Helmut Schoeck: Sinnvernichtung

Helmut Schoeck: Sinnvernichtung

Evolution hat keinen guten Ruf. Sie wird oft als etwas aufgefaßt, das allem Menschlichen fremd, gar entgegengesetzt sei; als ein entmenschtes Gegen-Evangelium. Dieser Eindruck läßt sich mildern, indem man sich um ein umfassenderes Bild der Sachlage bemüht. Und erkennt, daß der Mensch nicht nur „Glied“[1], sondern auch „Steuernder“[2] der Evolution ist – durch seine Kreativität. Wir sollten uns deshalb verdeutlichen, „daß wir es sind, die in all den Bereichen von der Religionssoziologie bis zur Technikentwicklung das jeweils Neue hervorbringen“.[3] Und zwar auf vielfältige Weise; „in der Möglichkeit zur Zuchtwahl wie zur Genmanipulation, im Entwerfen und Verwirklichen sozialer Systeme, im Konzipieren wissenschaftlicher Theorien und im Realisieren technologischer Artefakte zur Befriedigung […] menschlicher Bedürfnisse.“[4]

Wie sehr der Mensch die Evolution beeinflußt, macht ein näherer Blick auf deren „Mechanismen“ deutlich; – auf jene Mechanismen, die Evolution ermöglichen und vorantreiben. Charles S. Peirce unterscheidet drei solche Mechanismen:

(i)    Die Evolution per Zufallsvariation („tychastische Evolution“[5]), auf der der Darwinismus gründet.[6] Sie wird durch Zufälle wie denjenigen ermöglicht, daß gerade jener Paul gerade jene Paula in gerade jener Stadt traf, sich verliebte und schließlich ein Töchterchen namens Paulette zeugte. Paulette verdankt die Zusammensetzung ihrer Gene dem Zufall.

(ii)    Die „Evolution durch mechanische Notwendigkeit“[7] („anankastische Evolution“[8]). Mechanische Notwendigkeit wirkt, „[w]enn ein Ei dazu bestimmt ist, eine gewisse Reihe von embryonalen Transformationen durchzumachen, von der es ganz gewiß nicht abweicht“.[9] Jedenfalls, sofern nichts Äußeres dazwischen kommt. (Was hinwiederum einen Effekt tychastischer Evolution bilden würde – „das Sichkreuzen zweier unabhängiger Kausalreihen“.[11])

(iii)    Die „Evolution durch schöpferische Liebe“[12] („evolution by creative love“[13]; „agapastische Evolution“[14]). Dieser Mechanismus wird gern übersehen. Das ist bedauerlich. Denn ohne ihn erweist es sich als schlichtweg unmöglich, das Entstehen all der Ideen für Handwerkszeuge und technische Geräte, der wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Theorien, der Kunstwerke und der Meisterwerke der Architektur zu erklären. Schließlich gedeihen all diese Pläne und Dinge nur dann, wenn ein Mensch Arbeit und Mühe – „Gehirnschmalz“ – investiert, lange darüber nachdenkt, was er verbessern, was er noch besser gestalten könnte; mit einem Worte, ihnen Zuwendung schenkt. Man sorgt (wie bei Pflanzen[15]) durch Zuwendung dafür, daß seine Pläne gedeihen; durch schöpferische Liebe. Sonst gedeihen sie nicht.

Wir erkennen: Ein umfassendes Bild der Mechanismen, die Evolution ermöglichen, verändert unseren Eindruck vom Ort des Menschen in der Evolution, und dies in entscheidender Weise! Zwar bleiben wir Geschöpfe der Evolution, deren Launen – man denke an die Sonne – ausgeliefert. Doch sind wir auch – zu Teilen – deren Gestalter; wir beeinflussen die Evolution. Durch unsere Kreativität. Durch unsere Kulturleistungen. So weicht der Eindruck bloßen Ausgeliefert-Seins dem einer gewaltigen Abenteuer-Fahrt.[17]

Deshalb liegt es in unserem Interesse, ein umfassendes Bild der Mechanismen zu erwerben, die Evolution ermöglichen. Bevor wir – grundlos – verzagen. Und darob dem wissenschaftlichen Denken untreu werden.

