Zur Sprache der Berliner Republik. Michael Esders‘ „Sprachregime. Die Macht der politischen Wahrheitssysteme“

Zur Sprache der Berliner Republik. Michael Esders‘ „Sprachregime. Die Macht der politischen Wahrheitssysteme“

ORBIS LINGUARUM 54 (2021) – PDF

Michael Esders analysiert Deformation und Dienstbarmachung der Sprache in der Bundesrepublik Deutschland der vergangenen zwei Jahrzehnte. Seine Studie möchte zeigen, daß eine Reihe sprachlicher Kniffe in der Politik, den Medien und an den Universitäten dazu beiträgt, dem Souverän eine selbstzerstörerische Migrations- und wohlstandsvernichtende Umweltpolitik akzeptabel zu machen, allgemeiner gesprochen: die demokratische Willensbildung soweit zu manipulieren, daß deren Klassifikation als ‚postdemokratisch‘ kaum überzogen wirkt. Der mit einer Arbeit über literarische Formen der Philosophie promovierte Autor nennt diesen Prozeß und dessen Ergebnis „Sprachregime“.

Esders beruft sich gleich zu Beginn auf Victor Klemperers berühmtes Buch über die Sprache des Dritten Reiches:

Der gegenbildlichen Identität und Staatsräson der Bundesrepublik entsprechend, hat sich eine LTI mit umgekehrten Vorzeichen ausgebreitet. Die Sprache wurde zu dem, was ihre emanzipatorischen Leitbegriffe am entschiedensten negieren. Sie konnte es werden, weil sie […] das ‚Nie wieder‘ so ausstellt, dass niemand die Offensichtlichkeit des ‚Wieder‘ wahrnehmen muss. (S. 8)

Dieses „Wieder“ ist ein von vielen Bundesbürgern wahrgenommener Mangel an Gedankenfreiheit bei ideologischer Gängelung, eine heute nicht mehr feldgraue oder braune, sondern „bunttümelnde Eintönigkeit“ (ebd.), wobei „bunt“ natürlich die Voraussetzungen und Auswirkungen einer multikulturellen und auf dem Felde der Sexualmoral nicht mehr von überkommenen Vorstellungen geprägten Gesellschaft meint. 

Nun dürften sowohl Esders‘ politische Voraussetzungen, als auch die Selbstverständlichkeit, mit der er seine Abhandlung in die Tradition Klemperers stellt, Teile des gebildeten Publikums abschrecken. Die Lektüre sei dennoch empfohlen. Esders‘ dreiteilige Studie – sie enthält die Abschnitte „Wahrheitssysteme“, „Narrative der Hypermoral“, „Matrix der Differenz“ – zeichnet sich durch gepflegte, nicht selten elegant zugespitzte und zumeist solide fundierte Argumente aus. Von Dumpfheit, Ressentiment oder der Freude an Verschwörungstheorien ist in der Theodor W. Adorno, Emmanuel Lévinas, Hermann Lübbe u.a. streifenden Studie wenig zu spüren. Die eingangs getroffene Feststellung über Kniffe sprachlicher Art impliziert ja keinesfalls, daß diese Kniffe durch eine Instanz zentral geplant oder gesteuert seien; spontane Koalitionen, zweckbestimmte, auch konkurrierende und widerstreitende Allianzen sollten stets in Betracht gezogen werden.

„Wahrheitssysteme“ ist ein ungewohnter Begriff. Er stammt vom sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer, der 2018 im „Zusammenhang mit den behaupteten ‚Hetzjagden‘ in Chemnitz […] von einem ‚Angriff auf unsere Wahrheitssysteme‘“ gesprochen hatte (S. 10, vgl. auch S. 24). Esders kommentiert:

Wahrheiten sind organisierbar, gibt diese Äußerung zu verstehen. […] Nur wer die Wirkungsweise solcher ‚Wahrheitssysteme‘ versteht und ihr semantisches Betriebssystem entschlüsselt, kann die Macht des Sprachregimes brechen (S. 10),

mithin, wie Esders annehmen dürfte, von postdemokratischer zu demokratischer Willensbildung zurückkehren.

