Max Scheler: Philosoph und Fiktion

Max Scheler: Philosoph und Fiktion

In seiner berühmten Abhandlung über „Das Ressentiment im Aufbau der Moralen“ widmet sich Scheler einem Phänomen, das dem Neid verwandt ist und sich doch von ihm unterscheidet. Auf deutsch lasse es sich am besten durch das Wort „Groll“ bezeichnen, ein „dunkel durch die Seele wandelndes, verhaltenes und von der Aktivität des Ich unabhängiges Zürnen, das durch wiederholtes Durchleben von Haßintentionen oder anderen feindseligen Emotionen schließlich sich bildet und noch keine bestimmte feindliche Absicht enthält, wohl aber alle möglichen Absichten solcher Art in seinem Blute nährt.“[1] Seit Friedrich Nietzsche den Begriff „zu einem Terminus technicus geprägt“[2] habe, pflege man eine solche Seelenlage als Ressentiment zu bezeichnen.

Scheler fragt darnach, wie Ressentiment entstehe, und beschreibt einige seiner wichtigsten Erscheinungsformen und Folgen, „bestimmte Arten von Werttäuschungen und diesen entsprechenden Werturteilen“.[3] Wo das Ressentiment einen Menschen bestimme, vermöge er keine Urteile ethischer oder ästhetischer Art zu fällen, die auf Gültigkeit hoffen dürfen. Von seinem Groll geblendet, „schlägt sein Wertgefühl […] um“.[4] Fortan hält er Niedriges für hoch, Hohes für niedrig. Der Ressentimentmensch spricht wie John Miltons Satan: „Evil be thou my good“.[5] Doch da eine solche „Ressentimentillusion“[6] niemals vollständig ist, ahnt der in ihr Gefangene, daß er irrt – und leidet.

Worauf Scheler hinausmöchte, läßt sich in den Redeweisen der akademischen Philosophie unserer Tage in etwa so reformulieren: Wir wissen nicht – und sehen uns der epistemologisch fundamentalen Unterscheidung zwischen wertenden und beschreibenden Sätzen wegen außerstande, es zu wissen –, wie ein gültiges („richtiges“) Werturteil zu lauten hat.[7] Werturteile können allenfalls Plausibilität beanspruchen. Äußern sich Menschen, deren Denken und Fühlen vom Ressentiment bestimmt wird, zu ethischen oder ästhetischen Fragen, dürfte die Plausibilität ihrer Werturteile stets bei Null liegen. – Schelers Abhandlung über das Ressentiment reduziert sich auf ein Argument ad hominem.

Dennoch zählt Schelers Studie zu den großen Texten der Philosophie. Es sind die scharfen, wie aus dem Leben selbst geschnittenen Beobachtungen, die für sie einnehmen; – etwa über die „freie Resignation“[8] als Remedium gegen Werttäuschungen, wenn im Alter die Kräfte schwinden.[9]

Und es sind die gewaltigen Urteile der Abhandlung, welche betören. Scheler handelt mit dem Anspruch, das Ressentiment als „eine der Quellen des Umsturzes jener ewigen Ordnung im menschlichen Bewußtsein“[10] – der ewigen Ordnung der Werte nämlich –  dingfest zu gemacht zu haben. Sein Bannstrahl trifft die bürgerliche Kultur der Neuzeit einschließlich ihrer wirtschaftlichen Organisation, der Marktwirtschaft; die Wege und Weisen der Angelsachsen; schließlich den Humanismus (die „moderne Menschenliebe“); all das sei ressentimentvergiftet. Vom Ressentiment unverdorben geblieben sei hingegen der „Kern“ des Christentums, obgleich es leichter als alles andere durch den Ressentimentmenschen mißbraucht werden könne.[11] Scheler, der viel Nietzsche’sches angenommen hat, wendet sich gegen den Meister, wo es ihm  geboten scheint.

Bürgerliche Kultur hat keinen guten Stand bei Scheler. Der Philosoph lehnt die Gesellschaft seiner Zeit ab, weil ein in bestimmter Weise defizitärer „Typus“ Mensch in ihr vorherrsche. Es handelt sich um den „Gemeinen“ – in Abgrenzung zum „Vornehmen“.[12]

Scheler vertritt die Auffassung, daß der „Gemeine“ zu selbständigem Werterkennen kaum in der Lage sei. Letzterem gelangten „nur jene Wertqualitäten überhaupt zur klaren Erfassung […], die «mögliche» Differenzwerte zwischen Eigenwerten und Fremdwerten sind.“[13] In der Folge lebe der „Gemeine“ vom und für den Vergleich seiner selbst mit anderen Menschen: „Er vermag an anderen keinen Wert aufzufassen, ohne ihn zugleich als ein «Höher» und «Niedriger», als ein «Mehr» oder «Weniger» seines Eigenwertes zu nehmen, ohne also die anderen an sich und sich an den anderen zu messen.“[14]

Nun zerfällt der Scheler’sche Typus des „Gemeinen“ in zwei Untertypen. Diese muten wie die Hörner eines bösen Dilemmas an, – worin wir einen gestalterischen Impetus vermuten dürfen. Es handelt sich um (i) den Ressentimentmenschen und (ii) den Streber.

