Was erlauben Schulz?

Martin Schulz, Präsident des Parlaments der Europäischen Union und nach SPD-Verlautbarung „einer der prononciertesten, der leidenschaftlichsten und wortmächtigsten Anwälte und Akteure Europas“ – womit natürlich das „offizielle“ Europa gemeint ist – hat eine Rede programmatischen Charakters gehalten. Schauen wir, was er sagt:

Noch nie stand Europa vor so großen Herausforderungen wie heute: Die Wirtschafts- und Schuldenkrise dauert an. Armut und Arbeitslosigkeit wachsen. Die Menschen zweifeln zusehends an der Fähigkeit der Demokratie, drängende Probleme zu lösen, so z.B. den entfesselten Finanzmärkten einen Riegel vorzuschieben.

Was die Herausforderungen angeht, vor allem die Schulden, hat Schulz recht. Verwunderung allerdings erweckt der Passus von der Demokratie und den entfesselten Finanzmärkten. Als würden wir nicht in einem „Dreiviertel-Sozialismus“ leben, wie Roland Baader die Sachlage zusammenfaßt:

Große Sektoren der Volkswirtschaft wie beispielsweise das Gesundheitswesen, das Bildungswesen und das Rentenwesen sind weit überwiegend staatlich. Die Staaatsquote – also der Anteil der staatlichen Ausgaben an der gesamten volkswirtschaftlichen Leistung – liegt bei 50 Prozent. Das bedeutet, dass die Hälfte des Sozialprodukts durch staatliche Hände fließt.  […] Wir sehen derzeit keine Krise des Kapitalismus, sondern eine Krise des Sozialismus – wie überall und immer, wo der Sozialismus eingeführt wurde.

Dieser Verwechslung wegen zeigt sich Schulz außerstande zu begreifen, weshalb Europa „ökonomisch weniger bedeutend“ wird.

Er redet von „einem verschärften interkontinentalen Wettbewerb“, wo das eigentliche Problem darin besteht, daß Europas Eliten beschlossen haben, an diesem Wettbewerb nicht mehr ernsthaft teilnehmen zu wollen. Deshalb auch nennt Schulz die Schwierigkeiten, vor denen die Alte Welt steht, „Paradoxien“. Paradox daran ist gar nichts; nur der Blick eines eingefleischten Etatisten läßt es so erscheinen.

Aber zurück zu Schulz‘ Diagnose – und den diesmal nicht „entfesselten“, sondern „übermächtigen“ Finanzmärkten:

Gleichzeitig gilt in Zeiten einer interdependenten Welt, in Zeiten übermächtiger globaler Finanzmärkte aber auch: Mehr Demokratie geht nur mit mehr Europa! Wir wollen schließlich keine marktkonforme Demokratie – Wir wollen einen demokratiekonformen Markt. Zurückgewinnen kann die Politik diese – auf der nationalen Ebene längst verlorene – Handlungsmacht nur durch die Bündelung von Souveränität auf der europäischen Ebene. Souveränität, die Nationalstaaten auf die EU übertragen, ist eben nicht – wie uns Euroskeptiker weismachen wollen – verlorene Souveränität sondern zurück gewonnene Gestaltungsmacht.

Das ist amüsant. Wenn ich den Redner recht verstehe, sollen also diejenigen, die gegen Sturm und Strömung in ihren kleineren Fahrzeugen unterliegen würden, in ein größeres Schiff umsteigen, wo sie zwar nicht mehr den Kurs bestimmen, wohl aber hoffen dürfen, das Unwetter zu überleben. Die Souveränitat ist flöten. Und die Gestaltungsmacht, die, nun ja… – Fragen Sie nach, ob die Brücke des Mutterschiffs Auskunft erteilt. Soviel zum Thema „Mehr Demokratie geht nur mit Europa!“