Esders ist zuzustimmen, wo er eine Analyse auf der Wortebene für unzureichend hält. Die seinerseits in den Blick genommenen sprachlichen Kniffe sind oftmals logischer und epistemologischer Natur; dabei ist die solide wissenschaftstheoretische Ausbildung des Verfassers zu spüren. Die Diskussion, ob Migrantengewalt als „Einzelfälle“ und somit in politischer und staatsphilosophischer Hinsicht als irrelevant zu gelten habe, wird mit den Mitteln der Konventionalismus-Diskussion in der Wissenschaftstheorie des Kritischen Rationalismus von Karl Popper begriffen. Auch die zitierte Äußerung des sächsischen Ministerpräsidenten wird im Lichte des Konventionalismus kommentiert:

Nicht die Tötung des Daniel H. [in Chemnitz] wird als „Angriff“ gewertet, sondern die Reaktion auf diese Tat. Im System wird Wahrheit zur autopoietischen Kategorie, zur Frage optimierbarer Selbstorganisation. Was im Widerspruch zu den eigenen Sätzen und Setzungen steht, wird […] als aggressiver Akt interpretiert und kriminalisiert. […] Die Falsifikation der eigenen Thesen käme schon deshalb einer Vernichtung gleich, weil jede Behauptung Selbstbehauptung ist. (S. 25; vgl. auch S. 70)

Jeder mit der Philosophie Poppers auch nur oberflächlich Vertraute ermißt, wie vernichtend dieses Urteil über die Vernunftwilligkeit der Beteiligten ist.

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Von allen guten Geistern verlassen? Paul Kengors „The Devil and Karl Marx“
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Von allen guten Geistern verlassen? Paul Kengors „The Devil and Karl Marx“

Orbis Linguarum 55 (2021) – PDF

Paul Kengor eröffnet das erste Kapitel seines Buches The Devil and Karl Marx, indem er den Beginn des Kommunistischen Manifests in englischer Übersetzung zitiert. Er kündigt diesen Beginn als „so passend, daß es gruseln macht,“ („eerily apt“) an:

The opening lines of the Communist Manifesto could not have been more eerily apt: “A specter is haunting Europe – the specter of communism,” wrote Karl Marx and Friedrich Engels in 1848. “All the powers of old Europe have entered into a holy alliance to exorcise this specter: Pope and Tsar, Metternich and Guizot, French Radicals and German police-spies.[1]

Der Teufel und Karl Marx, die Heilige Allianz, ein Exorzismus – diese Elemente schlagen die Tonart eines Buches an, das profunde Kommunismus-Kritik von einem katholischen Standpunkt leisten möchte. Nur unterläuft Kengor in der gegebenen Passage ein handwerklicher Fehler. Er zitiert die Übersetzung, ohne das deutsche Original geprüft zu haben. Dort findet sich kein Wort vom Exorzismus, keine Heilige Allianz, sondern eine Treibjagd-Metapher: 

Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus. Alle Mächte des alten Europa haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet, der Papst und der Zar, Metternich und Guizot, französische Radikale und deutsche Polizisten.[2]

Hier wirkt nichts mehr „eerily apt“, und damit fällt die fanfarenhaft angelegte Eröffnung des ersten Kapitels in sich zusammen. Bespricht Kengor im zweiten Kapitel Marx‘ Gedichte in englischer Übersetzung, ohne das deutsche Original anzuführen, leidet die Glaubwürdigkeit seiner Ausführungen unter dem bedenklichen Eindruck, den die Introduktion in das erste Kapitel hervorgerufen hat. Kann man sich auf diese Übersetzungen verlassen? Kurioserweise wird das einzige im deutschen Original zitierte Gedicht konsequent ohne Umlaute (und mit einem weiteren Fehler) wiedergegeben; es handelt sich um acht auf Karl Marx gemünzte Verse von Friedrich Engels, deren erster lautet: „Wer jaget hinterdrein mit wildem Ungestum [sic!]“.[3]
Über Kengors Interpretation der Marxschen Gedichte ist nicht viel zu sagen. Weit interessanter wirkt sein Umgang mit zwei Dichtern, die Marx‘ Landsleute waren: Goethe und Heine.

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Weshalb es keine „weiße“ Mathematik gibt
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Weshalb es keine „weiße“ Mathematik gibt

Der in Rumänien aufgewachsene, an der renommierten Universität von Princeton (New Jersey, USA) lehrende Mathematiker Sergiu Klainerman erklärt, weshalb es keine „weiße“ Mathematik gibt.