Ad (i): Mangelt dem „Gemeinen“, was der tägliche Wettstreit in einer Konkurrenzgesellschaft erfordert, sieht er sich in aussichtsloser Lage. Solche Ohnmacht kann bewirken, daß er dem Ressentiment anheimfällt,[15] wenn er nicht den Ausweg „freier Resignation“ findet.[16]

Ad (ii): Besitzt der „Gemeine“ ausreichend Willenskraft und Intellekt, sowie alle körperlichen Voraussetzungen, um in einer Konkurrenzgesellschaft mithalten zu können, tritt er als Streber auf. Scheler beschreibt ihn als einen Menschen, für den sich das Mehrsein, Mehrgelten usw. im möglichen Vergleich zu anderen als Zielinhalt seines Strebens vor irgendwelchen qualifizierten Sachwert schiebt; dem jede „Sache“ nur gleichgültiger Anlaß wird, das ihn drückende Gefühl des „Wenigerseins“, das sich in dieser Art des Vergleichs einstellt, aufzuheben.[17]

Indes verdiene niemand als Streber bezeichnet zu werden, wenn „ihm noch ein Eigengehalt einer «Sache» vorschwebt, die er in Tätigkeit und Beruf fördert und vertritt“.[18] Das (im Wortsinne) Hohle an seinem Geltungsstreben macht den Streber.

Es bedarf kaum mehr der Beschreibung, wie die Scheler’sche Selbststilisierung verlaufen wird. Der „Gemeine“ gibt die Kontrastfolie; dessen rudimentärem Werterfassen wird dasjenige des Philosophen entgegengestellt – in seiner Vollständigkeit, in seiner Tiefe. Was soll man davon halten?

Scheler zielt auf eine Befreiung des Einzelnen und seines Werturteils von dem der Masse. Eine solche Befreiung ist von unschätzbarem Wert. Sie muß von jeder Generation aufs Neue errungen werden, weil selbst in der offensten „Offenen Gesellschaft“ auch die Gegenkräfte sich beständig erneuern.[19]

Scheler fundiert die Befreiung des Einzelnen, indem er dem Werterkennen einen exklusiven Charakter verleiht: „Wie es für gewisse mathematische Probleme und Theorien nur ganz wenige gibt, die sie auch nur verstehen, so kann dies auch für sittliche und religiöse Dinge der Fall sein.“[20] Es sei ein populistischer Irrweg („Herdenkonvention“[21]), in der Ethik all dasjenige zu ignorieren, „was nicht den Sinnen und dem Verstande des – jeweilig Blödesten klarzumachen ist!“[22]

Dergleichen möchte man unterschreiben. Alles Vorige aber wirkt weniger überzeugend. Introspektion und, was etwas anderes ist, Werterfassen mögen uns – vielleicht – offenstehen. Doch der Einblick in fremde Seelen bleibt auch einem Scheler verwehrt. Was von außen wie das „Gemeine“ und, sofern sie nicht grollen, Streberhafte der hoi polloi wirken mag, dürfte sich aus deren jeweiliger Innenperspektive anders ausnehmen: Da wird Karriere gemacht, um mit den höheren Einkünften die Familie besser nähren zu können, seinen geliebten Kindern eine gute Ausbildung – ja, womöglich sogar Bildung im klassischen, dem kaum übersetzbaren Sinne – zu ermöglichen. Da wird ein Haus mit großem Garten erworben, weil es der Familie, die bislang in einem Wohnblock gelebt hat, ein tieferes Leben ermöglicht. Scheler sieht an diesen Dingen vorbei, obschon er in seiner Abhandlung über das Ressentiment eine Philosophie der Liebe entwickelt, welche die in den soeben gegebenen Beispielen beschriebenen Handlungen begrüßen dürfte.[23] Erst eine solche suppressio veri ermöglicht ihm, sein Urteil über die „Bürger“ um ihn zu fällen: Ein Verdikt, durch dessen Schwärze der Stern des Philosophen desto herrlicher leuchten soll.

Es scheint, als wirke bei Scheler ein Ressentiment dem „Bürger“ gegenüber; – ein Umstand, der an Poppers Bemerkung erinnert, Freud sei ein Fall für Freud, Adler ein Fall für Adler gewesen.[24] Sollte es sich bei Scheler um einen Fall für Scheler handeln?