Der dieser Passage unterliegende Begriff von „positiver Freiheit“ – die „Gestaltungsmacht“ – ist geeignet, im Namen von „Demokratie“ jeglichen Eingriff in das Leben der Bürger zu legitimieren. Statt mit derlei Hegelianismen um sich zu werfen, würde es Schulz und den meisten anderen kontinentaleuropäischen Politikern wohl anstehen, sich in Bescheidenheit zu üben – und jene Gestaltungsmacht denjenigen zurückzugeben, denen sie zukommt. Sollen die Bürger Europas entscheiden, ob sie traditionelle Glühlampen gebrauchen, ihre Häuser dämmen oder nicht dämmen wollen! Oder ob sie, wenn sie ein Gasthaus führen, rauchende Gäste willkommen heißen möchten. Hier verläuft die Front, an der um Gestaltungsmacht gerungen werden muß. Das Zauberwort heißt „negative Freiheit“, die Freiheit des Bürgers vom Staat – und Leuten wie Schulz.  (Dem Hinweis auf den vermeintlich „bloß negativen Charakter“ der „negativen Freiheit“ wäre zu entgegnen, daß solche Essentialismen recht oft in Teufels Küche, niemals aber zu einer vernünftigen Erfassung der Sachlage führen.)

Bestürzend wirkt Schulz‘ Aussage „Wir wollen keine marktkonforme Demokratie – Wir wollen einen demokratiekonformen Markt.“ Ins Maritime gewendet, hieße das: „Wir wollen kein seetüchtiges Schiff. – Wir wollen ein schiffstüchtiges Meer.“ Na dann, gute Reise!

*

Nach dem Spiel ist vor dem Spiel (Sepp Herberger). Und so gilt für den Präsidenten des EU-Parlaments:

Nach der Krise, ist vor der Krise. Drei Jahre nachdem Spekulanten die Welt in die schlimmste Finanzkrise seit 80 Jahren stürzten, wird schon wieder munter gezockt. Die Banker sind nicht nur zum „business as usual“ sondern auch zum „profit as usual“ zurückgekehrt. Hohe Gehälter und Bonus-Zahlungen winken und verleiten viele Finanzjongleure wieder zu hochriskanten Deals. Erst in den letzten Tagen versuchten Hedge-Fonds mit Kreditausfallversicherungen Milliarden durch die Spekulation gegen den Verbleib Griechenlands in der Euro-Zone einzustreichen.

Die „entfesselten“ und „übermächtigen Finanzmärkte“ treten nun in Fleisch und Blut vor uns: „Spekulanten“. Was soll man dazu sagen? Zunächst sollte man sich jeglicher Dämonisierung (oder Ver-Heuschreckung) enthalten. Baader folgend, entspringen die hier von Schulz beklagten Probleme unseren „Papierwährungen“:

Alle Bürger wollen mehr Sozialleistungen oder Subventionen. Die Parteien treten in einen Wettstreit um die höchsten Staatsausgaben zum Zweck des Wählerfangs. Brot und Spiele, ein uralter Trick. Das geht mit echtem Geld nicht. Also führt man das beliebig vermehrbare Papiergeld ohne Deckung ein. Geldvermehrung aber bedeutet Inflation und Verschuldung.

Selbst wenn vielleicht nicht alle Bürger, sondern „nur“ drei Viertel der Bevölkerung mehr und mehr Sozialleistungen und/oder Subventionen wollen, legt Baader den Finger auf eine ernste und, womöglich, tödliche Wunde: So sterben demokratisch verfaßte Gesellschaften. (Dieses Problem hat die „Tea Party“ in den Vereinigten Staaten von Amerika entstehen lassen – Stichwort: Fiscal Security. Rassismus spielt dabei ganz sicher keine Rolle, zumal auch farbige Bürger der USA an der „Tea Party“ mitwirken.)

Eine Nebenwirkung des Papier- oder Falschgeldes (fiat money) besteht in bestimmten, wenig erfreulichen Auswüchsen auf den Finanzmärkten:

Nur mit dem Falschgeld aus ungedecktem Papier können die Billionen-Unsummen entstehen, die dann den Finanzsektor aufblähen und Tausende von Geldmanagern schaffen, die sich selbst bereichern. Die Banker sind nicht von Natur aus Verbrecher,

 – schlimm genug, daß Baader das festhalten muß; dies zur oben vermuteten Dämonisierung –

sondern werden durch Billionen-Ströme des papiernen Falschgeldes erst zu Giga-Abzockern. Staat und Finanzindustrie bilden einen verhängnisvollen Filz, der in Zusammenbruch und Diktatur endet.

