Rudyard Kipling über die Tradition als Voraussetzung der Freiheit
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Rudyard Kipling über die Tradition als Voraussetzung der Freiheit

Rudyard Kiplings „The Gods of the Copybook Headings“ („Die Götter der Schönschreibheft-Sinnsprüche“) sind ein erstaunliches Gedicht. Es ist knapp hundert Jahre alt. Wie konnte der Dichter so viele der Torheiten vorhersehen, die wir in den vergangenen Jahrzehnten begangen haben?

As I pass through my incarnations in every age and race,
I make my proper prostrations to the Gods of the Market Place.
Peering through reverent fingers I watch them flourish and fall,
And the Gods of the Copybook Headings, I notice, outlast them all.

We were living in trees when they met us. They showed us each in turn
That Water would certainly wet us, as Fire would certainly burn:
But we found them lacking in Uplift, Vision and Breadth of Mind,
So we left them to teach the Gorillas while we followed the March of Mankind.

Bestimmte Einsichten und Empfehlungen locken keinen Hund hinter dem Ofen hervor – so selbstverständlich wirken sie. Vielen Menschen, besonders wenn sie jung sind, scheinen diese Maximen deshalb nichtssagend zu sein („Wasser macht naß“ etc.). Es fehlt ihnen das Erhebende und Orignelle („Uplift“, „Vision“ usw.); genau deshalb kann man mit vielen Auffassungen, die vernünftig sind, nicht renommieren. Auch erlauben sie nicht, uns für fortgeschrittener und also klüger als frühere Generationen zu halten („March of Mankind“)… Erkennen wir Köder und Falle?

We moved as the Spirit listed. They never altered their pace,
Being neither cloud nor wind-borne like the Gods of the Market Place;
But they always caught up with our progress, and presently word would come
That a tribe had been wiped off its icefield, or the lights had gone out in Rome.

Dergleichen ist geschehen, und es kann wieder geschehen.

With the Hopes that our World is built on they were utterly out of touch,
They denied that the Moon was Stilton; they denied she was even Dutch;
They denied that Wishes were Horses; they denied that a Pig had Wings;
So we worshipped the Gods of the Market Who promised these beautiful things.

Im Englischen gibt es die wunderbare Fügung „wishful thinking“, um eine bestimmte Form des Kindisch-Seins zu beschreiben, die uns allen immer wieder unterläuft. Das Deutsche ist gerade hier, an dieser für die Ethik und Staatskunst entscheidenden Stelle so viel ärmer! Auf Wünschen kann man nicht reiten, und Hoffnungen sind kein Fels, auf dem man bauen könnte; Hoffnung kann allenfalls dabei helfen, auf der Suche nach festem Grund nicht vorschnell aufzugeben.

When the Cambrian measures were forming, They promised perpetual peace.
They swore, if we gave them our weapons, that the wars of the tribes would cease.
But when we disarmed They sold us and delivered us bound to our foe,
And the Gods of the Copybook Headings said: „Stick to the Devil you know.“

Über die europäische (und deutsche) „Nachkriegsweisheit“ muß kaum ein Wort mehr verloren werden. Wir verlassen uns darauf, daß die Vereinigten Staaten von Amerika uns im Fall der Fälle heraushauen werden. Und verachten sie genau dafür.

On the first Feminian Sandstones we were promised the Fuller Life
(Which started by loving our neighbour and ended by loving his wife)
Till our women had no more children and the men lost reason and faith,
And the Gods of the Copybook Headings said: „The Wages of Sin is Death.“

Der „neue Mensch“ wollte nicht weniger als eine neue Welt gewinnen, und jetzt hat er sogar Schwierigkeiten damit, sich fortzupflanzen. Und er hat seinen Glauben und seine Vernunft verloren. Darüber lohnt nachzudenken. Die „Ehrfurcht vor dem Traditionellen“ ist, so Friedrich August von Hayek, „für das Funktionieren einer freien Gesellschaft unentbehrlich“.