„Rechenhaftigkeit“

Der „Gemeine“ sucht, so Scheler, seinen Eigenwert im Vergleich mit den Anderen zu messen. Messen erfaßt Mengen. Alles Quantitative gemahnt Scheler an den Geist des „Bürgers“ und dessen, so der Philosoph, „kalkulierenden“ Verstand; es gilt ihm als etwas Niederes. Man mag diese Kette vager Assoziationen für ein non sequitur halten, doch will zur Kenntnis genommen sein, daß Scheler solcher Auffassung ist. Was treibt ihn dazu?

Wie bereits bemerkt, befürchtet Scheler einen Umsturz der Werte.[25] Er werde vom Ressentiment befördert, dessen Träger auch und gerade der „Bürger“ sei; und er vollziehe sich, indem die Berufswerte des Kaufmanns und Gewerbetreibenden, die Werte der Eigenschaften, durch die eben dieser Typus Homo reüssiert und Geschäfte macht, zu allgemeingültigen moralischen Werten, ja zu den „höchsten“ unter diesen erhoben werden. Klugheit, rasche Anpassungsfähigkeit, kalkulierender Verstand, Sinn für „Sicherheit“ des Lebens und allseitigen ungehemmten Verkehr, für Stetigkeit in der Arbeit und Fleiß, Sparsamkeit und Genauigkeit in der Einhaltung und Schließung der Verträge: das werden jetzt die Kardinaltugenden, denen Mut, Tapferkeit, Opferfähigkeit, Freude am Wagnis, Edelsinn, Lebenskraft, Eroberungssinn, gleichgültige Behandlung der wirtschaftlichen Güter, Heimatliebe und Familien-, Stammes-, Fürstentreue, Kraft zu herrschen und zu regieren, Demut usw. untergeordnet werden.[26]

In einer weiteren Abhandlung unterstellt Scheler dem „Bürger“ eine über die Jahrhunderte „steigende Rechenhaftigkeit der seelischen Grundeinstellung auf Welt und Leben überhaupt.“[27] Auch dort werden Tugenden wie Mut, Tapferkeit und Freude am Wagnis jenen „bürgerlichen“ Zuschnitts kontrastiert. Scheler geht dabei soweit, den „Bürger“ als „geringerwertigen Vitaltypus“[28] zu bezeichnen: „Diesem «angsthaften», «rechenhaften» Typus steht der «gläubige», der «vital vertrauensvolle» und «muthafte» Typus gegenüber.“[29]

Selbst- und Fremdvertrauen, Mut und Hingabe, Opferfähigkeit und Lebenskraft auf der einen Seite; Angst und der Wunsch nach „Sicherheit“, Berechnung und Anpassungsfähigkeit, Vertragsbindung und schwindende (oder bereits geschwundene) Lebenskraft auf der anderen. Wiederum legt Scheler mit einer „dienlichen“ Zeichnung des Gegenübers das Fundament für eine Selbststilisierung: Der Philosoph gebe sich hohen Idealen hin, lehne es ab, den eigenen Vorteil in Betracht zu ziehen. Dabei fällt auf, daß der Begründer der materialen Wertethik mit dem Topos des „Bürgers“ als eines „geringerwertigen Vitaltypus“ vorwegnimmt, was spätestens seit Wilhelm Reich zur Folklore psychologisierender Gesellschaftskritik gehört.[30] Konservativer und fortschrittlicher Antiliberalismus berühren einander; so auch hier.

Vor allem aber taugt Schelers Gegenüberstellung zweier Wert-Tafeln – der Tugenden des kalkulierenden „Bürgers“ und der Tugenden des vertrauensvoll Muthaften – weit weniger, als ein oberflächlicher Blick vermuten läßt. Um dies zu erklären, ist ein kurzer Ausflug in die Wirtschaftslehre nötig:

Alle bürgerliche (wir lassen von Schelers Sicht und damit von den Anführungsstrichen) Kultur beruht auf Produktion und Handel, dem Geschäft. Handel bildet kein Nullsummenspiel, sondern eines, in dem beide Parteien gewinnen.[31] Widrigenfalls bliebe unerklärbar, weshalb unsere Mitbürger tagaus, tagein Millionen von Handelsverträgen schließen, zu denen sie kein Mensch zwingt. Wenn aber der Handel kein Nullsummenspiel darstellt, wird deutlich, daß unterhalb der hohen Ideale (selbstloser Hingabe, freudiger Selbstaufopferung) nicht gleich Verworfenheit beginnt, sondern für ein Drittes Raum bleibt. Wie Wilhelm Röpke ausführt, ist jeglicher Handel und mit ihm die bürgerliche Zivilisation

weder auf Egoismus in dem Sinne aufgebaut, daß die eigene Wohlfahrt zum Schaden anderer gefördert wird, noch auf der […] Hingabe in dem Sinne, daß die eigene Wohlfahrt zum Nutzen anderer vernachlässigt wird. Es ist vielmehr eine ethisch neutrale Beziehung, in der kraft einer vertraglichen Gegenseitigkeit das Ziel der eigenen Wohlfahrtssteigerung mit dem Mittel fremder Wohlfahrtssteigerung erstrebt wird.[32]