Übersehene Liebe, wucherndes Unglück

Natürlich sind die drei von Peirce unterschiedenen Evolutionsmechanismen irreduzibel; wir müssen uns aller drei bedienen, wenn wir beschreiben wollen, wie wir zu denen geworden, die wir sind. Ohne Mechanismus (iii) etwa – die Evolution durch schöpferische Liebe – bliebe jedweder (im weitesten Sinne) kulturelle Fortschritt unerklärlich; denn ohne unseren Einfallsreichtum – der übrigens stets der Einfallsreichtum Einzelner ist – würden wir alle immer noch in Höhlen hausen. Trotzdem wird Mechanismus (iii) oft übersehen oder sogar mutwillig hinwegerklärt, das heißt auf einen der anderen Mechanismen zu reduzieren versucht, die Evolution ermöglichen. Im Widerspruch zu dem, was die Maßgabe der Umfassendheit fordert.

Jede Torheit hat ihren Preis; auch ein solcher Reduktionismus in der Evolutionsphilosophie. Wer Mechanismus (iii) übersieht oder forterklärt, muß sich nicht wundern, wenn er den Eindruck einer unfreundlichen, ja unmenschlichen Welt schafft. Einer Welt, in der Zufall – Mechanismus (i) –  und Naturnotwendigkeit – Mechanismus (ii) – herrschen, doch der einzelne Mensch nichts ausrichten kann. Man wird es nicht für übertrieben halten, wenn ich diesen Eindruck als künstlich niederdrückend beschreibe; als geeignet, Resignation und Depression auch dort hervorzurufen, wo wenig Anlaß besteht. Es liegt daher in unserem Interesse, uns auf keinerlei Reduktionismus einzulassen! Und – als Akt der Nächstenliebe – den Reduktionismus in der Evolutionsphilosophie zu bekämpfen.

Eine Welt, in der der Einzelne nichts ausrichten kann, beschreiben viele deutsche Schulbücher aus den 1970er Jahren – in „kritischer“ Absicht. Sie erweisen sich damit als in genau der Weise künstlich niederdrückend, die soeben beschrieben wurde. Schoeck macht deren ganze Perfidie deutlich:

Anschauungsbeispiele für etwas Schönes, Gelungenes, für das Kunstwerk, das in seiner Abgrenzbarkeit von der Umgebung, in seiner geglückten Ganzheit ein Erlebnis, wenigstens eine Ahnung von Sinn vermitteln könnte, werden aus der Schule verbannt. Erzählungen und Abbildungen geglückter Unternehmungen (das Betreten des Mondes ebenso wie Lindberghs Alleinflug über den Atlantik, ein Gedicht oder Gemälde) werden in vielen Fällen nur noch ins Schulbuch aufgenommen, wenn sie mit Bildern oder Texten eingerahmt sind, aus denen menschliches Versagen zu sprechen scheint. Das linke Lernziel heißt: schon das elfjährige Kind soll spüren, dein Leben in dieser Gesellschaft, in dieser Zeit ist sinnlos, ist überflüssig. Wie ein riesiger Staubsauger, der […] mit Dutzenden von Schläuchen aus der Seele des Kindes jeden Winkel absaugt, in dem noch ein Rest von Sinn verborgen sein könnte, sind die linken Lernziele […] ein wohlüberlegtes Instrument zur Abtötung jedes Erlebnisses von Sinn.

Welche enorme Gefahr für die seelische Gesundheit dies mit sich bringt, kann man z.B. den Ausführungen des Psychotherapeuten Professor Viktor E. Frankl, „Der Mensch auf der Suche nach Sinn“ […], entnehmen. Er sieht seit mehreren Jahren auf die Jugend eine ganz neue Art von Neurose zukommen. Diese hat mit den herkömmlichen Konflikten und Komplexen […] wenig zu tun. Es handelt sich nach seinen Beobachtungen bei jungen Menschen in zahlreichen westlichen Ländern um Gewissenskonflikte und eine „existentielle Frustration […], um ein Gefühl der Sinnlosigkeit der eigenen Existenz; das eigene Dasein habe keinen Sinn. Es läßt sich vorstellen, wie diese für unsere Zeit ohnehin typische Ursache seelischer Erkrankung in der Schule als „Lernziel“ bei Kindern wirkt.[19]

Natürlich scheint dem eigenen Dasein der Sinn zu mangeln, wenn man eingetrichtert bekommt, daß der Einzelne weder etwas gestalten, noch ausrichten könne! Wer jungen Menschen Mechanismus (iii) – die Evolution durch schöpferische Liebe, Einsatz und Gehirnschmalz des Einzelnen – vorenthält oder durch Gewissenskonflikte verstellt, für die es keinen sachlichen Anlaß gibt, handelt verantwortungslos. Ob als Schulbuchredakteur, Lehrer oder Dozent.