In the Carboniferous Epoch we were promised abundance for all,
By robbing selected Peter to pay for collective Paul;
But, though we had plenty of money, there was nothing our money could buy,
And the Gods of the Copybook Headings said: „If you don’t work you die.“

Der Wohlfahrtsstaat beruht auf Diebstahl („robbing… Peter“), und er ist nur um den Preis chronischer Inflation zu haben. Allein Kiplings Hinweis, daß es nichts gebe, was unser Geld kaufen könne, muß nicht nur auf dessen Entwertung hinweisen. Hier mag auch dasjenige eine Rolle spielen, was Wilhelm Röpke „Langeweile in der Massengesellschaft“ nennt:

Die Menschen werden nicht nur als Produzenten, die typisierte Serienfabrikate in einer mehr und mehr mechanisierten Erzeugung herstellen, sondern auch als Konsumenten ihrer natürlichen Individualität entkleidet, da diese Serienerzeugnisse den individuellen Geschmack ignorieren müssen, während die Klasse derjenigen, die wohlhabend genug sind, die nicht über denselben Leisten geschlagenen Güter zu erwerben, dank einer von der erdrückenden Masse der Normalverbraucher erzwungenen Neidbesteuerung immer mehr zusammenschmilzt.

Kipling fährt fort:

Then the Gods of the Market tumbled, and their smooth-tongued wizards withdrew
And the hearts of the meanest were humbled and began to believe it was true
That All is not Gold that Glitters, and Two and Two make Four —
And the Gods of the Copybook Headings limped up to explain it once more.

Wir beginnen zu glauben, daß an den Weisheiten in den Schönschreibheften etwas dran sein könnte. Das heißt, die sich überlegen dünkenden Menschen aus Kiplings zwanzigstem und unserem einundzwanzigsten Jahrhunder tun das, was Tom Wolfe als Relearning beschrieben hat. Wir lernen, was Generationen vor uns wußten:

In 1968, in San Francisco, I came across a curious footnote to the hippie movement. At the Haight-Ashbury Free Clinic, there were doctors treating diseases no living doctor had ever encountered before, diseases that had disappeared so long ago they had never even picked up Latin names, diseases such as the mange, the grunge, the itch, the twitch, the thrush, the scroff, the rot. And how was it that they now returned? It had to do with the fact that thousands of young men and women had migrated to San Francisco to live communally in what I think history will record as one of the most extraordinary religious fevers of all time.

The hippies sought nothing less than to sweep aside all codes and restraints of the past and start from zero. At one point, the novelist Ken Kesey, leader of a commune called the Merry Pranksters, organized a pilgrimage to Stonehenge with the idea of returning to Anglo-Saxon’s point zero, which he figured was Stonehenge, and heading out all over again to do it better. Among the codes and restraints that people in the communes swept aside–quite purposely–were those that said you shouldn’t use other people’s toothbrushes or sleep on other people’s mattresses without changing the sheets, or as was more likely, without using any sheets at all, or that you and five other people shouldn’t drink from the same bottle of Shasta or take tokes from the same cigarette. And now, in 1968, they were relearning…the laws of hygiene…by getting the mange, the grunge, the itch, the twitch, the thrush, the scroff, the rot.

Aber zurück zu Kipling:

As it will be in the future, it was at the birth of Man —
There are only four things certain since Social Progress began: —
That the Dog returns to his Vomit and the Sow returns to her Mire,
And the burnt Fool’s bandaged finger goes wabbling back to the Fire;

And that after this is accomplished, and the brave new world begins
When all men are paid for existing and no man must pay for his sins,
As surely as Water will wet us, as surely as Fire will burn,
The Gods of the Copybook Headings with terror and slaughter return!

Wer atmet, dem steht auch dann, wenn er gesund ist, lebenslang Geld zu. Ob „Hartz IV“, „Bürgergeld“ oder „garantiertes Grundeinkommen“. Für das Brot und die Spiele. Keines weiteren Worts bedarf es, um in dieser Vorstellung den Gipfel der Dekadenz zu erkennen. Und zwar selbst dann, wenn nicht wieder Peter (und sein Nachwuchs bis in die x-te Generation) für den „kollektiven Paul“ zahlen müßte. Wobei überhaupt Peter, der ausgewählte („selected“) Peter, dort, wo die Schönschreibheft-Sinnsprüche auf taube Ohren stoßen, ganz offenbar der Einzige ist, der bestraft wird. Natürlich trifft es ihn nicht etwa deshalb, weil er eine Sünde oder sonstige Übertretung begangen hätte; schließlich wird wegen solcher Dinge niemand mehr ernsthaft bestraft, sondern „nur“ noch zu bessern versucht. Kipling durchdringt auch den Widersinn der pantherapeutischen Weltsicht, wie sie Theodore Dalrymple u.a. beschreiben, und erkennt sie als Symptom der Dekadenz, die er beschreibt. Peter wird ausgenommen, weil er (noch) geben kann.

