen Emporkommen, in „Berechnung“ und kontinuierlichem Dienst an einer wesentlich utilitaristischen Zivilisation, gehindert sind.[19]

Scheler wiederholt den Fehler Sombarts – auf den er sich bei anderer Gelegenheit mit großem Lobe beruft[20] –, keinen tieferen Zug der amerikanischen Gesellschaft zu erfassen. Seine Ausführungen gehen somit an der Sache vorbei. Außerdem muten die Anwürfe Schelers trivial an – in dem Sinne nämlich, daß sie äußerst einfach herzustellen sind. Der Philosoph verläßt sich auf den Umstand, daß es für eine Frau, die sich in einen wohlsituierten Mann verliebt hat, unmöglich sein dürfte, einem Außenstehenden zu beweisen, daß sie jenen nicht seines Geldes wegen eheliche. Im Zweifelsfall läßt sich immer noch ein Essentialismus[21] – etwa „im Grunde“ oder „in letzter Konsequenz“ – einfügen, der alle Bemühungen der Dame zunichte macht. Vertreter des Kritischen Rationalismus sprechen in solchen Fällen von Immunisierung[22].

Fassen wir zusammen: Das Bild der Vereinigten Staaten von Amerika als zur Gänze kommerzialisierter und „bloß kapitalistischer“ Nation wird von Sombart und Scheler durch eine in dienlicher Weise unvollständige Bestandsaufnahme gewonnen und aufrechterhalten. Scheler folgend, vernichtet der Kapitalismus Weiblichkeit, Liebe und Ehe; die Grünen im Bundestag befürchten das Nämliche vom Einfluß des Kapitalismus auf die Wissenschaft. In beiden Fällen lägen die Dinge in Amerika am ärgsten. Die Bundestagsfraktion „Bündnis 90/Die Grünen“ nimmt ein Motiv auf, das bereits vor dem Ersten Weltkrieg unter deutschen Eliten virulent war.

Mit wissenssoziologischen Argumenten gegen die Bedingungen der Möglichkeit von Wissenschaft

Nun zeugt die Kleine Anfrage der Grünen im Bundestag nicht lediglich von der Fortdauer des Kapitalismus-Motivs im deutschen Antiamerikanismus, sondern auch von der ungebrochenen Vorliebe für „entlarvende“, das heißt wissenssoziologische Argumente. Was Professor Singer sagt und schreibt, erhält weniger Aufmerksamkeit als die Frage, wer dessen Studien (ko-)finanziere.

Die Wissenssoziologie bildet eine von deutschen Denkern wesentlich geprägte Tradition. Scheler wird unter deren Vertreter gerechnet, Friedrich Nietzsche und Karl Marx zu deren Vorläufern. Die Wissenssoziologie „behauptet, daß das wissenschaftliche Denken und insbesondere das Denken über soziale und politische Angelegenheiten […] zum Großteil durch unbewußte und unterbewußte Elemente beeinflußt“[23] wird. „Diese Elemente bleiben dem beobachtenden Auge des Denkers verborgen, da sie gleichsam der Ort sind, den er bewohnt, sein sozialer Standort.“[24] Dabei besteht das Anliegen der Wissenssoziologie darin, zu größerer Objektivität beizutragen: „Der Weg zum wahren Wissen scheint in der Entschleierung unbewußter Annahmen, in einer Art […] Soziotherapie zu bestehen. Nur wer sozio-analysiert worden ist oder sich selbst sozio-analysiert hat“[25], darf hoffen, seine Irrtümer zu durchbrechen und objektives Wissen zu erlangen.

Leider trügt diese Hoffnung. Denn es bleibt unklar, weshalb eine solche Sozioanalyse zu höherer Objektivität führen sollte. Schließlich könnte sie lediglich darauf hinauslaufen, daß bestehende Vorurteile durch andere Vorurteile ersetzt werden. Außerdem erweist sich die Wissenssoziologie als selbstüberwindend (self-defeating): Auch sie ist von Menschen erschaffen worden, die einen „sozialen Standort“ haben; – also dürfte nach ihren eigenen Maßgaben kaum geraten sein, ihr zu vertrauen[26].

