Die Flucht vor den Fakten

Alan Sokal und Jean Bricmont sezieren in ihrem weitbekannten Buch Eleganter Unsinn vor allem französische Vorkommnisse „tiefer“ Psychologie, Philosophie, Literaturtheorie etc. (Sokal/Bricmont, Unsinn, 1999). Der nämlichen Erscheinung an amerikanischen Universitäten widmet Roger Kimball sein Werk The Rape of the Masters. Alle von Sokal, Bricmont und Kimball vorgeführten Akademiker vernachlässigen die Empirie; sie schreiben, was ihre Laune diktiert. Viele von ihnen zeigen zudem „die Tendenz, die verborgenen Beweggründe unserer Handlungen zu entschleiern.“ (Popper, Offene Gesellschaft, Bd. 2, S. 264). Was dabei herauskommt, sind „Deutungen“ maritimer Malerei, in denen ein Boot umkreisende Haie „can be read as castrating temptresses, their mouths particularly resembling the vagina dentata, the toothed organ that so forcefully expressed the male fear of female aggression.“  (Kimball, Rape, 2004, S. 123) Sollte ein Hai nicht auch bloß ein Hai sein können?

Obschon die Misere sämtliche Nationen des Westens (und die Wasser zwischen ihnen) betrifft, liegt die zweifelhafte Ehre, solche Enthüllungsprosa zu früher Vollendung geführt zu haben, bei einem Denker deutscher Zunge. Es handelt sich um Sigmund Freud. Gegen das Denken des Begründers der Psychoanalyse und seiner Schule läßt sich schlechterdings kein Argument empirischer Natur führen. Denn ein „Psychoanalytiker kann jeden Einwand hinwegerklären, indem er zeigt, daß er das Werk der Verdrängung des Kritikers ist.“ (Popper, Offene Gesellschaft, 1980, Bd. 2, S. 264)

Nun muß die hier gegebene Einschätzung Freuds als (immer noch) umstritten gelten. Doch heißt es: „an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.“ (Mt 7, 16 und 20) Und diesbezüglich unterliegt keinem Zweifel, daß Freud eine – gewaltige! – Senkung des Gesprächsniveaus in der akademischen und nicht-akademischen Welt zu verantworten hat. Kehren wir einen Moment zu dem maritimen Gemälde zurück: Lehrt uns die Vagina-dentata-Deutung etwas über die Malerei im Allgemeinen oder das Kunstwerk selbst, an das sie heranführen möchte?  Sie verstellt den Blick auf das Gemälde durch eine Interpretation, die zugleich grobschlächtig, „entlarvend“ und trivial wirkt. Die feineren Züge des Gemäldes – weite Teile der Erfahrungswirklichkeit – werden ignoriert. Wird so etwas zur Mode, verfallen Wissenschaft und Kultur.

In der außerakademischen Welt gereicht alles im weitesten Sinne psychoanalytische Vokabular inzwischen zur Allzweckwaffe unter den Argumenten ad hominem: Jegliche Zustimmungsverweigerung kann pathologisiert werden. Diesen Eindruck bestätigt die politische Diskussion in Deutschland, namentlich der Streit um die muslimische Immigration. Seit einigen Jahren wird Bürgern, welche die Entwicklung mit Sorge betrachten, „Islamophobie“ unterstellt. Damit werden immerhin „krankhafte Angstzustände“ attestiert: „Personen, die diese Einstellungen teilen, leiden demnach unter einer Krankheit und bedürfen einer Therapie.“ (Luft, Abschied, 2006, S. 335) Das totalitäre Potential einer solchen Pathologisierung Andersdenkender ist nicht zu leugnen, zumal sich die Sowjetunion der Einweisung in psychiatrische Anstalten als Repressionsmittel bedient hat (Heller/Nekrich, Geschichte, 1981, Bd. 2, S. 279-280, 304, 356).

Bemerkenswert wirkt, daß manchen Freunden von ad-hominem-Argumenten eine Pathologisierung nicht ausreicht; sie setzen eine weitere hinzu. So die Journalistin Ulrike Baureithel in einem Beitrag zur Debatte um Thilo Sarrazins Buch Deutschland schafft sich ab:

[(i)] Müßig, an dieser Stelle das krude islamophobische Weltbild Thilo Sarrazins noch einmal aufzurufen. [(ii)] Seltener kommt allerdings zur Sprache, dass hier offenbar auch die Ängste älterer Männer gegenüber der «Flut» junger, «fremder», potenter Männer den Diskurs antreiben. (Baureithel, Deutsche, 2010)

Nach Ziffer (i) erblicken wir den bekannten Phobie-Vorwurf. Für sich genommen, sollte er bereits hinreichend unwiderleglichen Abscheu stiften. Doch bleibt er nur Präludium, da nach Ziffer (ii) ein weiterer, „tieferer“ Anwurf folgt: Sarrazin treibe die Angst des älteren Mannes vor der Unzahl jüngerer und kräftigerer Männer. Zeugt dergleichen „Doppelt genäht, hält besser!“ von zu großem, oder aber von zu geringem Vertrauen in die Zauberkraft des Meisters?