Wie lange das so weitergehen kann und soll? Bis die Götter der Schönschreibheft-Sinnsprüche wiederkehren – mit Feuer und Schwert. Soviel zum Thema „vermeidbares Elend“.

***

Das Gedicht von Rudyard Kipling findet sich u.a. bei John Derbyshire, der es als Text und Hördatei bereithält. Auf Tom Wolfes Relearning-Topos bin ich durch Ed Driscoll aufmerksam geworden. Friedrich August von Hayeks Mahnung ist im vierten Kapitel, (sechster Abschnitt) von dessen „Die Verfassung der Freiheit“ enthalten. Wilhelm Röpke schreibt von der Langeweile in der Massengesellschaft im zweiten Kapitel seines Werkes „Jenseits von Angebot und Nachfrage“ (Inhaltsübersicht); das Zitat stammt von Seite 110 einer älteren Ausgabe (Erlenbach-Zürich u. Stuttgart 1966). Natürlich bildet Kiplings Strophe von der Rückkehr der Sinnspruch-Götter keine Endzeitphantasie, sondern „nur“ einen Hinweis auf die Folgen menschlicher Dummheit. (Hintergrund-Bild: Pixabay.)

Am Rande der Bewegung III: Ein Zeichen setzen!
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Am Rande der Bewegung III: Ein Zeichen setzen!

Hinter dem Fischereihafen der kleinen Stadt werden große Dreifüße aus Stahl gebaut, um einige Kilometer vor der Küste versenkt zu werden. Dann werden darauf Windkraftanlagen montiert. Ganz offenbar hofft man, mit diesem Stahl-Opfer den Zorn der Gottheit abwenden zu können. Ein anderer Grund, diese Steuermittel-Verbrennungsanlagen in die See zu rammen, will mir nicht einfallen.

Von dem Fall abgesehen, daß es sich um Crony Capitalism handle, natürlich:

In a truly capitalist society businesses never receive money or special privileges from government: they succeed if they please customers in offering them what they want, and they fail if they do not. (Kel Kelly, The Case for Legalizing Capitalism, Auburn 2010, S. 26-27)

(In einer kapitalistischen Gesellschaft, die den Namen verdient, erhalten Unternehmen niemals Geld oder irgendwelche besonderen Privilegien von Seiten der Regierung: Sie haben Erfolg, wenn sie den Kunden bieten, was diesen so sehr zusagt, daß sie es kaufen wollen, und sie gehen unter, wenn sie dies nicht tun.)

Wie steht es darum bei unseren Windmühlen und den Dreifüßen, auf denen sie in den Sand gesetzt werden?

Mit großer Unterstützung des Landes Niedersachsen und der EU wurde hier eine Infrastruktur geschaffen, um Offshore-Windkraftanlagen mit allen erforderlichen Komponenten zu bauen und zu verschiffen. Mehr als 80 Mio. € sind in den letzten Jahren in die Infrastruktur der Offshore Basis Cuxhaven investiert worden – hinzu kommen private Investitionen der Offshore-Branche in Cuxhaven von über 100 Mio. €  in den Jahren 2007 und 2008.

„Mit großzügiger Unterstützung des Landes Niedersachsen und der EU“. Und es reden so Viele von „Neoliberalismus“?

Machen wir uns klar: Wer feststellt, die Windkraft-Branche schaffe Jobs, sollte darauf hinweisen, daß diese Jobs recht eigentlich Stellen des Öffentlichen Dienstes darstellen; sie sind von Seiten des Staates bestellt und werden vom Steuerzahler finanziert.

Crony Capitalism ist eine Veranstaltung der Gleicheren unter den Gleichen. Dem Bürger bleibt das Wundern. Er geht durch

Landschaften, welche durch die Rotorenwälder der Windindustrie weiträumig verschandelt wurden,

und fragt sich: Das soll Umweltschutz sein?

* * *

Kellys Argument ruht auf Ludwig von Mises‘ Anschauungen über das Verhältnis von Unternehmer und Kunde. Mehr dazu finden Sie – meisterhaft klar und allgemeinverständlich ausgedrückt – im ersten Kapitel von dessen Werk Die Wurzeln des Antikapitalismus.

Capitalism Works

Capitalism Works

Diese Erfindung hat mehr Bäume gerettet, als Greenpeace jemals vermochte.

Update 2020: Oh, und natürlich x-fach Plastikmüll verhindert. In Gestalt eingesparter CDs, DVDs, Disketten – Sie erinnern sich? – und anderem Zeugs.