Wie wir spätestens seit Adam Smiths „unsichtbarer Hand“ wissen, unterliegen menschliche Handlungen dem Gesetz von den unbeabsichtigten Folgen[27]. Eine der ungewollten Konsequenzen der Wissenssoziologie besteht darin, daß sie die Bedingungen der Möglichkeit einer sachbezogenen Auseinandersetzung untergräbt. Nennt Marx Jeremy Bentham „dies nüchtern pedantische, schwatzlederne Orakel des gemeinen Bürgerverstandes des 19. Jahrhunderts“[28], vermeidet er eine Diskussion des Bentham’schen Standpunkts – und damit alles, was an Wissenschaft gemahnt. Dafür wendet er eine Waffe an, die als Ideologie-Verdacht zu bezeichnen üblich geworden ist.

Auch die Bundestagsfraktion der Grünen bedient sich des Ideologie-Verdachts. Kollateralschäden: Vernunft und Wissenschaft.

Cui bono?

Heiko Beyer und Ulf Liebe untersuchen die Verwandtschaft von Antiamerikanismus und Antisemitismus[29]. Ihre Ergebnisse sind auch für den vorliegenden Aufsatz interessant, der den Antikapitalismus als Topos des Antiamerikanismus betrachtet. Schließlich zeigen auch Antisemitismus und Antikapitalismus manchen gemeinsamen Zug, wie in nuce Marx’ Aufsatz „Zur Judenfrage“ zeigt[30].

Beyer und Liebe spüren Strukturprinzipien nach, die sowohl dem Antiamerikanismus, als auch dem Antisemitismus eignen. Dazu zählen sie (i) „Personifizierungen von Modernisierungsfolgen“, (ii) die „Konstruktion identitärer Kollektive“ und (iii) „Manichäismus“, sowie (iv) einen dienlichen Eklektizismus der Erfahrungswirklichkeit gegenüber[31].

Wenn wir, diesen Strukturprinzipien folgend, die Frage nach dem Nutzen stellen – die immer auch die Frage einschließt, um wessen Nutzen es sich handle –, erhalten wir bemerkenswert ernüchternde Ergebnisse:

Ad (i): „Die Bestimmung «Amerikas» als Ort einer beängstigenden Zukunft, […] bzw. der «Amerikaner» als deren Macher“[32]. Wer die Dynamik einer Offenen Gesellschaft als beängstigend empfindet, sich – wie etwa Scheler[33] – nach einer ständisch geordneten, ruhenden Gesellschaft zurücksehnt, mag es tröstlich finden, wenigstens in Gedanken die beständige Veränderung schaffenden Kräfte aus der eigenen Gesellschaft hinaus in eine andere Gesellschaft hinein zu verlagern. So „sind“ es dann die Amerikaner, welche die Jugend verderben, die Männer geldgierig und die Frauen aufsässig machen.

Ad (ii): Indem den Amerikanern als „Fremdgruppe“ moralische Defizite unterstellt werden, wird „die Eigengruppe hypostasiert“[34], das heißt überhaupt erst als Gemeinschaft erlebbar gemacht. Ohne die Kontrastfolie eines äußeren Gegners oder Übels würde die Eigengruppe schnell in Untergruppen zerfallen, die einander gleichgültig oder abhold sind. (Beispiele: Der „Burgfrieden“ im innerlich zerstrittenen Deutschen Reiche; das Verhalten der Anhänger beliebiger Fußballvereine.)

Ad (iii): Wie Licht den Schatten braucht, um wirken zu können, bedarf der Gute des Bösen, um sich auszuzeichnen. Wenn „«Amerika» auf der Seite des Bösen steht bzw. als das Böse schlechthin ausgemacht wird“[35], läßt sich die Eigengruppe als Kreis moralisch höherstehender Menschen erleben. Ein entsprechender Mechanismus greift, wenn die Amerikaner als bäurisch und von fast food verdorben beschrieben werden; dies erlaubt, die der Eigengruppe Zugehörigen als ästhetisch höherstehender, kultivierter zu erleben.