A propos Filz: Wie schaut Schulz’ Lösungsvorschlag für die Probleme im Süden der Euro-Zone aus?

[S]o unumgänglich die Reduzierung der Staatsdefizite ist – das ist eine Frage der Generationen-Gerechtigkeit, dass wir unseren Kindern nicht nur den Hypothekenkredit anstatt das dazugehörige Haus vererben – so ehrlich muss man auch sein, einzusehen, dass wir mit diesen Kürzungsorgien kein Wachstum schaffen.

Kürzungs“orgie“ ist gut, wirklich gut. Wie dergleichen Kürzungs“orgien“ tatsächlich aussehen, präsentiert dieses Video. Doch hören wir, was der Präsident des EU-Parlaments weiter zu sagen hat:

Ohne Wachstum werden aber die Länder, die in einer Schuldenkrise stecken, ihre Schulden kaum bedienen können. Deshalb muss jetzt nach dem ersten Schritt, der Sparpolitik, ein zweiter folgen: die Wachstumspolitik. Wir brauchen ein Aufbauprogramm für Südeuropa, aus europäischen Mittel[n], die schon längst beschlossen sind. Eine Art Marshall-Plan, der beim Ausbau von z.B. erneuerbaren Energien hilft, durch die die klimatisch geeigneten Südländer eine ökonomische Perspektive und die EU insgesamt mehr Unabhängigkeit vom teuren Öl und Gas bekommen. Für dieses Wachstumspaket streite ich auch, weil hierdurch die Wahrscheinlichkeit erhöht wird, dass sich die „Schuldenländer“ wieder selbst aus dem Sumpf ziehen können, weil sie nachhaltiges Wachstum erzeugen, von dem ganz Europa profitiert.

Die Antwort auf ein Problem, das der ins Uferlose gewucherte Staat hervorzurufen mehr als nur geholfen hat, lautet – natürlich – „mehr Staat!“ Ein Wachstumsprogramm, das – wiederum – die Gestaltungsmacht nicht bei den Bürgern jener Länder beläßt, sondern für sie entscheidet: erneuerbare Energien sollten’s schon sein. Ob es sich rechnet, oder nicht. Schließlich wollen wir ja den demokratiekonformen Markt, nicht die marktkonforme Demokratie.

Was daraus Besseres entstehen könne, als neuer Filz, bleibt schleierhaft. Unverständlich auch, wie Schulz in ebendiesem Absatz davon sprechen kann, die Installation von Geldverbrennungsanlagen (Windkraftwerken, Solaranlagen etc.) helfe den verschuldeten Ländern am Mittelmeer.

*

Habe ich etwas vergessen? Schulz nutzt die Gelegenheit, die Einführung einer neuen Steuer zu empfehlen, der Finanztransaktionssteuer nämlich. Das ist recht eigentlich selbstverständlich und bedarf darum kaum der Erwähnung.

Außerdem stößt er in dasselbe Horn, in das auch Elmar Brok gestoßen hat. Auch Schulz möchte die Alte Welt

unabhängiger machen von den US-amerikanischen Rating-Agenturen, die nicht zögern, europäische Länder, hinter denen die gesamte EU steht, auf Ramschniveau eines Entwicklungslandes zu setzen.

Das heißt, auch der amtierende Präsident des EU-Parlaments glaubt, durch die Berufung anderer Meteorologen das Wetter ändern zu können. Über diese Phantasie hat Daniel Hannan bereits alles Nötige bemerkt. Doch mag es lohnen, Godfrey Blooms Ansichten über die Hellsichtigkeit und Schärfe der von Schulz und Brok gefürchteten Institutionen zur Kenntnis zu nehmen.

So bleiben schlußendlich Fragen des Stils. Wie bekannt, hat Schulz Jerzy Buzek als Präsidenten des EU-Parlaments abgelöst. Über dessen Geldstrafe für Nigel Farage läßt sich streiten. Doch ist Buzek immerhin ein höflicher und eleganter Mann…

***

Die Worte Roland Baaders stammen aus dessen letztem Interview. Es findet sich in der Zeitschrift eigentümlich frei, Ausgabe März 2012. Wenn Sie sich wundern, was es mit der „Ver-Heuschreckung“ auf sich hat, bitte ich Sie, auf den Link zu klicken. Wenn Sie dort gelandet sind und herunterscrollen, erblicken Sie in der rechten Spalte das betreffende Titelbild der Zeitschrift metall. KarasekUS bietet Reden der Herren Bloom, Farage und Hannan mit polnischen Untertiteln an.