Am Rande der Bewegung II: Das Ende ist nah!
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Am Rande der Bewegung II: Das Ende ist nah!

Die Bewegung hat, wie üblich, eine quasi-religiöse Dimension.

In einer der Fischhallen am Rande der kleinen Stadt in Norddeutschland sagt ein älterer und sehr gediegen wirkender Mann mit flächigen, kräftigen Händen – offenbar der Besitzer des Ladengeschäfts – zu einem Dreijährigen, dessen Eltern einige Plattfische erstanden haben: „Da habt ihr ‚was Feines, mein Junge. Ich hoffe, es wird euch schmecken. Wer weiß, ob es noch Fische gibt, wenn Du groß bist.“

Marketing ist das kaum. Eher tatsächliche Erwartung und ehrliche, bohrende Besorgnis. Wie soll man das verstehen?

Und der andere Engel goß aus seine Schale ins Meer; und es ward Blut wie eines Toten, und alle lebendigen Seelen starben in dem Meer. (Offenbarung 16, 3; Luther)

Es handelt sich um die große Eitelkeit, die dem Gedanken entspringt, in einer „besonders“ schlimmen Zeit zu leben, „besonders“ verworfenen Verhältnissen entgegenwirken zu müssen, – und im Gegenzug desto reiner zu scheinen.

Mißverstehen wir einander nicht: Es hat immer wieder besonders schlimme Zeiten gegeben. Der Mut all derer, die sich gegen sie aufgelehnt haben, verdient unseren Respekt: Etwa jener der Widerstandskämpfer gegen den nationalen und internationalen Sozialismus, unter denen es, wie im Falle der polnischen Heimatarmee (Armia Krajowa), viele gab, die nach dem Sieg über den einen Totalitarismus Opfer des anderen wurden.

Es geht um den Als-Ob-Mut, das Als-Ob-Kämpfer sein; das Sich-Erheben in Abwesenheit von Übeln. Das ist der Treibstoff der Bewegung.

***

Der Klassiker zum Thema: Norman Cohn, The Pursuit of the Millenium (1957). Das Buch ist auch in deutscher Sprache erhältlich; allerdings habe ich selten eine schlechtere Übersetzung in der Hand gehabt (Bern und München 1961, besorgt von Eduard Thorsch). In jüngster Zeit beschäftigt sich Richard Landes mit dem Thema.

Am Rande der Bewegung

Am Rande der Bewegung

Man sieht sie wieder öfter, die Parole „Atomkraft? Nein danke“. Diese Sommerferien hatte ich zwei-drei Wagen vor mir, deren hintere Partie von der „kritischen“ Einstellung der Fahrzeughalter kündet. Ob ein solcher Aufkleber den Pkw in Berlin davor bewahren würde, verbrannt zu werden?

Das bleibt abzuwarten. Jedenfalls genießen die Atomkraftwerk-Gegner in Deutschland, im Mainstream zu treiben. Und Mainstream sind sie. Etwa der freundliche Hafenmeister eines Sportboothafens an der Elbmündung. Der nach Gebaren, Bart- und Haartracht idealtypische Achtundsechziger wohnt auf der anderen Seite der kleinen Stadt. Er kommt mit einem Kleinbus neuerer Bauart zur Arbeit, dessen eines hintere Seitenfenster der Aufkleber „Atomkraft? Nein danke“ wenigstens zur Hälfte abdeckt. Die Botschaft macht sich gut auf den abgedunkelten Scheiben.

Nun könnte man bemerken, daß es klimaverträglicher sei, mit dem Fahrrad zur Arbeit zu kommen. Oder zu bedenken geben, daß ein Kleinbus mehr Schadstoffe per Personenkilometer in die Luft blase, als ein kleineres Kraftfahrzeug. Oder gar fragen, ob der soziale Charakter einer Beschäftigung, wie er sie aufgenommen hat, nicht bedenklich sei. Gehören doch seine Kunden zu den Besserverdienern, die sich, nachdem sie ihr Vermögen durch Ausbeutung – womöglich sogar der Dritten Welt – gewonnen haben, nun oberflächlichen Vergnügungen auf ihren Luxus-Sportgeräten hingeben. Aber ich möchte ihm die Laune nicht verderben. Außerdem spreche ich sie nicht – die Sprache der Bewegung.

Wahrscheinlich glaubt unser Hafenmeister, ein Rebell zu sein. Diese Selbsteinschätzung freilich paßt nicht recht dazu, gelassen und auf Kosten nachfolgender Generationen „sozial“ abgesichert im Mainstream zu treiben.