Ad (iv): Natürlich bedarf es bei alledem eines in dienlicher Weise selektiven Umgangs mit der Erfahrungswirklichkeit. Gewissenhaftigkeit der Empirie gegenüber – jenes Bemühen um eine umfassende Bestandsaufnahme, die Max Weber vor Werner Sombart auszeichnet; dazu die von Karl Popper gepredigte Bereitschaft, sein Denken von der Erfahrungswirklichkeit korrigieren zu lassen[36] – dürfte es wenigstens erschweren, dem Antiamerikanismus anzuhängen.

Wie die Einträge (i) bis (iii) zeigen, zahlt sich Antiamerikanismus aus. Wenn nicht in klingender Münze, so in Selbstüberhöhung. Wenn Sombart vom „amerikanischen Dollarmenschen“ schreibt, versichert er sich und anderen, kein Geldmensch zu sein. Wenn der Dichter Stefan George, ein Zeitgenosse Sombarts und Schelers, von „der angloamerikanischen Normalameise“[37] spricht, bezeugt er sich und anderen, kein Durchschnittsmensch zu sein. Und wenn die Bundestagsfraktion von „Bündnis 90/Die Grünen“ die Finanzierung Singer’scher Forschungsprojekte durch amerikanische Konzerne inkriminiert, vermitteln sie sich und anderen den Eindruck, keiner entsprechenden Einflußnahme zu unterliegen: Deutsche Politiker wollen objektiver als ein renommierter Wissenschaftler aus den USA sein[38].

Um welchen Preis?

Alles hat seine Zeit – und seinen Preis. So auch der Antiamerikanismus und die ihn erst ermöglichende (deshalb: dienliche) Unbekümmertheit der Empirie gegenüber. Leider erlaubt der beschränkte Rahmen eines Aufsatzes lediglich, einen grundsätzlichen Aspekt dieses mehr als faszinierenden Problemkomplexes zu betrachten.

Antiamerikanismus führt zu einer folgenreichen Fehlorientierung, wo die großen Revolutionen des achtzehnten Jahrhunderts in Rede stehen. So hält es Popper für

tragisch, daß Europa fast immer nur dem mißlungenen Beispiel der Französischen Revolution (mißlungen jedenfalls bis zu de Gaulles Etablierung der Fünften Republik) Beachtung geschenkt hat, während das großartige Beispiel der Amerikanischen Revolution – zumindest im Schulunterricht – kaum zur Kenntnis genommen und fast immer mißverstanden wird. Denn Amerika hat den Beweis geliefert, daß die Idee der persönlichen Freiheit, wie sie zuerst Solon von Athen zu verwirklichen suchte und wie sie Immanuel Kant durchdachte, kein utopischer Traum ist. Das amerikanische Beispiel hat gezeigt, daß eine Regierungsform der Freiheit nicht nur möglich ist, sondern die größten Schwierigkeiten überwinden kann; eine Regierungsform, die vor allem darauf gegründet ist, die Despotie zu vermeiden – nicht zuletzt auch die Despotie der Majorität des Volkes – durch eine Teilung und Verteilung der Macht und durch gegenseitige Kontrolle der geteilten Mächte.[39]

Die Leistung der amerikanischen Revolution liegt somit darin, die Despotie des Adels abzuschaffen und sie nicht, wie in Frankreich (und später in Rußland und Deutschland) geschehen, durch eine neue Despotie des Pöbels, bzw. sich des Pöbels bedienender Intellektueller[40] oder sonstiger Glücksritter zu ersetzen; die amerikanische Revolution hat die alte Despotie beendet und keine neue Despotie an ihre Stelle gesetzt. Dies leistet die amerikanische Verfassung, wie Popper ausführt, durch ihre Checks and Balances, und durch Limited Government, den Schutz des Bürgers vor der Mehrheit seiner Mitbürger und vor dem Staate. Wie wichtig dergleichen Rechtsgüter sind, zeigen die Exzesse der französischen Revolution (über die jene des Ancien Régime nicht vergessen werden sollten[41]) und die Totalitarismen des zwanzigsten Jahrhunderts.