Nun setzt ein solches Wunder mancherlei voraus. Vor allem eine gute Geschäftsidee, ein neues und lohnendes Produkt. Schließlich wird in der Marktwirtschaft nur derjenige prosperieren, welcher den Kunden eine Ware anbietet, die ihnen gefällt. Den Markt zu erobern,[33] ist alles andere als eine triviale Aufgabe, weil seine Majestät der Kunde sich wählerisch gibt und die Konkurrenz nicht schläft.

Dies alles im Blick, wird verständlich, daß der Bürger größeren Mutes und Eroberungssinns, größerer Tapfer- und Opferfähigkeit, größerer Führungskraft nach innen und Demut dem Kunden gegenüber bedarf, als Scheler anzunehmen  bereit ist. Wer auf dem Markt bestehen will, muß Tugenden an den Tag legen, die über das Rechenhafte hinausgehen. Doch selbst damit nicht genug. Denn hinzukommen muß ein gerüttelt Maß Schöpferkraft (neudeutsch: Kreativität), wie Ludwig von Mises zeigt:

Millions of people like to drink Pinkapinka, a beverage by the world-embracing Pinkapinka Company. […] If you want to acquire wealth, then try to satisfy the public by offering them something that is cheaper or which they like better. Try to supersede Pinkapinka by mixing another beverage.[34]

Mit einem Worte: Denk Dir ’was aus! Die Marktwirtschaft bietet somit reichlich Gelegenheit, neue Geschäftsideen, innovative Produkte und die meisten der von Scheler geschätzten und vermißten Tugenden zu erproben. Mehr noch, sie setzt sie voraus. Daß der Philosoph dergleichen übersieht, liegt an seiner rudimentären Vorstellung dessen, was ein Unternehmer zu leisten hat.

Bestürzend wirkt: Scheler war ein guter Bekannter von Mises’.[35]  Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, ein tieferes Bild vom Unternehmertum zu gewinnen. Scheler hat es nicht gewollt. Röpke würde Scheler „ressentimentgeladene Wirtschaftsferne der Geisteswelt“[36] vorwerfen. Unser Verdacht aus dem vorigen Kapitel hat sich erhärtet. Scheler ist ein Fall für Scheler.

Anmerkungen

[1] Max Scheler, „Das Ressentiment im Aufbau der Moralen“, Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen und Aufsätze, Bern u. München 1972, S. 33-147, Zitat S. 36-37.

[2] Ebd., S. 36.

[3] Ebd., S. 38.

[4] Ebd., S. 66.

[5] Von Scheler, „Das Ressentiment…“, S. 52, in der Fußnote gegeben.

[6] Scheler, „Das Ressentiment…“, S. 51.

[7] Vgl. Hans Poser, Wissenschaftstheorie, Stuttgart 2001, S. 33-36.

[8] Scheler, „Das Ressentiment…“, S. 54, ohne Kursive.

[9] Vgl. ebd., S. 50-51.

[10] Ebd., S. 63.

[11] Vgl. ebd., S. 75.

[12] Vgl. ebd., S. 48.

[13] Ebd., S. 47.

[14] Ebd. Wie Scheler unterstreicht, nimmt auch der Vornehme Vergleiche vor. Doch entscheide die Reihenfolge von Werterfassen und Vergleich: „Der Vornehme erlebt die Werte vor dem Vergleich; der Gemeine erst im und durch den Vergleich.“ (Ebd.)

[15] Vgl. ebd.

[16] Vgl. oben im gegenwärtigen Kap.

[17] Scheler, „Das Ressentiment…“, S. 48.

[18] Ebd.

[19] Vgl. Leszek Kołakowski, „Samozatrucie otwartego społeczeństwa“, Czy diabeł może być zbawiony i 27 innych kazań, Krakau 2006, S. 291-306.

[20] Scheler, „Das Ressentiment…“, S. 125.

[21] Ebd.

[22] Ebd.

[23] Vgl. Scheler, „Das Ressentiment…“, S. 72-77.

[24] Vgl. Frank Cioffi, „Psychoanalysis, Pseudo-Science and Testability“, in: Gregory Currie und Alan Musgrave (edd.), Popper and the Human Sciences, Dordrecht 1985, S. 13-44, bes. 17.

[25] Vgl. in Kap. I.