For historical reasons, we often discuss contributions to the field of mathematics from the Egyptians, Babylonians, Greeks, Chinese, Indians and Arabs and refer to them as distinct entities. They have all contributed through a unique cultural dialogue to the creation of a truly magnificent edifice accessible today to every man and woman on the planet. Though we pay tribute to great historical figures who inform the practice of mathematics, the subject can be taught — and often is — with no reference to the individuals who have contributed to it. In that sense it is uniquely universal. 

(Wenn wir historische Fragen besprechen, diskutieren wir oft die Leistungen der Ägypter, Babylonier, Griechen, Chinesen, Inder und Araber auf dem Felde der Mathematik und beziehen uns auf diese Leistungen als je für sich abgrenzbare Bereiche. Alle diese Kulturen haben in einem einmaligen interkulturellen Dialog zur Schaffung eines mehr als großartigen Gebäudes beigetragen, das nun jedem Mann und jeder Frau auf unserem Planeten zugänglich ist. Auch wenn wir die bedeutenden historischen Gestalten ehren, die das mathematische Denken geprägt haben, kann die Mathematik selbst ohne jeden Bezug auf ihre Schöpfer gelehrt werden. Und so geschieht es ja oft. In diesem Sinne ist die Mathematik universal.)

Klainerman unterscheidet zwischen dem Kontext der Entdeckung („Wer hat’s erfunden? Wer hat’s verbessert?“) und dem Kontext der Rechtfertigung („Ist das folgerichtig? Sind die Voraussetzungen geklärt?“). Diese beiden Kontexte werden oft englisch benannt, nämlich als Context of Discovery und Context of Justification. Wenn Sie in das Klainerman-Zitat schauen, erkennen Sie den Kontext der Rechtfertigung im Teilsatz: „the subject can be taught — and often is — with no reference to the individuals who have contributed to it“ (es „kann die Mathematik selbst ohne jeden Bezug auf ihre Schöpfer gelehrt werden. Und so geschieht es ja oft“). Die Sache selbst macht’s, nicht aber, wer zu ihrer Entstehung beigetragen oder nicht beigetragen hat.

Gerade die Universalität, der nicht-ortsgebunde, nicht-kulturabhängige Charakter der Mathematik eröffne jungen Menschen aus aller Welt die Möglichkeit, durch Talent und Fleiß ärmlichen oder von Unfreiheit geprägten Ausgangsbedingungen zu entkommen. Es gebe keinen Grund, so Klainerman, die Kinder dieser oder jener Minderheit für weniger Mathematik-befähigt zu halten. Solcher Unsinn führe allenfalls dazu, talentierte junge Menschen jener anspruchsvollen Schulbildung zu berauben, derer sie bedürfen, um Erfolg im Leben zu haben.

(Bild: Pixabay.)

Jüngste Buchveröffentlichung: Dahlmanns / Freise / Kowal (Hrsg.), „Krieg in der Literatur, Literatur im Krieg“

Jüngste Buchveröffentlichung: Dahlmanns / Freise / Kowal (Hrsg.), „Krieg in der Literatur, Literatur im Krieg“

Letzten Sommer erschienen: Karsten Dahlmanns / Matthias Freise / Grzegorz Kowal (Hrsg.), „Krieg in der Literatur, Literatur im Krieg“, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020, 578 Seiten.

Der Band versammelt 37 Aufsätze von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus den USA, China, der Schweiz, Österreich, Deutschland und Polen. Ein ausführliches Namenregister hilft bei der Erschließung seiner Inhalte. Weitere Informationen auf den Seiten des Verlags und bei Amazon (Blick ins Buch).

Licht und Schatten. Eine Sieferle-Rezension

Der „Eiertanz“ (Popper 1984: 109) um Rolf Peter Sieferles 2017 im Verlag Antaios erschienenes Büchlein Finis Germania, zwischenzeitlich persona non grata auf der Bestsellerliste von Norddeutschem Rundfunk und Süddeutscher Zeitung, ist weithin bekannt (Müller 2017, Wang 2017). Die gegenwärtige Rezension befaßt sich nicht mit der Antaios-Publikation, sondern mit Sieferles Abhandlung Das Migrationsproblem, die ebenfalls 2017 erschienen ist, bei Manuscriptum.