Wissenssoziologie, Ideologie-Verdacht

Nun könnte man ein Vorgehen wie das von Frau Baureithel nicht weiter ernstnehmen. Schließlich richtet sich ihr naiver Glaube an die Verläßlichkeit der Psychoanalyse selbst. Leider jedoch stellt der Ausfall der Journalistin nur den Splitter eines weit verbreiteten und ernsten Problems dar. Dies zeigt z.B. die Klage des weltbekannten Wirtschaftshistorikers David Landes über die Gesprächskultur in seinem Fach:

much of the debate has taken the form of name-calling. The purpose (or effect) of these labels is to marginalize or exclude the adversary. He is a… (fill in the classifier). Nothing more need be said. (Landes, Wealth, 1999, S. 415)

Wir haben es wiederum mit Argumenten ad hominem zu tun. Nur handelt es sich dieses Mal nicht bloß um im weitesten Sinne psychoanalytische Argumente; auch „soziologische“ und/oder „ethische“ Argumente ad hominem werden zugelassen, um Dissidenten zum Schweigen zu bringen. Zu den Bestimmungen, die in Landes’ „He is a… (fill in the classifier).“ eingetragen werden können, zählen unter anderem: (i) Eurozentrist, (ii) Imperialist, (iii) Rassist, (iv) Frauenfeind, (v) Verächter der Homosexuellen. Der uns bereits bekannte Islamophobie-Vorwurf könnte je nach Wunsch unter (i) bis (iii) subsumiert oder als weiterer Eintrag in die Liste aufgenommen werden. Es bestürzt, wie einfach es ist, Wissenschaft zu verhindern.

Wer zeichnet verantwortlich? Außerhalb der Schule Freuds begegnen Topoi, welche die wissenschaftliche Auseinandersetzung durch Verdächtigungen „soziologischer“ und/oder „ethischer“ Art ersetzen, in charakteristischer Weise bei Marx. Wie wir gesehen haben, hat der (Ko-)Verfasser des Manifests der Kommunistischen Partei keine adäquate Diagnose der ihn umgebenden Gesellschaft erstellt. Auch seine Prophezeiungen haben sich als wenig verläßlich erwiesen. So wird man konstatieren müssen, daß Marx’ Erbe vor allem in einer Senkung des Gesprächsniveaus in den Sozialwissenschaften bestehe – durch Argumente ad hominem, die darauf hinauswollen, daß derjenige, dessen Meinung Marx nicht zusagt, entweder ein im pejorativen Sinne bürgerlicher, enger und philisterhafter Mensch sei, der alles Nicht-Pekuniäre als Hirngespinst abtut,  oder aber der prinzipienlose Mietling eines oder mehrerer solcher Menschen, ein Büttel der Bourgeoise sei. Wir können diese Art von Argumenten als Ideologie-Verdacht bezeichnen.

Des weiteren stoßen solcherart „verdächtigende“ Argumente bei Friedrich Nietzsche und Max Scheler auf. Beide Denker gebrauchen den Begriff des Ressentiments, der Jüngere bezieht sich auf den Älteren (Scheler, Ressentiment, 1972, 37-38). Damit treffen sie zuweilen ins Schwarze – denn zweifelsohne verraten manche Menschen einen Groll gegen alles Schöne, Kluge und Erfolgreiche –, doch besitzen viele Salven der beiden Denker rhetorischen, „dienlichen“ Charakter. Deshalb muß der von Nietzsche und Scheler in das Arsenal philosophischer Argumente eingeführte Ressentiment-Verdacht als allzu leicht einsetzbare Waffe gelten. Wird sie im Übermaß gebraucht, verflacht der philosophische Diskurs.

Scheler wird unter die Vertreter der Wissenssoziologie gerechnet, Nietzsche und Marx zu deren Vorläufern. Es handelt sich also um eine von Denkern deutscher Zunge wesentlich geprägte Tradition. Die Wissenssoziologie „behauptet, daß das wissenschaftliche Denken und insbesondere das Denken über soziale und politische Angelegenheiten […] zum Großteil durch unbewußte und unterbewußte Elemente beeinflußt“ wird. „Diese Elemente bleiben dem beobachtenden Auge des Denkers verborgen, da sie gleichsam der Ort sind, den er bewohnt, sein sozialer Standort.“ (Popper, Offene Gesellschaft, 1980, Bd. 2, S. 261) Hier will die Wissenssoziologie zu größerer Objektivität beitragen: „Nur wer sozio-analysiert worden ist oder sich selbst sozio-analysiert hat“ (ebd., S. 264), darf hoffen, seine Irrtümer zu durchbrechen und objektives Wissen zu erlangen.