Anmerkungen
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Ralf Dahrendorf: Liberalismus ohne Liberalismus

Zbliżenia interkulturowe 3, 2008, S. 169-171

Ralf Dahrendorf, Versuchungen der Unfreiheit. Die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung, München 2006: C.H. Beck, 239 Seiten.

Ralf Dahrendorfs Versuchungen der Unfreiheit unternehmen „eine Erkundungsreise zu den Quellen des liberalen Geistes” (S. 9). Das Interesse des Autors gilt einer besonderen „Art” (ebd.) unter den Intellektuellen, die – da es sich um Exponenten des auf dem europäischen Kontinent nur allzuoft mißverstandenen oder gar verleumdeten liberalen Denkens handelt[1] – „nicht jedermanns Helden” (S. 10) sind, z.B. Karl Popper und Isaiah Berlin. Sir Ralf fragt darnach, „wie diese bedeutenden Gestalten den Versuchungen der Unfreiheit widerstanden haben. Was war die Quelle ihrer Kraft, als die Umstände, in denen sie lebten, die Sonne der Freiheit verfinsterten?” (S. 9) – eine faszinierende und außerhalb des im engeren Sinne Wissenschaftlichen mehr als wichtige Fragestellung. Denn es werden sehr oft wenig verantwortungsvolle, wenig redliche Denker[2] als Vorzeige-Intellektuelle gefeiert. Max Horkheimer und sein im Wesentlichen auf Unkenntnis basierender Angriff auf die Philosophie des amerikanischen Pragmatismus bildet dafür nur ein Beispiel.[3]

Dahrendorf interessieren die Menschen „hinter” den Intellektuellen; er versucht zu formulieren, was den Menschen Popper, den Menschen Berlin gegen die Sinn-Angebote der beiden Totalitarismen des zwanzigsten Jahrhunderts – „Gemeinschaft, ein Führer und verklärende Romantik der Sprache einerseits, die Partei, die Hoffnung auf das Paradies auf Erden und die Aura des Religiösen andererseits” (S. 39) – gewappnet habe. Dies verleiht dem Buch einen eigentümlichen Reiz; dem Autor gelingt es, die Dilemmata der Zeit einzufangen, angereichert durch eine Fülle teils anrührender Details aus dem Leben der Protagonisten, deren Selbstreflexion. Äußerungen von Denkern, die erkennen mußten, daß sie der totalitären Versuchung erlegen waren, verleihen dem Buch menschliche Tiefe (vgl. S. 34ff.). Exemplarisch Ignazio Silone, wie von Dahrendorf gegeben: „»Etwas davon bleibt und hinterlässt seine Zeichen auf dem Charakter, die man sein ganzes Leben mit sich herumträgt. Es fällt auf, wie leicht erkennbar die Ex-Kommunisten sind. Sie bilden eine Kategorie für sich, wie ehemalige Priester und frühere aktive Offiziere.«” (S. 38)

Gleichwohl ruft das Werk einen zwiespältigen Eindruck hervor. Dies dürfte dem Umstand geschuldet sein, daß der Autor den Begriff „liberaler Geist” in einer Weite faßt, die von Verwässerung zu sprechen erlaubt. Zwar führt Sir Ralf – auf wenigen Seiten wunderbar anschaulich (vgl. S. 62ff) – den Nachweis, daß liberales Denken nur dort gedeihe, wo man Uneinigkeit nicht lediglich erträgt, sondern erkennt, wie wertvoll sie für alle Weiterentwicklung sei. Doch aus diesem Nachweis erwachsen keine – oder nur äußerst zaghafte (vgl. S. 65) – Konsequenzen in Sachen Wirtschaftsverfassung. Hält Dahrendorf „die Wirtschaftsfreiheit nicht für ein wesentliches Merkmal der freien Welt und die wirtschaftliche Unfreiheit nicht für ein wesentliches Merkmal der unfreien Welt”[4]? Hier muß – unter Berufung auf die Autorität Wilhelm Röpkes – vor dem „schweren und sogar verhängnisvollen” Irrtum gewarnt werden, „daß die Organisation der Wirtschaft […] den Philosophen nicht berühre, der im geistig-politischen Bereich liberal, im wirtschaftlichen jedoch ein Kollektivist sein könne”.[5] Was soll ein Liberalismus ohne Liberalismus?