Sieferles Migrationsproblem teilt sich in fünf Teile: „Migrationsursachen“, „Situation in den Zielländern“, „Narrative zur Legitimation“, „Motive der Akteure“, „Die längere historische Perspektive“. Der Großteil seiner Erwägungen betrifft die Situation in Europa, mithin jene Länder, die Ziel der Migration sind. Hier sieht der habilitierte Historiker Tendenzen zur Selbstdestruktion am Werke, die mit geregelter oder ungeregelter Einwanderung nichts zu tun haben, wohl aber von ihr verstärkt werden. Seine Argumente entstammen der – wenn man möchte, ‚klassischen‘ – liberalen[1] und auch der konservativen Kritik an der modernen Massendemokratie; die Ausuferung des Sozialstaats, deren volkswirtschaftliche und moralische Folgen werden beklagt. „Ein Produkt dieser Entwicklung“, so Sieferle im Anschluß an Helmut Schelsky, sei

der „betreute Mensch“, der die Vielfalt von sozialstaatlichen Leistungen, die ihm zufließen, für selbstverständlich hält: Bildung/Ausbildung, Gesundheitswesen, Infrastruktur, Kindergärten, Erziehungsgeld, Schwimmbäder, Sportstadien, Altersheime etc. Der betreute Mensch wird im Zuge dieser Entwicklung immer weicher und unselbständiger. Die Jungen werden zu Mädchen erzogen. Die Menschen werden empfindlicher, allergischer, veganer. (111-112)

Ein solcher Dekadenz-Befund ist nichts Neues, geschweige denn Originelles – aber auch nichts Überholtes! –, und sein Vorkommen ist weder auf das beginnende einundzwanzigste Jahrhundert, noch auf Deutschland beschränkt. Doch beeinträchtigt dieser Umstand keineswegs das Vergnügen, Sieferles Migrationsproblem zu lesen. Denn sein Buch schöpft aus der europäischen Bildungstradition seit der Antike, spricht von Barbaren, wo Barbaren (jeglicher Zeit und Herkunft) gemeint sind, und ruft damit einen gelinden, deshalb desto wirkmächtigeren Anklang an das Schicksal des (west-)römischen Reiches hervor; es nennt „ochlokratische Tendenzen“ als grundlegendes Problem jeder Demokratie (92), bezeichnet die gegenwärtigen Europäer im abschließenden Kapitel über mehrere Seiten mit Nietzsches Zarathustra als „letzte Menschen“ (130-132). Der Nietzsche-Bezug bleibt unausgewiesen; wie ja auch die Anklänge an Helmut Schoecks gewaltige Studie Der Neid zwar merklich sind, aber nicht belegt werden. Arnold Gehlen, Max Scheler und Max Weber stehen (ebenfalls nicht immer genannt) Pate, wo Sieferle mit den Begriffen der Hypermoral und Gesinnungsethik arbeitet, die Moral eines allumfassenden Humanismus als etwas Gefährliches, da Selbstzerstörerisches begreift.

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Götz Aly und Hans-Ulrich Wehler über Kapitalismus, Antisemitismus und Sozialpolitik

Der vorliegende Essay enthält einige Beobachtungen und Reflexionen, die an den Aufsatz „Zur Kontroverse um Götz Alys Warum die Deutschen? Warum die Juden?“ anschließen. Die neuerliche Beschäftigung mit Alys Forschung rechtfertigt sich aus dem Erscheinen seines neuesten Buches Europa gegen die Juden 1880-1945. Die 2017 publizierte Abhandlung stellt eine Weiterführung des Ansatzes dar, der Alys 2011 auf den Markt gekommenem Buch über den in letzter Konsequenz mörderischen Neid der Deutschen auf die Juden zugrunde liegt. Beide Aufsätze widmen sich also einem Forschungsprogramm, wenn Imre Lakatos’ Begriff in das Reich idiographischer Wissenschaft ausgedehnt werden darf (vgl. Lakatos 1982: 46-52).