Die Früchte der beschriebenen Fehlorientierung zeigen sich bis in unsere Tage. Auch im heutigen Europa lassen sich autoritäre oder gar totalitäre Tendenzen ausmachen. Ökologismus und Klima-Kult weisen bereits hinreichend Faktenresistenz und Manichäismus auf,[42] um Sorge zu bereiten, und wie es sich für eine aufkeimende totalitäre Bewegung gehört, kommt es bereits zu Fällen vorauseilenden Gehorsams – indem etwa Kinder-Malwettbewerbe untergehenden Eisbären gewidmet werden[43]. Auch wird bereits von Gewaltakten wider Andersdenkende phantasiert, wie (nicht nur) der Skandal um einen Werbefilm für die Kampagne „10:10“ zeigt,[44] in welchem dissidente Schulkinder, Mitarbeiter u.a. schlankerhand in die Luft gesprengt werden[45]. Wenn eine solche Bewegung sich des Staats bemächtigt, oder der Staat gleichsam auf sie aufspringt, sind unter europäischen Verfassungen größere Übel für den einzelnen Bürger zu befürchten, als dies in Amerika der Fall wäre.

Ein weiteres Zeichen, das Besorgnis erregt, bilden die jüngsten Prozesse gegen Bürger der Niederlande (Geert Wilders), Italiens (Oriana Fallaci), Dänemarks (Lars Hedegaard), Österreichs (Elisabeth Sabaditsch-Wolff, Susanne Winter) und Frankreichs (Michel Houellebecq, Brigitte Bardot), die von ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch machen, bzw. gemacht haben[46]. In den Vereinigten Staaten von Amerika wären derartige Prozesse durch den Ersten Verfassungszusatz ausgeschlossen.

Zusammenfassung und Ausblick

Das antikapitalistische Motiv im deutschen Antiamerikanismus setzt eine gewisse Blindheit bezüglich der Vereinigten Staaten voraus, und es befördert diese Blindheit. Wer wie Werner Sombart und Max Scheler in den USA bloß Kommerzialisierung und Kapitalismus erblickt, hat es versäumt, die tieferen Züge des Landes zur Kenntnis zu nehmen, wie es Sombarts Zeit- und Reisegenosse Max Weber vermochte. Mit dem antikapitalistischen Motiv im deutschen Antiamerikanismus verwoben zeigt sich ein wissenssoziologisch gefärbter Angriff auf die Glaubwürdigkeit amerikanischer Wissenschaftler; sie seien durch ihre Geldgeber korrumpiert. Dieser Anwurf wurzelt in einer von deutschen Denkern (Marx, Scheler) wesentlich geprägten Tradition. Zu deren nicht-intendierten Folgen gehört, daß sie die Bedingungen der Möglichkeit von Wissenschaft, mithin sachbezogener Diskussion untergraben. Das antirationalistische (und also antizivilisatorische, kulturzerstörende) Potential einer solchen Haltung sei hier noch einmal unterstrichen.

Der Antiamerikanismus hat seinen (subjektiven) Nutzen; werden „die Amerikaner“ zum Bösen, läßt sich die Eigengruppe als Gruppe erfahren und in durch den (vermeintlichen oder tatsächlichen) Kontrast als höherwertig erfahren. Wie Popper ausführt, ist dafür der Preis einer sehr tief reichenden Fehlorientierung in staatsphilosophischen Fragen zu zahlen: Es bleibt unverstanden, wie wichtig der Schutz des einzelnen Bürgers vor der Despotie der Mehrheit seiner Mitbürger und des Staates ist. Wer in den USA nur Kommerz und Kapitalismus erblickt und an der Freiheit vorbeiblickt, die notwendig (negative) Freiheit des Einzelnen ist[47] und „bereits im Bereiche der Wirtschaft als der vordersten Frontlinie verteidigt werden“[48] muß, dem harren: Etatismus, Autoritarismus und, wenn es schlimm kommt, Totalitarismus.