Christian Graf von Krockow: Drei Blicke auf Preußen

Christian Graf von Krockow: Drei Blicke auf Preußen

„Die Deutschen in ihrem Jahrhundert 1890-1990“ ist ein bemerkenswertes Buch. Es bietet eine Fülle nachdenklicher Passagen, die selbst dort, wo man seinem Verfasser Graf von Krockow nicht zustimmen möchte, bedenkenswert sind. Zumal auch der Ton des Werks angenehm wirkt; man hat den Eindruck, einem gelehrten und kultivierten Manne zu lauschen, wie dieser seine Gedanken entwickelt.

Es folgen drei Passagen aus dem Werk des Grafen, die von Preußen handeln. Deren erste weist darauf hin, was Preußen nicht ist:

Hitler behauptet, daß er die preußische Armee zum Vorbild nimmt. Dort aber gab es den absoluten und blinden Gehorsam der Befehlsempfänger gerade nicht. Es galt vielmehr die Eigenverantwortlichkeit in der Ausführung – wie die Anekdote aus der Schlacht bei Königgrätz anschaulich macht: Ein Major hat etwas Unsinniges getan und beruft sich auf den Befehl, der ihm erteilt wurde. Doch er bekommt zu hören: „Herr, dazu hat Sie der König von Preußen zum Stabsoffizier gemacht, daß Sie wissen, wann Sie einen Befehl nicht ausführen dürfen!“

Die zweite Passage reicht tief in die Ethik und Geschichtsphilosophie; sie fragt nach dem summum bonum „des“ Preußen – und sucht den Kontrast in der Neuen Welt:

…kommt es auf den Idealismus des Selbstopfers im Dienst für das Höhere und Höchste an, sei dies der Staat, das Volk, die Gemeinschaft oder was auch immer. Nicht das Lebensglück zählt, sondern die Pflichterfüllung. Auch dafür hat der Soldatenkönig das Muster geschaffen; in seinem Zeichen steht der Kampf mit dem Thronerben – und der Sieg des Vaters über den Sohn. Was wiegt dagegen der persönliche Preis, den Friedrich zahlen muß, die unerbittlich wachsende Einsamkeit, am Ende die Menschenverachtung, der bloß noch Hunde als Gefährten bleiben?

Unsere Kathedrale der Pflichterfüllung, über einer Schädelstätte des Glücks aufgetürmt: Es ist des Nachdenkens wert, daß noch zu Lebzeiten des großen Königs, 1776, fern im Westen der Gegenentwurf seine Gestalt finden wird, der dazu bestimmt ist, Epoche zu machen: „pursuit of happiness“, das Streben nach Glück als ein dem Menschen eingeborenes und unveräußerliches Recht.

Ernst Jünger allerdings hat wiederum dazu die Gegenparole gefunden: „Jede Haltung“, sagt er 1932, „der ein wirkliches Verhältnis zur Macht gegeben ist, läßt sich auch daran erkennen, daß sie den Menschen nicht als Ziel, sondern als Mittel… begreift. Der Mensch entfaltet seine höchste Kraft, entfaltet Herrschaft überall dort, wo er im Dienste steht. Es ist das Geheimnis der echten Befehlssprache, daß sie nicht Versprechungen macht, sondern Forderungen stellt. Das tiefste Glück des Menschen besteht darin, daß er geopfert wird, und die höchste Befehlskunst darin, Ziele zu zeigen, die des Opfers würdig sind.“ Das erwies sich keineswegs als Wahn, sondern als eine deutsche Wahrheit – oder wenn es denn Wahn war, als der schreckensvoll wirksame.“

Die dritte und letzte Passage schließlich beleuchtet anläßlich der de-facto-Vernichtung Preußens den deutschen Regionalismus, eine – wie bei dieser Gelegenheit zu bemerken sowohl sinnvoll, als auch verzeihlich sein mag – aus polnischer Perspektive oftmals unterschätzte Größe in der deutschen Geschichte:

Der Verfasser ist zufällig Zeuge eines Festakts zur Gründung der „Niedersächsischen Landespartei“ im Jahre 1946 gewesen. Damals stellte der Hauptredner – später Bundesminister, dann Ministerpräsident von Niedersachsen – die geschichtliche Stunde unter das Motto: „Der Erbfeind (Preußen) liegt zerschmettert am Boden, die achtzigjährige Schmach von Langensalza (Kapitulation der hannoverschen Armee vor der preußischen) [oben] ist gelöscht und die gelbweiße Fahne wieder am Mast!“

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Christian Graf von Krockow, „Die Deutschen in ihrem Jahrhundert 1890-1990“, rev. und erw. Ausgabe, Reinbek bei Hamburg 1990, Seiten 162-163, 413 und 442.

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Ideologiekritik an Brecht

Interview anläßlich der Veröffentlichung von „Stadt ohne Vernunft. Über die ideologischen Voraussetzungen des Theaterstücks ‚Der gute Mensch von Sezuan‘ von Bertolt Brecht“, zuerst erschienen in: Die Freie Welt.

FreieWelt.net: Sie haben eine Ideologiekritik aus liberaler Perspektive über das Stück der „Der gute Mensch von Sezuan“ von Bertolt Brecht verfasst. Warum gerade dieser Autor?

Karsten Dahlmanns: Der „Deutsche Bildungsserver“, ein Projekt von Bund und Ländern, bietet auf seiner Seite zum Fach Deutsch an prominenter Stelle Dossiers zu acht Schriftstellern und/oder Dichtern. Goethe fehlt, Brecht ist dabei. (Stand 24.03.2011)

Brecht zählt zu den Autoren, die an unseren Schulen gelesen werden. Damit entfaltet sein Werk eine größere Wirkung, als sie dem Schaffen eines Schriftsteller und/oder Dichters zukommt, der zwar geschätzt wird, aber im Regal bleibt. Im Falle des Ideologen Brecht bedeutet dies: Er kann mehr Übel anrichten.

FreieWelt.net: Und warum gerade dieses Stück?

Karsten Dahlmanns: Das Stück „Der Gute Mensch von Sezuan“ gefällt mir. Wie es geschrieben ist, beeindruckt mich. Deshalb habe ich es ausgewählt.

FreieWelt.net: Welche Kritikpunkte haben Sie an diesem Stück gefunden?

Karsten Dahlmanns: Das Stück arbeitet mit „Leerstellen“; es bezieht seine Suggestivkraft daraus, daß es gangbare Lösungen verschweigt. Das ist natürlich im Interesse des Marxisten Brecht, der seine Zuschauer von der Notwendigkeit einer Revolution überzeugen möchte.

Aus liberaler Sicht wirkt bemerkenswert, daß man alle diese „Leerstellen“ auffüllen kann: Nicht der böse, böse Kapitalismus schafft das Elend in Sezuan, sondern einzelne Fehlentscheidungen der jeweiligen Figuren. David S. Landes und Theodore Dalrymple würden in diesem Zusammenhang auf die Rolle der Kultur hinweisen – auf dasjenige, was Mephistopheles im Blick hat, wenn er sagt: „Wie sich Verdienst und Glück verketten, das fällt den Toren niemals ein“. So läßt sich schließlich zeigen, daß Sezuan mehr Kapitalismus bräuchte, um zu prosperieren.
Wenn ausgerechnet eine promarxistische Parabel dergleichen hergibt, sollte man auch die Gelegenheit nutzen, es (genüßlich) zu zeigen.

Weit ernster scheint mir, daß dem Stück eine besondere Hinterhältigkeit eignet, gegen die sich besonders Jugendliche nur schlecht zur Wehr setzen können, weil sie von den Stürmen erster Liebe hin- und hergeworfen werden. Brechts Stück handelt nämlich nicht lediglich von der Politik, sondern auch von der Liebe; der letztere Strang dient dem ersteren. Seine Schilderung der Liebe läßt sich kaum ertragen, eine solche Vergeblichkeit vermittelt sie. Die Suggestion des Proselytenmachers lautet: „Schaut her, im Kapitalismus läßt sich nicht lieben. Ihr jungen Liebenden müßt den Kapitalismus überwinden, um in Freiheit und Würde lieben zu können.“
Dieser Kniff ist nicht neu. Schon Marx hat sich seiner bedient, als er im „Kommunistischen Manifest“ die bürgerliche Ehe desavouiert hat. Später wird Erich Fromm mit ähnlichen Argumenten arbeiten. Vor alledem hat ein verantwortlicher Lehrer seine Schüler zu schützen.