Wie zuvor geschehen, sollen auch diesmal ausgewählte Reaktionen auf Alys Buch in der deutschsprachigen Presse diskutiert werden. Unter ihnen verdienen zwei Rezensionen besonderes Lob dafür, daß sie in einer Zeit, wo nur zu gern ‚mißverstanden‘ und entstellend zitiert wird, in prophylaktischer Absicht hervorheben, was auch der Verfasser der gegenwärtigen Zeilen über Alys Buch denkt:

An der deutschen Urheberschaft für den Holocaust lässt Aly keinen Zweifel. Nur böser Wille kann ihm die Absicht unterstellen, diese Schuld und Verantwortung relativieren zu wollen, wenn er betont, dass die Nationalsozialisten Helfer und Mittäter in ganz Europa fanden. (Jahr 2017)

Die Idee, Antisemitismus als europäisches Phänomen von Athen bis Budapest, von Paris bis Berlin zu deuten, ohne den Holocaust direkt in den Mittelpunkt zu rücken, ist originell. Darin nach heimlichen Entschuldungswünschen zu fahnden, ist keinen Gedanken wert, gerade bei einem Historiker, ohne den die hiesige Holocaustforschung um einiges ärmer wäre. (Reinecke 2017)

Darüber hinaus betrachtet der vorliegende Aufsatz ausgewählte Argumente Hans-Ulrich Wehlers, der uns als scharfer Kritiker Alys erinnerlich ist (vgl. Dahlmanns 2017: 45, 52). Dies geschieht in der Absicht, Wehlers Kritik zu kontextualisieren. Wie sich erweisen wird, könnte ein systematischer Grund für Wehlers Ablehnung des Alyschen Forschungsprogramms vorliegen. Er wäre in Wehlers kapitalismuskritischen Anschauungen zu finden, die – mit manchem sachlichen Fehler belastet – sozialdemokratische Vorstellungen von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft favorisieren, sowie dem Umstand, daß jedwede anthropologische Argumentation, die vollständig genug ist, um auch den Neid zu kennen, auf Ideen sozialdemokratischen oder sozialistischen Zuschnitts zu wirken pflegt wie das Tageslicht auf Vampire. Insofern wiederholt Wehler mit Aly, was Karl Marx mit dem französischen Schriftsteller Eugène Sue vornahm, nachdem jener einen Roman über den Neid und dessen Überwindung als Aufgabe für den Einzelnen, nicht für die Gesellschaft, veröffentlicht hatte (vgl. Schoeck 1966: 159-163).

1 Alys Argument in grundsätzlicher Betrachtung

Alys neuestes Buch untersucht die Judenfeindschaft in Europa während der Jahre 1880 bis 1945, mit besonderem Gewicht auf der Zeit vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Dabei wird der deutsche Sprachraum ausgespart; erforscht werden Frankreich, Polen, die Ukraine, Rußland, Litauen, Ungarn, Rumänien, Bulgarien und Griechenland.[1] Der Historiker beschreibt die verschiedenen Erscheinungen des Antisemitismus in diesen Ländern unter drei Aspekten:

  • Angehörige der Mehrheitsbevölkerung vieler der genannten Staaten berauben Juden ihres Besitzes, beschädigen oder vernichten deren Behausungen und Werkstätten, Ladengeschäfte etc., vergewaltigen, verstümmeln und morden (vgl. Aly 2017: 166-178 u.ö.).
  • Die Regierungen fast aller der genannten Staaten betreiben Sozialpolitik auf Kosten der Juden. Um die jeweilige Mehrheitsbevölkerung zu fördern, werden verschiedenste Gesetze erlassen, die Juden in ihrer Berufswahl und -tätigkeit behindern, jüdische Kaufleute und Unternehmer mit Sondersteuern und schikanösen Auflagen belegt. Auch im Bildungswesen wird den Juden das Fortkommen erschwert, um die Mehrheitsbevölkerung zu bevorteilen, z.B. durch konfessionell gebundene Studienplätze (vgl. ebd. 94-98, 205-208 u.ö.)
  • In den Jahren vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs wird in den meisten der genannten Staaten eine Politik favorisiert, die auf die Emigration ihrer jüdischen Minderheit zielt. Dies soll einen möglichst homogenen Nationalstaat schaffen, ist nicht nur gegen die Juden, sondern auch gegen andere Minderheiten gerichtet. Daher wird es von Aly u.a. im Zusammenhang mit Maßnahmen des Bevölkerungsaustausches betrachtet (z.B. zwischen Griechenland und der Türkei, vgl. ebd. 188-192).
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Steffen Dietzsch, Wilfried Lehrke: Geheimes Deutschland. Von Deutschlands europäischen Gründen.
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Steffen Dietzsch, Wilfried Lehrke: Geheimes Deutschland. Von Deutschlands europäischen Gründen.