[26] Scheler, „Das Ressentiment…“, S. 132.

[27] Scheler, „Die Zukunft des Kapitalismus“, Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen und Aufsätze, Bern u. München 1972, S. 382-395, Zitat S. 388.

[28] Ebd.

[29] Ebd. Scheler betont ebd., S. 388-389, daß mit dem Gläubigen nicht „die Angehörigen des orthodoxen Kirchenglaubens“ gemeint seien, sondern „ein bestimmter Vitaltypus“.

[30] Vgl. Wilhelm Reich, Massenpsychologie des Faschismus, Köln 1986, S. 12-13, 310-312. Einen Überblick über die Folgen  gibt Wolfgang Brezinka, Die Pädagogik der Neuen Linken, München u. Basel 1972, S. 174-180.

[31] Vgl. Friedrich August von Hayek, The Fatal Conceit, Chicago 1991, S. 95.

[32] Wilhelm Röpke, Die Lehre von der Wirtschaft, Erlenbach-Zürich 1965, S. 41.

[33] Röpke, Die Lehre…, S. 45, lehnt solche kriegerischen Vokabeln ab, wo es um Handel und Produktion geht; sie gemahnen an einen Kriegs- und Beutezug, was unter die ethisch negativen Beziehungen zu subsumieren wäre. In der Auseinandersetzung mit Schelers heroischen Idealen jedoch unterstreichen bellikose Begrifflichkeiten in sehr willkommener Weise, daß auch dem Bürger das Heroische nicht fremd ist.

[34] Ludwig von Mises, The Anticapitalistic Mentality, Grove City 1972, S. 7-8, Kursive von mir.

[35] Vgl. Murray N. Rothbard, „Ludwig von Mises: 1881-1973“, nach: http://mises.org/rothbard/misesobit.asp (24.12.2010), und Ludwig von Mises, Erinnerungen, Stuttgart u. New York 1978, S. 69.

[36] Wilhelm Röpke, Jenseits von Angebot und Nachfrage, Erlenbach-Zürich 1966,S. 173, ohne Kursive.

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Der vorstehende Text ist ein Auszug aus dem Essay „Philosoph und Fiktion. Über Max Schelers Stilisierungen seiner selbst und Anderer“, der in dem von Jacek Rzeszotnik herausgegebenen Band Schriftstellerische Autopoiesis (Darmstadt 2011) erschienen ist.

Helmut Schoeck: Sinnvernichtung

Helmut Schoeck: Sinnvernichtung

Evolution hat keinen guten Ruf. Sie wird oft als etwas aufgefaßt, das allem Menschlichen fremd, gar entgegengesetzt sei; als ein entmenschtes Gegen-Evangelium. Dieser Eindruck läßt sich mildern, indem man sich um ein umfassenderes Bild der Sachlage bemüht. Und erkennt, daß der Mensch nicht nur „Glied“[1], sondern auch „Steuernder“[2] der Evolution ist – durch seine Kreativität. Wir sollten uns deshalb verdeutlichen, „daß wir es sind, die in all den Bereichen von der Religionssoziologie bis zur Technikentwicklung das jeweils Neue hervorbringen“.[3] Und zwar auf vielfältige Weise; „in der Möglichkeit zur Zuchtwahl wie zur Genmanipulation, im Entwerfen und Verwirklichen sozialer Systeme, im Konzipieren wissenschaftlicher Theorien und im Realisieren technologischer Artefakte zur Befriedigung […] menschlicher Bedürfnisse.“[4]

Wie sehr der Mensch die Evolution beeinflußt, macht ein näherer Blick auf deren „Mechanismen“ deutlich; – auf jene Mechanismen, die Evolution ermöglichen und vorantreiben. Charles S. Peirce unterscheidet drei solche Mechanismen:

(i)    Die Evolution per Zufallsvariation („tychastische Evolution“[5]), auf der der Darwinismus gründet.[6] Sie wird durch Zufälle wie denjenigen ermöglicht, daß gerade jener Paul gerade jene Paula in gerade jener Stadt traf, sich verliebte und schließlich ein Töchterchen namens Paulette zeugte. Paulette verdankt die Zusammensetzung ihrer Gene dem Zufall.