Leider trügt diese Hoffnung. Denn es bleibt unklar, weshalb eine Sozioanalyse zu höherer Objektivität führen sollte. Schließlich könnte sie lediglich bestehende Vorurteile durch andere Vorurteile ersetzen. Außerdem erweist sich die Wissenssoziologie als selbstüberwindend (self-defeating): Auch sie ist von Menschen erschaffen worden, die einen „sozialen Standort“ haben; darf man ihr trauen? (ebd., S. 265-266)

Trotzdem werden wissenssoziologische Argumente in der politischen Debatte Deutschlands mit dem Anspruch geführt, über „wahr“ und „falsch“ zu entscheiden. Dies zeigt der Streit um den Klimawandel und dessen Ursachen. So finden sich einer Kleinen Anfrage der Fraktion „Bündnis 90/Die Grünen“ im Deutschen Bundestag vom 3.11.2010 die folgenden Verdächtigungen gegen einen einzelnen Wissenschaftler aus den USA:

Ist der Bundesregierung bekannt, von wem Herr Singer in der Vergangenheit für seine Aktivitäten finanziert worden ist? Sind der Bundesregierung in Deutschland Geldgeber bekannt, die – ähnlich wie Exxon und Koch Industries in den USA – die Aktivitäten von Klimawandelleugnern finanzieren? […] Teilt die Bundesregierung die Einschätzung, dass man durch Veranstaltungen mit Herrn Singer reinen Interessenvertretern der fossilen Energiewirtschaft ein Forum gibt und damit deren unwissenschaftliche Arbeiten […] bewusst aufwertet? (Maxeiner, Grüne, 2010)

Ein Mietling soll zur Strecke gebracht werden. Nicht Mann gegen Mann, sondern Bundestagsfraktion gegen Privatmann. Dirk Maxeiner, der von dieser Begebenheit berichtet, erkennt darin Totalitarismus. Das mag noch übertrieben sein. In jedem Falle erspart sich die Fraktion der Partei „Bündnis 90/Die Grünen“ eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Thesen von Professor Singer – den Blick auf die Erfahrungswirklichkeit.

Literatur

Baureithel, Ulrike: „Deutsche! Denkt wilders!“ http://www.freitag.de/kultur/1036-deutsche-denkt-wilders (21.09.2010). Zit.: Baureithel, Deutsche, 2010.

Heller, Michail; Nekrich, Aleksandr: Geschichte der Sowjetunion. Königsstein/Ts. 1981. Zit.: Heller/Nekrich, Geschichte, 1981.

Kimball, Roger: The Rape of the Masters. How Political Correctness Sabotages Art. San Francisco 2004. Zit.: Kimball, Rape, 2004.

Landes, David S.: The Wealth and Poverty of Nations. New York 1999. Zit.: Landes, Wealth, 1999.

Luft, Stefan: Abschied von Multikulti. Wege aus der Integrationskrise. Gräfelfing 2006. Zit.: Luft, Abschied, 2006.

Marx, Karl; Engels, Friedrich: Manifest der Kommunistischen Partei. Berlin (Ost) 1986. Zit.: Marx/Engels, Manifest, 1986.

Maxeiner, Dirk: „Grüne machen mit Klimakatastrophen-Zweiflern den Sarrazin“. Zitiert nach:
http://www.achgut.com/dadgdx/index.php/dadgd/article/
gruene_kleine_anfrage_zwecks_aushebelung_der_meinungsfreiheit
(12.11.2010). Zit.: Maxeiner, Grüne, 2010.

Popper, Karl: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Zwei Bände. Tübingen 1980. Zit.: Popper, offene Gesellschaft, 1980.

Scheler, Max: „Das Ressentiment im Aufbau der Moralen“. In: Max Scheler: Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen und Aufsätze. Bern/München 1972, S. 33-147. Zit.: Scheler, Ressentiment, 1972.

Sokal, Alan; Bricmont, Jean: Eleganter Unsinn. Wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaften mißbrauchen. München 1999. Zit.: Sokal/Bricmont, Unsinn, 1999.

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Der vorstehende Text ist ein Auszug aus dem Artikel „Auf antiempirischem Abweg? Zu einer bedenklichen Tradition des deutschen Geistes“, erschienen in Studia Niemcoznawcze, Band XLVIII, S. 337-350. Das reproduzierte Gemälde stammt von Winslow Homer; es trägt den Namen „Golfstrom“ („The Gulf Stream“). Mehr Informationen über Maler und Werk bietet die Nationalgalerie in Washington.