23./24. August 1939: Hitler-Stalin-Pakt

Richard Wagner erinnert an ein Datum, das viele „Progressive“ lieber vergessen möchten: Vor 72 Jahren haben Hitler und Stalin die vierte Teilung Polens beschlossen. Der Hitler-Stalin-Pakt bildet einen blinden Fleck im historischen Bewußtsein vieler Deutscher – wohl auch deshalb, weil er von deutschen und russischen Historikern als Randerscheinung behandelt wird.

Wagner:

„In der Akademie für politische Bildung in Tutzing fand im Juli eine deutsch-russische Historikertagung statt. Es ging um „Erinnerungsorte des 20. Jahrhunderts im russischen und deutschen Gedächtnis.“ Der Titel wurde durch drei Jahreszahlen aufschluss-und folgenreich markiert: 1941, Hitlers Angriff auf die Sowjetunion; 1961, Mauerbau und 1991, das Ende der Sowjetunion. Der Hitler-Stalin-Pakt von 1939 war zwar am Rande auch ein Thema, aber nur am Rande.

Sein Status als Marginalie erlaubt es über die Ereignisse vom 23.August 1939 bis zum 22. Juli 1941 hinwegzusehen. Diese aber stellen eine mustergültige Zeugenschaft für den Totalitarismus dar. Ihre Betrachtung macht jede Debatte über die Vergleichbarkeit der beiden extremistischen Systeme überflüssig. Ihre Verbrechen erweisen sich als so überzeugend austauschbar, dass noch in späten Projekten, wie dem der ersten Wehrmachtsausstellung, Dokumente falsch zugeordnet werden konnten.“

Wagner schließt:

„In den von Stalin besetzten Gebieten beginnt das „Rote Jahr“ 1940, das von Willkür und Terror, Enteignung und Deportation geprägt ist. Es ist für die Völker Ost- und Ostmitteleuropas die Einführung in das, was sie mit dem Kalten Krieg, von dem sie noch nichts wissen können, in der Nachkriegszeit erwartet.“

Die Angehörigen dieser Völker dürften sich wundern, daß ein Artikel, wie ihn Wagner geschrieben hat, überhaupt notwendig ist. An der Weichsel etwa hält kaum jemand eine „Debatte über die Vergleichbarkeit der beiden extremistischen [oder totalitaristischen] Systeme“ für unabdingbar. Von Polen aus ist die Sache klar – wie sie übrigens auch für den sowjetischen Schriftsteller Vasilij Grossman klar gewesen ist.

Gustav Mahler in den USA
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Gustav Mahler in den USA

Wo bleibt das Positive im Verhältnis von Alter und Neuer Welt? Hier ist es: Für Gustav Mahler – hören Sie sein herrliches „Ich bin der Welt abhanden gekommen“ – war

die Leitung eines Konzertorchesters schon immer sein Lebenswunsch. Europa hatte ihm nicht erfüllen können, was zwei wohlhabenden Damen der New Yorker Gesellschaft, die von Mahlers Musizieren begeistert waren, sofort gelang: binnen kurzem beschafften sie mit Hilfe reicher Mäzene einen Garantiefonds von 90 000 Dollar. Am 31. März 1909 stand Mahler zum erstenmal vor ’seinem‘ Orchester, dem New York Philharmonic, dessen künstlerische Leitung man ihm anvertraute. Die Saison 1909/10 wurde somit zur ausschließlichen Konzertsaison […], wobei er von New York aus auch die benachbarten Städte, wie etwa Philadelphia, symphonisch betreute. Seine Konzert beherrschten vorwiegend die „gediegenen Meister“, wie er die Klassiker nannte, dazu kamen einige Novitäten.

Der Chronist fährt fort:

Symptomatisch für Mahlers beweglichen Geist und aufschlußreich für die Geschichte der Bach-Interpretation ist die Tatsache, daß er einmal ein Bach-Konzert spielte, „wofür ich das Basso continuo für Orgel gesetzt; und an einem von Steinway hierzu präparierten Spinett von sehr großem Klange dirigierte ich und improvisierte – ganz nach Art der Alten. Da sind für mich (und auch für die Hörer) ganz überraschende Dinge dabei herausgekommen. Wie mit einem Schlaglicht war diese verschüttete Literatur beleuchtet.“ Von seinen eigenen Werken führte er in Amerika lediglich seine Erste und Zweite Symphonie und die Kindertotenlieder auf.