Anmerkungen

[1] D. Maxeiner: Grüne machen mit Klimakatastrophen-Zweiflern den Sarrazin.
Online: http://www.achgut.com/dadgdx/index.php/dadgd/article/
gruene_kleine_anfrage_zwecks_aushebelung_der_meinungsfreiheit
[Zugriff am 12.11.2010].

[2] Vgl. ebd.

[3] Vgl. jedoch unten, im Abschnitt „Um welchen Preis?“.

[4] W. Sombart: Der Bourgeois. Zur Geistesgeschichte des modernen Wirtschaftsmenschen. Reinbek: Rowohlt 1988, S. 345.

[5] C. Loader: Puritans and Jews: Weber, Sombart and the Transvaluators of Society. „Canadian Journal of Sociology“, Jg. 26, Nr. 4, 2001, S. 636.

[6] Ebd., S. 639.

[7] M. Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1988, S. 20-21.

[8] Ebd., S. 215.

[9] Ebd.

[10] Ebd.

[11] Dieses Argument orientiert sich am sog. Teilklassenvergleich, wie er von K. Popper beschrieben wird. Vgl. K. Popper: Logik der Forschung. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1976, S. 80–81 beschrieben wird.

[12] Vgl. W. Sombart: Der Bourgeois…, S. 150, 294.

[13] Ebd., S. 27; vgl. ebd. S. 169–170, 172, 180–181.

[14] Ebd., S. 171.

[15] Ebd., S. 172.

[16] Vgl. G. Moore: The Super-Hun and the Super-State: Allied Propaganda and German Philosophy During the First World War. „German Life and Letters“, Jg. 54, Nr. 4, 2001, S. 310–330.

[17] L. von Mises: Erinnerungen. Stuttgart: Gustav Fischer 1978, S. 40.

***

Aus: Majkiewicz / Dus (Hrsg.), Idea przemiany 3, Czestochowa 2011, S. 165-177

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Ideologiekritik an Brecht

Interview anläßlich der Veröffentlichung von „Stadt ohne Vernunft. Über die ideologischen Voraussetzungen des Theaterstücks ‚Der gute Mensch von Sezuan‘ von Bertolt Brecht“, zuerst erschienen in: Die Freie Welt.

FreieWelt.net: Sie haben eine Ideologiekritik aus liberaler Perspektive über das Stück der „Der gute Mensch von Sezuan“ von Bertolt Brecht verfasst. Warum gerade dieser Autor?

Karsten Dahlmanns: Der „Deutsche Bildungsserver“, ein Projekt von Bund und Ländern, bietet auf seiner Seite zum Fach Deutsch an prominenter Stelle Dossiers zu acht Schriftstellern und/oder Dichtern. Goethe fehlt, Brecht ist dabei. (Stand 24.03.2011)

Brecht zählt zu den Autoren, die an unseren Schulen gelesen werden. Damit entfaltet sein Werk eine größere Wirkung, als sie dem Schaffen eines Schriftsteller und/oder Dichters zukommt, der zwar geschätzt wird, aber im Regal bleibt. Im Falle des Ideologen Brecht bedeutet dies: Er kann mehr Übel anrichten.

FreieWelt.net: Und warum gerade dieses Stück?

Karsten Dahlmanns: Das Stück „Der Gute Mensch von Sezuan“ gefällt mir. Wie es geschrieben ist, beeindruckt mich. Deshalb habe ich es ausgewählt.

FreieWelt.net: Welche Kritikpunkte haben Sie an diesem Stück gefunden?

Karsten Dahlmanns: Das Stück arbeitet mit „Leerstellen“; es bezieht seine Suggestivkraft daraus, daß es gangbare Lösungen verschweigt. Das ist natürlich im Interesse des Marxisten Brecht, der seine Zuschauer von der Notwendigkeit einer Revolution überzeugen möchte.

Aus liberaler Sicht wirkt bemerkenswert, daß man alle diese „Leerstellen“ auffüllen kann: Nicht der böse, böse Kapitalismus schafft das Elend in Sezuan, sondern einzelne Fehlentscheidungen der jeweiligen Figuren. David S. Landes und Theodore Dalrymple würden in diesem Zusammenhang auf die Rolle der Kultur hinweisen – auf dasjenige, was Mephistopheles im Blick hat, wenn er sagt: „Wie sich Verdienst und Glück verketten, das fällt den Toren niemals ein“. So läßt sich schließlich zeigen, daß Sezuan mehr Kapitalismus bräuchte, um zu prosperieren.
Wenn ausgerechnet eine promarxistische Parabel dergleichen hergibt, sollte man auch die Gelegenheit nutzen, es (genüßlich) zu zeigen.