(ii)    Die „Evolution durch mechanische Notwendigkeit“[7] („anankastische Evolution“[8]). Mechanische Notwendigkeit wirkt, „[w]enn ein Ei dazu bestimmt ist, eine gewisse Reihe von embryonalen Transformationen durchzumachen, von der es ganz gewiß nicht abweicht“.[9] Jedenfalls, sofern nichts Äußeres dazwischen kommt. (Was hinwiederum einen Effekt tychastischer Evolution bilden würde – „das Sichkreuzen zweier unabhängiger Kausalreihen“.[11])

(iii)    Die „Evolution durch schöpferische Liebe“[12] („evolution by creative love“[13]; „agapastische Evolution“[14]). Dieser Mechanismus wird gern übersehen. Das ist bedauerlich. Denn ohne ihn erweist es sich als schlichtweg unmöglich, das Entstehen all der Ideen für Handwerkszeuge und technische Geräte, der wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Theorien, der Kunstwerke und der Meisterwerke der Architektur zu erklären. Schließlich gedeihen all diese Pläne und Dinge nur dann, wenn ein Mensch Arbeit und Mühe – „Gehirnschmalz“ – investiert, lange darüber nachdenkt, was er verbessern, was er noch besser gestalten könnte; mit einem Worte, ihnen Zuwendung schenkt. Man sorgt (wie bei Pflanzen[15]) durch Zuwendung dafür, daß seine Pläne gedeihen; durch schöpferische Liebe. Sonst gedeihen sie nicht.

Wir erkennen: Ein umfassendes Bild der Mechanismen, die Evolution ermöglichen, verändert unseren Eindruck vom Ort des Menschen in der Evolution, und dies in entscheidender Weise! Zwar bleiben wir Geschöpfe der Evolution, deren Launen – man denke an die Sonne – ausgeliefert. Doch sind wir auch – zu Teilen – deren Gestalter; wir beeinflussen die Evolution. Durch unsere Kreativität. Durch unsere Kulturleistungen. So weicht der Eindruck bloßen Ausgeliefert-Seins dem einer gewaltigen Abenteuer-Fahrt.[17]

Deshalb liegt es in unserem Interesse, ein umfassendes Bild der Mechanismen zu erwerben, die Evolution ermöglichen. Bevor wir – grundlos – verzagen. Und darob dem wissenschaftlichen Denken untreu werden.

Übersehene Liebe, wucherndes Unglück

Natürlich sind die drei von Peirce unterschiedenen Evolutionsmechanismen irreduzibel; wir müssen uns aller drei bedienen, wenn wir beschreiben wollen, wie wir zu denen geworden, die wir sind. Ohne Mechanismus (iii) etwa – die Evolution durch schöpferische Liebe – bliebe jedweder (im weitesten Sinne) kulturelle Fortschritt unerklärlich; denn ohne unseren Einfallsreichtum – der übrigens stets der Einfallsreichtum Einzelner ist – würden wir alle immer noch in Höhlen hausen. Trotzdem wird Mechanismus (iii) oft übersehen oder sogar mutwillig hinwegerklärt, das heißt auf einen der anderen Mechanismen zu reduzieren versucht, die Evolution ermöglichen. Im Widerspruch zu dem, was die Maßgabe der Umfassendheit fordert.

Jede Torheit hat ihren Preis; auch ein solcher Reduktionismus in der Evolutionsphilosophie. Wer Mechanismus (iii) übersieht oder forterklärt, muß sich nicht wundern, wenn er den Eindruck einer unfreundlichen, ja unmenschlichen Welt schafft. Einer Welt, in der Zufall – Mechanismus (i) –  und Naturnotwendigkeit – Mechanismus (ii) – herrschen, doch der einzelne Mensch nichts ausrichten kann. Man wird es nicht für übertrieben halten, wenn ich diesen Eindruck als künstlich niederdrückend beschreibe; als geeignet, Resignation und Depression auch dort hervorzurufen, wo wenig Anlaß besteht. Es liegt daher in unserem Interesse, uns auf keinerlei Reduktionismus einzulassen! Und – als Akt der Nächstenliebe – den Reduktionismus in der Evolutionsphilosophie zu bekämpfen.

Eine Welt, in der der Einzelne nichts ausrichten kann, beschreiben viele deutsche Schulbücher aus den 1970er Jahren – in „kritischer“ Absicht. Sie erweisen sich damit als in genau der Weise künstlich niederdrückend, die soeben beschrieben wurde. Schoeck macht deren ganze Perfidie deutlich:

Anschauungsbeispiele für etwas Schönes, Gelungenes, für das Kunstwerk, das in seiner Abgrenzbarkeit von der Umgebung, in seiner geglückten Ganzheit ein Erlebnis, wenigstens eine Ahnung von Sinn vermitteln könnte, werden aus der Schule verbannt. Erzählungen und Abbildungen geglückter Unternehmungen (das Betreten des Mondes ebenso wie Lindberghs Alleinflug über den Atlantik, ein Gedicht oder Gemälde) werden in vielen Fällen nur noch ins Schulbuch aufgenommen, wenn sie mit Bildern oder Texten eingerahmt sind, aus denen menschliches Versagen zu sprechen scheint. Das linke Lernziel heißt: schon das elfjährige Kind soll spüren, dein Leben in dieser Gesellschaft, in dieser Zeit ist sinnlos, ist überflüssig. Wie ein riesiger Staubsauger, der […] mit Dutzenden von Schläuchen aus der Seele des Kindes jeden Winkel absaugt, in dem noch ein Rest von Sinn verborgen sein könnte, sind die linken Lernziele […] ein wohlüberlegtes Instrument zur Abtötung jedes Erlebnisses von Sinn.