FreieWelt.net: Worin liegen die Stärken des Stückes? Ist es aus Ihrer Sicht trotzdem große Literatur oder reine Ideologie?

Karsten Dahlmanns: Die Stärken des Stückes liegen in seiner Sparsamkeit. Brecht versteht es, mit wenigen Strichen ein Bildnis zu schaffen, mit sparsamen Mitteln eine bestimmte Atmosphäre fühlbar zu machen. Trotz aller Distanz, was den Gehalt angeht, kann ich mich dieses Reizes nicht entziehen. Deshalb halte ich es für große Literatur, auch wenn mir kürzlich ein Ordinarius der Germanistik mitgeteilt hat, daß „man“ jenem Stück inzwischen andere Werke Brechts vorziehe.

FreieWelt.net: Kann man bei Brecht den Dichter überhaupt von dem Ideologen trennen? Kann man sagen, es gibt einen guten Brecht, den Künstler und einen schlechten Brecht den kommunistischen Ideologen?

Karsten Dahlmanns: Es scheint mir keineswegs geboten, eine solche Trennung vorzunehmen. Popper folgend, kann Aberglaube – z. B. Astrologie – Forschung beflügeln. In ähnlicher Weise dürfte der Dichter Brecht vom Aberglauben des Ideologen Brecht angespornt worden sein. Das hat zur Größe des Dichters beigetragen, ihn aber auch beschränkt. Soll man das tragisch nennen? Vielleicht wäre ein Brecht ohne Ideologie größer, vielleicht geringer. Das bleibt unwägbar.

FreieWelt.net: Was machte den Marxismus für so viele Autoren so attraktiv?

Karsten Dahlmanns: Es sind wahrscheinlich jene beiden Elemente des Marxismus, die Leszek Kołakowski als „romantisch“ und „prometheisch“ bezeichnet. „Romantisch“ will auf Gemeinschaft hinaus. Das heißt, der Marxismus zieht Menschen an, die mit den „unpersönlichen“, „abstrakten“ und „kalten“ Eigenarten einer liberalen Gesellschaft hadern, weil sie weder deren freiheitsverbürgende Funktion begreifen, noch erkennen, daß man nur in einer solcherart gestalteten Gesellschaft Gemeinschaft finden und, nach Änderung seiner Präferenzen, wieder verlassen kann.
Mit der Bezeichnung „prometheisch“ weist Kołakowski auf Marx Überzeugung hin, daß bei rechter Handhabung des Sozialen alle anderen Probleme verschwinden würden. Damit bildet er eine Art Selbsterlösungslehre – und zugleich, wie Karl Popper und Helmut Schoeck ergänzen würden, die beste aller denkbaren Rechtfertigungen für intellektuelle Unduldsamkeit, Machthunger und Grausamkeit.
Wir müssen damit rechnen, daß intelligente, gebildete und schöpferische Menschen für eine Lehre, die solche Züge vereint, anfällig sind. Nicht im Sinne einer billigen Entlarvung des Zuschnitts „Alle Schriftsteller (Intellektuellen usf.) sind machthungrig“, wohl aber im Sinne einer Versuchung, der sie erliegen oder widerstehen können.

FreieWelt.net: Ist es ein Problem, dass Künstler, Schriftsteller und Intellektuelle den Diskurs prägen, die eigentlich gar nichts von Wirtschaft verstehen?
Glauben Sie, dass das einen Einfluss auf die Art und Weise hat, wie wir Wirtschaft und Gesellschaft beurteilen?

Karsten Dahlmanns: Das ist natürlich ein sehr ernstes Problem. Vor einigen Jahrzehnten hat Lord Snow über „die zwei Kulturen“ der Natur- und Geisteswissenschaftler gesprochen; wir können die Ökonomie als dritte Kultur hinzunehmen. Es wäre gut, sehr gut, wenn zwischen diesen drei Kulturen mehr Austausch stattfinden würde. Das Werk Wilhelm Röpkes beweist, wie fruchtbringend die Verbindung nationalökonomischer und geisteswissenschaftlicher Betrachtung sein kann.