Weit ernster scheint mir, daß dem Stück eine besondere Hinterhältigkeit eignet, gegen die sich besonders Jugendliche nur schlecht zur Wehr setzen können, weil sie von den Stürmen erster Liebe hin- und hergeworfen werden. Brechts Stück handelt nämlich nicht lediglich von der Politik, sondern auch von der Liebe; der letztere Strang dient dem ersteren. Seine Schilderung der Liebe läßt sich kaum ertragen, eine solche Vergeblichkeit vermittelt sie. Die Suggestion des Proselytenmachers lautet: „Schaut her, im Kapitalismus läßt sich nicht lieben. Ihr jungen Liebenden müßt den Kapitalismus überwinden, um in Freiheit und Würde lieben zu können.“
Dieser Kniff ist nicht neu. Schon Marx hat sich seiner bedient, als er im „Kommunistischen Manifest“ die bürgerliche Ehe desavouiert hat. Später wird Erich Fromm mit ähnlichen Argumenten arbeiten. Vor alledem hat ein verantwortlicher Lehrer seine Schüler zu schützen.

FreieWelt.net: Worin liegen die Stärken des Stückes? Ist es aus Ihrer Sicht trotzdem große Literatur oder reine Ideologie?

Karsten Dahlmanns: Die Stärken des Stückes liegen in seiner Sparsamkeit. Brecht versteht es, mit wenigen Strichen ein Bildnis zu schaffen, mit sparsamen Mitteln eine bestimmte Atmosphäre fühlbar zu machen. Trotz aller Distanz, was den Gehalt angeht, kann ich mich dieses Reizes nicht entziehen. Deshalb halte ich es für große Literatur, auch wenn mir kürzlich ein Ordinarius der Germanistik mitgeteilt hat, daß „man“ jenem Stück inzwischen andere Werke Brechts vorziehe.

FreieWelt.net: Kann man bei Brecht den Dichter überhaupt von dem Ideologen trennen? Kann man sagen, es gibt einen guten Brecht, den Künstler und einen schlechten Brecht den kommunistischen Ideologen?

Karsten Dahlmanns: Es scheint mir keineswegs geboten, eine solche Trennung vorzunehmen. Popper folgend, kann Aberglaube – z. B. Astrologie – Forschung beflügeln. In ähnlicher Weise dürfte der Dichter Brecht vom Aberglauben des Ideologen Brecht angespornt worden sein. Das hat zur Größe des Dichters beigetragen, ihn aber auch beschränkt. Soll man das tragisch nennen? Vielleicht wäre ein Brecht ohne Ideologie größer, vielleicht geringer. Das bleibt unwägbar.

FreieWelt.net: Was machte den Marxismus für so viele Autoren so attraktiv?

Karsten Dahlmanns: Es sind wahrscheinlich jene beiden Elemente des Marxismus, die Leszek Kołakowski als „romantisch“ und „prometheisch“ bezeichnet. „Romantisch“ will auf Gemeinschaft hinaus. Das heißt, der Marxismus zieht Menschen an, die mit den „unpersönlichen“, „abstrakten“ und „kalten“ Eigenarten einer liberalen Gesellschaft hadern, weil sie weder deren freiheitsverbürgende Funktion begreifen, noch erkennen, daß man nur in einer solcherart gestalteten Gesellschaft Gemeinschaft finden und, nach Änderung seiner Präferenzen, wieder verlassen kann.
Mit der Bezeichnung „prometheisch“ weist Kołakowski auf Marx Überzeugung hin, daß bei rechter Handhabung des Sozialen alle anderen Probleme verschwinden würden. Damit bildet er eine Art Selbsterlösungslehre – und zugleich, wie Karl Popper und Helmut Schoeck ergänzen würden, die beste aller denkbaren Rechtfertigungen für intellektuelle Unduldsamkeit, Machthunger und Grausamkeit.
Wir müssen damit rechnen, daß intelligente, gebildete und schöpferische Menschen für eine Lehre, die solche Züge vereint, anfällig sind. Nicht im Sinne einer billigen Entlarvung des Zuschnitts „Alle Schriftsteller (Intellektuellen usf.) sind machthungrig“, wohl aber im Sinne einer Versuchung, der sie erliegen oder widerstehen können.