Welche enorme Gefahr für die seelische Gesundheit dies mit sich bringt, kann man z.B. den Ausführungen des Psychotherapeuten Professor Viktor E. Frankl, „Der Mensch auf der Suche nach Sinn“ […], entnehmen. Er sieht seit mehreren Jahren auf die Jugend eine ganz neue Art von Neurose zukommen. Diese hat mit den herkömmlichen Konflikten und Komplexen […] wenig zu tun. Es handelt sich nach seinen Beobachtungen bei jungen Menschen in zahlreichen westlichen Ländern um Gewissenskonflikte und eine „existentielle Frustration […], um ein Gefühl der Sinnlosigkeit der eigenen Existenz; das eigene Dasein habe keinen Sinn. Es läßt sich vorstellen, wie diese für unsere Zeit ohnehin typische Ursache seelischer Erkrankung in der Schule als „Lernziel“ bei Kindern wirkt.[19]

Natürlich scheint dem eigenen Dasein der Sinn zu mangeln, wenn man eingetrichtert bekommt, daß der Einzelne weder etwas gestalten, noch ausrichten könne! Wer jungen Menschen Mechanismus (iii) – die Evolution durch schöpferische Liebe, Einsatz und Gehirnschmalz des Einzelnen – vorenthält oder durch Gewissenskonflikte verstellt, für die es keinen sachlichen Anlaß gibt, handelt verantwortungslos. Ob als Schulbuchredakteur, Lehrer oder Dozent.

Anmerkungen
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Ralf Dahrendorf: Liberalismus ohne Liberalismus

Zbliżenia interkulturowe 3, 2008, S. 169-171

Ralf Dahrendorf, Versuchungen der Unfreiheit. Die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung, München 2006: C.H. Beck, 239 Seiten.

Ralf Dahrendorfs Versuchungen der Unfreiheit unternehmen „eine Erkundungsreise zu den Quellen des liberalen Geistes” (S. 9). Das Interesse des Autors gilt einer besonderen „Art” (ebd.) unter den Intellektuellen, die – da es sich um Exponenten des auf dem europäischen Kontinent nur allzuoft mißverstandenen oder gar verleumdeten liberalen Denkens handelt[1] – „nicht jedermanns Helden” (S. 10) sind, z.B. Karl Popper und Isaiah Berlin. Sir Ralf fragt darnach, „wie diese bedeutenden Gestalten den Versuchungen der Unfreiheit widerstanden haben. Was war die Quelle ihrer Kraft, als die Umstände, in denen sie lebten, die Sonne der Freiheit verfinsterten?” (S. 9) – eine faszinierende und außerhalb des im engeren Sinne Wissenschaftlichen mehr als wichtige Fragestellung. Denn es werden sehr oft wenig verantwortungsvolle, wenig redliche Denker[2] als Vorzeige-Intellektuelle gefeiert. Max Horkheimer und sein im Wesentlichen auf Unkenntnis basierender Angriff auf die Philosophie des amerikanischen Pragmatismus bildet dafür nur ein Beispiel.[3]

Dahrendorf interessieren die Menschen „hinter” den Intellektuellen; er versucht zu formulieren, was den Menschen Popper, den Menschen Berlin gegen die Sinn-Angebote der beiden Totalitarismen des zwanzigsten Jahrhunderts – „Gemeinschaft, ein Führer und verklärende Romantik der Sprache einerseits, die Partei, die Hoffnung auf das Paradies auf Erden und die Aura des Religiösen andererseits” (S. 39) – gewappnet habe. Dies verleiht dem Buch einen eigentümlichen Reiz; dem Autor gelingt es, die Dilemmata der Zeit einzufangen, angereichert durch eine Fülle teils anrührender Details aus dem Leben der Protagonisten, deren Selbstreflexion. Äußerungen von Denkern, die erkennen mußten, daß sie der totalitären Versuchung erlegen waren, verleihen dem Buch menschliche Tiefe (vgl. S. 34ff.). Exemplarisch Ignazio Silone, wie von Dahrendorf gegeben: „»Etwas davon bleibt und hinterlässt seine Zeichen auf dem Charakter, die man sein ganzes Leben mit sich herumträgt. Es fällt auf, wie leicht erkennbar die Ex-Kommunisten sind. Sie bilden eine Kategorie für sich, wie ehemalige Priester und frühere aktive Offiziere.«” (S. 38)