Verwunderung erweckt ferner, daß ein Denker vom Format Dahrendorfs sich dazu hergibt, Ernst Jünger – gegen den gewiß viel eingewendet werden kann – in weitgehend polemischer Manier abzufertigen (vgl. S. 120f.); dabei wird Jüngers Auf den Marmorklippen fehlerhaft nacherzählt.[6] Auf diesen Lapsus jedoch folgt wie Sonnenschein auf Regen ein äußerst wertvoller Vergleich Jüngers mit Theodor W. Adorno, dessen „reines Schauen aus dem Glaskäfig der ästhetischen Verfremdung […] in manchem dem von Jünger eng verwandt” (S. 123) sei. „»Ein bisschen leichtfertiger Höllenspass und ebenso leichtfertiges Revoluzzergeschwätz, wenn auch immer in feinen Worten«, […] (um […] [Dolf] Sternberger zu zitieren). Insofern war Adorno, wie Jünger, ein sehr deutscher Intellektueller.” (S. 125) Ein derartiger Hinweis gibt zu denken; Dahrendorf hat hier ein ernstes Defizit (nicht nur) der deutschen Nationalkultur getroffen, über das man sich Rechenschaft ablegen sollte.

So ist es der Widerwille gegen den moralischen Maximalismus und Manichäismus, auf den Sir Ralf abzielt, wenn er den liberalen Denker zu beschreiben versucht. (In dieser gestalterischen Entscheidung liegt vermutlich die Ferne des Werkes zur Wirtschaftsverfassung begründet, der Liberalismus ohne Liberalismus.) Dahrendorf sieht solche Skepsis in Erasmus von Rotterdam verkörpert, dessen Distanz zu Luthers Eiferertum er hervorhebt (vgl. S.81ff.). Auch dies eine wichtige Lektion! Denn nur allzuoft wird in unserer Zeit derjenige, der nicht eifert, für schwächlich oder prinzipienlos gehalten. Zeigen wir uns damit zivilisierter, gebildeter, weiser – oder auch nur klüger – als Erasmus?

Dahrendorf liest uns also die Leviten. Er tut wohl daran, denn wir haben es nötig. Leider jedoch beeinträchtigt er deren Wirkung durch eine Ungleichbehandlung Jüngers und Adornos: Daß der Verfasser der Marmorklippen bei Sir Ralf keine Gnade findet, wirkt nachvollziehbar. Daß aber Adorno sich gegen Ende des Werkes in ein- und derselben Denker-Kohorte mit Popper und Berlin wiederfindet, bleibt trotz aller Bitten um „Nachsicht und Ironie” (S. 220) unverständlich – nach alledem, was Dahrendorf über (oder: gegen) Adorno festgestellt hatte[7], und noch vor alledem, was Popper über seinen neuen, derart ihm zugedachten Mitgenossen Adorno zu bemerken unabdingbar gefunden hätte.[8] Spätestens hier verliert sich die Entdeckungsreise zu den Quellen des liberalen Geistes im Gestrüpp der Beliebigkeit. So viele bemerkenswerte Portraits, Deutungen und Einsichten – darunter ein melancholisches, von großer Zuneigung gezeichnetes Portrait Englands (vgl. S. 157ff.) – auf dem Wege gesammelt wurden.

Anmerkungen
Samuel Adams: Maxime
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Samuel Adams: Maxime

If ye love wealth better than liberty, the tranquillity of servitude than the animating contest of freedom–go from us in peace. We ask not your counsels or arms. Crouch down and lick the hands which feed you. May your chains sit lightly upon you, and may posterity forget that ye were our countrymen!

Samuel Adams am ersten August im Jahre des Herrn 1776