FreieWelt.net: Ist es ein Problem, dass Künstler, Schriftsteller und Intellektuelle den Diskurs prägen, die eigentlich gar nichts von Wirtschaft verstehen?
Glauben Sie, dass das einen Einfluss auf die Art und Weise hat, wie wir Wirtschaft und Gesellschaft beurteilen?

Karsten Dahlmanns: Das ist natürlich ein sehr ernstes Problem. Vor einigen Jahrzehnten hat Lord Snow über „die zwei Kulturen“ der Natur- und Geisteswissenschaftler gesprochen; wir können die Ökonomie als dritte Kultur hinzunehmen. Es wäre gut, sehr gut, wenn zwischen diesen drei Kulturen mehr Austausch stattfinden würde. Das Werk Wilhelm Röpkes beweist, wie fruchtbringend die Verbindung nationalökonomischer und geisteswissenschaftlicher Betrachtung sein kann.

Sicher besteht auf der geisteswissenschaftlichen Seite eine Art Schwellenangst vor der Ökonomie. Sie läßt sich – manchmal – überwinden, indem man darauf hinweist, daß Friedrich August von Hayek nicht selten sprachkritische Argumente gebraucht: „Ein Nationalökonom in den Gefilden eines Karl Kraus? Wer hätte das gedacht!“
Eine weitere Bresche läßt sich schlagen, wenn man darauf hinweist, daß der Philosoph Max Scheler und der Nationalökonom Ludwig von Mises gute Bekannte waren, von Mises mit „The Anticapitalistic Mentality“ ein Buch geschrieben hat, das in methodischer Hinsicht Schelers Studie „Das Ressentiment im Aufbau der Moralen“ sehr ähnelt.

FreieWelt.net: Ist es eigentlich ein Naturgesetz, dass Dichter und Künstler eher links stehen? Welche Autoren stehen aus Ihrer Sicht eher für das Ideal einer freien Gesellschaft?

Karsten Dahlmanns: Ein Naturgesetz sicher nicht. Ich würde, wie oben angedeutet, von Versuchung sprechen. Daß so viele Schriftsteller, Dichter und andere Künstler ihr erliegen, liegt zum einen an der Droge selbst, zum andern an der Schwäche der Gegenkräfte. Diese Schwäche resultiert nicht zuletzt daraus, daß das verbreitete Rechts-Links-Schema politischer Ideologien und Philosophien irreführend wirkt. Es wäre besser, alle diese Theorie-Vorschläge nach der Frage anzuordnen, welches Maß an Freiheit sie gewähren. Dann würden der „linke“ Kommunismus und der „rechte“ Nationalsozialismus sich zusammen am unteren Ende der Skala befinden.

Unter den Autoren, die für das Ideal einer freien Gesellschaft werben, möchte ich den vor einigen Jahren viel zu früh verstorbenen Dietrich Schwanitz nennen. Seinem Roman „Der Campus“ eignet weit größere Tiefe, als die burleske Oberfläche vermuten läßt; er ist eine fulminante Verteidigung von Rationalität (Wissenschaft); Freiheit, bürgerlichem Leistungswillen und Anstand.

FreieWelt.net: Wenn Sie ein Fazit ziehen sollten. Wenn wir die Ideologie und die historische Bedeutung einmal beiseite lassen, was wird von Brecht bleiben?

Karsten Dahlmanns: Brecht kann schreiben. Einige seiner Gedichte, manche Passagen aus seinen Stücken bestechen durch ihre sparsame und dichte Art. An allem Anderen wird man vorbeilesen.