Mahler fühlte sich „bei dieser Tätigkeit und Lebensweise frischer und wohler als seit vielen Jahren.“ […] Was ihm besonders gefallen mußte, waren die reichen Mittel, die er vorfand, war die „nobelste Gesellschaft – ohne Intrigue – ohne Beamtenkram… Die Menschen hier sind ungeheuer frisch – alle Roheit und Unbelehrtheit sind – Kinderkrankheiten… Man hat hier nur vor einem einzigen Ding Respekt: Können und Wollen!

* * *

Wolfgang Schreiber, Mahler, Reinbek 1971, S. 115-116. Hervorhebungen von mir.

Blutige Nase geholt: Augstein vs. Hanson

Blutige Nase geholt: Augstein vs. Hanson

Jakob Augstein verkörpert den bundesdeutschen Gesinnungsjournalismus, wie kaum ein anderer. In einem kürzlich erschienen Artikel verkündet er: „In Amerika regiert der politische Irrsinn. Die USA sind ein politisch und sozial zerrissener failed state.“

Der Artikel ist auch in englischer Sprache erschienen. In dieser Version hat er die Aufmerksamkeit des namhaften Historikers Victor Davis Hanson gefunden. Die Antwort des kalifornischen Gelehrten trägt den schönen Titel „An Anatomy of European Nonsense. The Silliest Column I Have Ever Read“.

Augstein:

Der soziale Zerfall dieses reichen Landes ist atemberaubend. Der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz hat ihn jüngst beschrieben: Das reichste Prozent der Amerikaner reklamiert gut ein Viertel des Gesamteinkommens für sich – vor 25 Jahren waren es zwölf Prozent. Es besitzt 40 Prozent des Gesamtvermögens – vor 25 Jahren waren es 33 Prozent. Stiglitz sagt, dass sich in vielen Ländern der sogenannten Dritten Welt die Einkommensunterschiede zwischen Arm und Reich reduziert hätten. In den USA sind sie gewachsen.

Hanson:

Most of the extraordinary wealth of America’s richest — a Bill Gates, Jr. or Warren Buffett — is based on the advent of American-style globalization that opened up new markets for products and financial services, or brought in billions in foreign investment. In response, never has the top 1% paid a greater percentage of the aggregate income tax (the top 1% pays almost 40% of all income tax revenues collected; the top 5% pays almost 60%; the bottom 50% of households pays essentially nothing in income tax). But the barometer of national health should be not be found necessarily in income disparity, but rather in the per capita income of Americans. As American companies and financial institutions made unprecedented profits from global commerce and investment, so too did the standard of living of all Americans rise between 1980s and 2008. […] By measures of access of the poor and middle class to electronic goods, cars, or square footage of living space, the U.S. far exceeds the European mean. Such opportunity explains why some 10-15 million Mexican nationals, without legality, education or English, have flocked to the United States.

Genau! Sonst wäre nicht zu erklären, weshalb so viele Menschen aus anderen Staaten in die USA möchten. Diesen simplen Umstand hat Augstein übersehen. Hören wir ihn weiter:

Amerika hat sich verändert. Es hat sich vom Westen entfernt.

Hanson:

Even this simple assertion is wrong. America is drifting as never before toward Europe—the ostensible model for an Obama administration that has borrowed nearly $5 trillion in three years, federalized health care, assumed control of private companies, blocked new plant openings, is eager to increase taxation, and seeks to subordinate U.S. foreign policy to the United Nations, as we see in the case of Libya, where the Obama administration went to the Arab League, the United Nations, and its European allies, but not to the U.S. Congress for authorization.

Augstein:

In dem Maße, in dem sich Amerika uns entfremdet, werden wir lernen (müssen), als Europäer zu denken. Der Westen, das sind wir.

Hanson:

Mr. Augstein should be thinking not of ridding America from the West, but whether the West will still include a united Europe, which is proving as undemocratic as it is unable to continue the basic premises of the welfare state. […] The desire for “distance” unfortunately is not just confined to European elites like Mr. Augstein himself, but is voiced more often by a far greater numbers of Americans, who cannot quite fathom the premises of postmodern Europe, much less why in tough financial times we should be subsidizing the security of a system that won’t pay for what it thinks it requires for its own protection […].  If the French and British military record in Libya or the German-Greek negotiations are a blueprint for a new definition of European singularity, then God help our trans-Atlantic cousins, since America will soon no longer be willing or able to.

Amen.