Steffen Dietzsch und Wilfried Lehrke haben vor einiger Zeit ein Bändchen vorgelegt, in dem sie dafür werben, den Begriff „Geheimes Deutschland“ ernstzunehmen. Die im Umkreis Stefan Georges gebrauchte Fügung meint „die Idee dessen, was Deutschland jenseits bloßer historisch-politischer Zeit und Geschichtslagen sein sollte“; sie gehöre „zu den überempirischen Prinzipien, die uns über alle durchlittenen Schiffbrüche hinweg – wenn auch oft genug nur im Klandestinen – immer auch Denkräume für das Tiefste offen gehalten haben.“ (S. 68) Die beiden Verfasser schildern in affirmativer Weise die wertstiftenden Bezüge Georges und seiner Anhänger auf die Staufer, heben aber auch – und dies stärker als George oder gar gegen ihn – die Bedeutung der deutschen Klassik hervor: „Weimar verkörpert als seelische Landschaft des Deutschen dessen integrative Potenzen als etwas Besonderes seines Nationalcharakters.“ (S. 54, Kursiv im Original) Mit „integrative Potenzen“ dürften die Autoren u.a. die Fähigkeit vieler deutscher Dichter und Denker – das Klischeehafte dieser Reihung möge dem Rezensenten vergeben werden – verstehen, ästhetische Prinzipien und Bestandteile der Weltauffassung des antiken Griechentums aufzunehmen. Den Deutschen eigne darum dort, wo sie nicht lediglich im Praktisch-Tagespolitischen verhaftet bleiben, etwas Übernationales, ja Europäisches. In jedem Falle will die Rede vom Geheimen Deutschland, wie auch jene von der Klassik nicht auf ein Idyll hinaus. Die Autoren unterstreichen „die Differenz von lebendiger Deutsche [sic] Klassik und abstraktem Klassizismus (gleich welcher Couleur)“ (52): „Während deutsche Klassik die facettenreiche Passionsnatur des Menschen als Unabschließbares und Tragisches, damit Hochwidersprüchliches thematisiert, hält Klassizismus dem Menschen ein ‚ewiges‘ Maß des ‚Guten‘, ‚Wahren‘ und ‚Schönen‘ vor.“ (ebd.)

Soweit, wie zu erkennen, das Argument. Die kleine Abhandlung stellt – natürlich – keinen wissenschaftlichen Text dar, sondern einen Essay, der von Andeutungen und überraschenden Verknüpfungen lebt. So springen die beiden Verfasser recht unbekümmert zwischen Passagen aus dem Werk und Manuskripten Stefan Georges, Friedrich Nietzsches und Friedrich Gundolfs hin- und her, als ob das alles Bausteine eines Programmes wären! Zudem wirken einige der angeführten George-‚Stellen‘ recht konventionell. Wer sich nur ein wenig mit dem in Bingen aufgewachsenen Dichter beschäftigt hat, findet bei Dietzsch und Lehrke manches Erwartbare (S. 19-21, 24, 26-27, 29-30, 35, 44, 49), aber kaum Überraschendes. Es scheint, als sollten der Mensch Stefan George und sein Werk auf einen – in welcher Hinsicht auch immer – passenden Mythos, eine passende Charaktermaske zurechtgestutzt werden. Als in belebendes Gegenmittel sei die Monographie Das verfluchte Amerika. Stefan Georges Bildnis von Unternehmertum, Markt und Freiheit (Würzburg 2016) aus der Feder des Rezensenten empfohlen; darin vor allem der dritte Teil, der Georges beträchtlichem Unternehmer-Talent gewidmet ist.

In das genannte Zurechtstutzen Georges schreibt sich eine kaum anders als lachhaft zu nennende Monumentalisierung ein (S. 23):

Und umgekehrt sahen die jungen Dichter aus dem Pariser Kreis um Mallarmé (1890) in Stefan George, der ja als einziger Deutscher dazugehörte, den neuen Sänger des – vorerst noch geheimen – wahren Deutschland. Er ist ihnen der geistige Bote eines anderen Deutschlands als des Machtdeutschlands, das die Franzosen jüngst unterworfen hatte.

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