Sicher besteht auf der geisteswissenschaftlichen Seite eine Art Schwellenangst vor der Ökonomie. Sie läßt sich – manchmal – überwinden, indem man darauf hinweist, daß Friedrich August von Hayek nicht selten sprachkritische Argumente gebraucht: „Ein Nationalökonom in den Gefilden eines Karl Kraus? Wer hätte das gedacht!“
Eine weitere Bresche läßt sich schlagen, wenn man darauf hinweist, daß der Philosoph Max Scheler und der Nationalökonom Ludwig von Mises gute Bekannte waren, von Mises mit „The Anticapitalistic Mentality“ ein Buch geschrieben hat, das in methodischer Hinsicht Schelers Studie „Das Ressentiment im Aufbau der Moralen“ sehr ähnelt.

FreieWelt.net: Ist es eigentlich ein Naturgesetz, dass Dichter und Künstler eher links stehen? Welche Autoren stehen aus Ihrer Sicht eher für das Ideal einer freien Gesellschaft?

Karsten Dahlmanns: Ein Naturgesetz sicher nicht. Ich würde, wie oben angedeutet, von Versuchung sprechen. Daß so viele Schriftsteller, Dichter und andere Künstler ihr erliegen, liegt zum einen an der Droge selbst, zum andern an der Schwäche der Gegenkräfte. Diese Schwäche resultiert nicht zuletzt daraus, daß das verbreitete Rechts-Links-Schema politischer Ideologien und Philosophien irreführend wirkt. Es wäre besser, alle diese Theorie-Vorschläge nach der Frage anzuordnen, welches Maß an Freiheit sie gewähren. Dann würden der „linke“ Kommunismus und der „rechte“ Nationalsozialismus sich zusammen am unteren Ende der Skala befinden.

Unter den Autoren, die für das Ideal einer freien Gesellschaft werben, möchte ich den vor einigen Jahren viel zu früh verstorbenen Dietrich Schwanitz nennen. Seinem Roman „Der Campus“ eignet weit größere Tiefe, als die burleske Oberfläche vermuten läßt; er ist eine fulminante Verteidigung von Rationalität (Wissenschaft); Freiheit, bürgerlichem Leistungswillen und Anstand.

FreieWelt.net: Wenn Sie ein Fazit ziehen sollten. Wenn wir die Ideologie und die historische Bedeutung einmal beiseite lassen, was wird von Brecht bleiben?

Karsten Dahlmanns: Brecht kann schreiben. Einige seiner Gedichte, manche Passagen aus seinen Stücken bestechen durch ihre sparsame und dichte Art. An allem Anderen wird man vorbeilesen.

„Naseweise klüglinge/vnd gehessige Neidharten“

„Naseweise klüglinge/vnd gehessige Neidharten“

Es wird Zeit, wieder einmal etwas Schönes zu hören. Deshalb folgt nun die Vorrede („Author ad Isagogen“) aus Heinrich Stahls „Anführung zu der Esthnischen Sprach“, die 1637 in Reval, dem heutigen Tallinn erschienen ist.

GEhe hin/meine Anführung/in die Welt/vnd vnter die Leute/und hilff denen/so zur Esthnischen Sprache beliebung tragen/das sie zu deroselben wissenschafft gelangen/vnd ihrer gebrauchen/Gott zu Ehren/ihnen selbst zu zeitlichem vnd ewigen gedeyen/vnd vielen Menschen zu nutz vnd frommen/wie du dann vmb solcher/und keiner andern Vrsachen willen von mir abgefertiget wirst.

Ich will dir aber zuvor sagen/vnd verkündigen/wie es dir gehen werde/vnd was du wirst zu erwarten haben/auff das du dich desto besser in die Zeit schicken/darnach richten/vnd gegen männiglich der gebühr nach verhalten/vnd bezeigen möges.