Gleichwohl ruft das Werk einen zwiespältigen Eindruck hervor. Dies dürfte dem Umstand geschuldet sein, daß der Autor den Begriff „liberaler Geist” in einer Weite faßt, die von Verwässerung zu sprechen erlaubt. Zwar führt Sir Ralf – auf wenigen Seiten wunderbar anschaulich (vgl. S. 62ff) – den Nachweis, daß liberales Denken nur dort gedeihe, wo man Uneinigkeit nicht lediglich erträgt, sondern erkennt, wie wertvoll sie für alle Weiterentwicklung sei. Doch aus diesem Nachweis erwachsen keine – oder nur äußerst zaghafte (vgl. S. 65) – Konsequenzen in Sachen Wirtschaftsverfassung. Hält Dahrendorf „die Wirtschaftsfreiheit nicht für ein wesentliches Merkmal der freien Welt und die wirtschaftliche Unfreiheit nicht für ein wesentliches Merkmal der unfreien Welt”[4]? Hier muß – unter Berufung auf die Autorität Wilhelm Röpkes – vor dem „schweren und sogar verhängnisvollen” Irrtum gewarnt werden, „daß die Organisation der Wirtschaft […] den Philosophen nicht berühre, der im geistig-politischen Bereich liberal, im wirtschaftlichen jedoch ein Kollektivist sein könne”.[5] Was soll ein Liberalismus ohne Liberalismus?

Verwunderung erweckt ferner, daß ein Denker vom Format Dahrendorfs sich dazu hergibt, Ernst Jünger – gegen den gewiß viel eingewendet werden kann – in weitgehend polemischer Manier abzufertigen (vgl. S. 120f.); dabei wird Jüngers Auf den Marmorklippen fehlerhaft nacherzählt.[6] Auf diesen Lapsus jedoch folgt wie Sonnenschein auf Regen ein äußerst wertvoller Vergleich Jüngers mit Theodor W. Adorno, dessen „reines Schauen aus dem Glaskäfig der ästhetischen Verfremdung […] in manchem dem von Jünger eng verwandt” (S. 123) sei. „»Ein bisschen leichtfertiger Höllenspass und ebenso leichtfertiges Revoluzzergeschwätz, wenn auch immer in feinen Worten«, […] (um […] [Dolf] Sternberger zu zitieren). Insofern war Adorno, wie Jünger, ein sehr deutscher Intellektueller.” (S. 125) Ein derartiger Hinweis gibt zu denken; Dahrendorf hat hier ein ernstes Defizit (nicht nur) der deutschen Nationalkultur getroffen, über das man sich Rechenschaft ablegen sollte.

So ist es der Widerwille gegen den moralischen Maximalismus und Manichäismus, auf den Sir Ralf abzielt, wenn er den liberalen Denker zu beschreiben versucht. (In dieser gestalterischen Entscheidung liegt vermutlich die Ferne des Werkes zur Wirtschaftsverfassung begründet, der Liberalismus ohne Liberalismus.) Dahrendorf sieht solche Skepsis in Erasmus von Rotterdam verkörpert, dessen Distanz zu Luthers Eiferertum er hervorhebt (vgl. S.81ff.). Auch dies eine wichtige Lektion! Denn nur allzuoft wird in unserer Zeit derjenige, der nicht eifert, für schwächlich oder prinzipienlos gehalten. Zeigen wir uns damit zivilisierter, gebildeter, weiser – oder auch nur klüger – als Erasmus?

Dahrendorf liest uns also die Leviten. Er tut wohl daran, denn wir haben es nötig. Leider jedoch beeinträchtigt er deren Wirkung durch eine Ungleichbehandlung Jüngers und Adornos: Daß der Verfasser der Marmorklippen bei Sir Ralf keine Gnade findet, wirkt nachvollziehbar. Daß aber Adorno sich gegen Ende des Werkes in ein- und derselben Denker-Kohorte mit Popper und Berlin wiederfindet, bleibt trotz aller Bitten um „Nachsicht und Ironie” (S. 220) unverständlich – nach alledem, was Dahrendorf über (oder: gegen) Adorno festgestellt hatte[7], und noch vor alledem, was Popper über seinen neuen, derart ihm zugedachten Mitgenossen Adorno zu bemerken unabdingbar gefunden hätte.[8] Spätestens hier verliert sich die Entdeckungsreise zu den Quellen des liberalen Geistes im Gestrüpp der Beliebigkeit. So viele bemerkenswerte Portraits, Deutungen und Einsichten – darunter ein melancholisches, von großer Zuneigung gezeichnetes Portrait Englands (vgl. S. 157ff.) – auf dem Wege gesammelt wurden.

Anmerkungen