Es werden dir/liebe Anführung/begegnen viele fromme hertzen/die dich mit frewden empfangen/annemen/vnd deiner gebrauchen werden: Denen selben soltu dienen/vnd so viel möglich/befürderlich sein/das sie die Esthnische Sprache fassen/vnd wesser art sie sey/erkennen/oder/da sie selbige schon zuvor wissen/das sie sich mit dir eine kleine weile belüstigen/ und ergetzen; Darnach soltu deine Großgünstige Herren auch fleissig ersuchen/das sie für lieb annemen/was ich/mit vielfältiger mühe vnd schwerer Arbeit häuffig vnd überlüssig beladen/in kurtzer Zeit/schleunigst entworffen/vnd dir mitgetheilet/vnd sich nicht wundern lassen/dafern etwas unverhoffentlich untergeschlichen/das allerdings nicht besteht/vnd sie besser verstehen […]. So aber einem oder dem andern düncket/das an dir/oder meinen andern Schriften/die außgekommen/vnd hinführo außkommen werden/etwas zu endern/zuzusetzen/außzuwerfen/vnd zuverbessern/allermassen ich selbst erkenne/das du noch vnvollkommen/vnd nur auß dem gröbesten gehawen/den oder dieselben soltu bitten/das sie mich dessen Schrifft- oder Mündtlich ohne schew erinnern/Ich erbiete mich solches danckbarlich anzunehmen/vnd guten Raht williglich zu folgen.

Neben diesen wirstu auch antreffen Naseweise klüglinge/vnd gehessige Neidharten/welche bald hie/bald dort etwas herfür suchen und außklauben/selbiges durch ihren klugen Kopff ziehen/anzischen/lästern/tadeln/vnd nach ihrer hocherhabenen Naseweißheit meistern vnnd klügeln werden/nicht das sie dazu gnugsahme vrsachen hetten/sondern die Leute sehen/hinder ihren grossen Bärten/vnnd anschlägigen Köpffen stecke auch/vnd sey vergraben/grosse/vnerforschliche/thörliche klugheit/für welcher sie bersten möchten.

Stahl fährt fort:

Denenselben soltu melden/Erstlich/das es zeit sey/von ihrer Mißgunst abzustehen/vnd GOtt keine Ehre/auch den Menschen ihr bestes zu vergönnen/massen sie mit solcher ihrer Mißgunst/da sie vngern sehen/das die Esthnische Sprache gemein wird/keinen höher/als sich selbst/beleidigen/ihr eigen Hertz quelen/vnnd doch das aller geringste an meinem führhaben nicht behindern: Darnach/das sie zum Artzten gehen/und sich curiren lassen von der gefährlichen Seuche der Faulheit/damit sie beladen sind/ehe dieselbe gar überhand nimmet/vnnd sie in derselben mit grosser schmach und schande sterben vnd vntergehen: vnnd endtlich/das sie aus der Schatzkammer ihrer Weißheit etwas bessers an den Tag bringen/so werden männiglich dessen gebrauchen/Ihnen dafür Lob und Danck sagen/vnd ihre Weißheit/wie billich/in den Himmel erheben.

Zitiert nach der zweiten Auflage des Neudrucks, Brampton/Tartu 2000.

„Starke Kräfte in den USA, insbesondere aus der Finanzwirtschaft“

„Starke Kräfte in den USA, insbesondere aus der Finanzwirtschaft“

Es gibt zwei Kategorien von Politikern – diejenigen, die Probleme benennen und angehen, und solche, die angesichts von Schwierigkeiten einen Sündenbock suchen. Der Europa-Abgeordnete Elmar Brok klärt uns auf, was von den jüngsten Abwertungen durch Rating-Agenturen zu halten sei, und erhält eine Antwort von Daniel Hannan.

Wenn Standard & Poor’s bedeutende Euro-Länder abwerte, habe dies keine sachlichen Gründe, sondern sei „interessengeleitet“. Die Rating-Agentur habe Europa einen „Währungskrieg“ erklärt, so Brok, um „angelsächsische Interessen gegen Europa durchzusetzen.“ Um wessen Interessen es sich dabei genau handle? „Starke Kräfte“ in den Vereinigten Staaten von Amerika, die vor allem in der „Finanzwirtschaft“ oder „Finanzindustrie“ zu finden seien. Man wolle den Euro zerschlagen, „um Geld daran zu verdienen“.  Außerdem gebe es unter US-Politikern solche, die ein „geteiltes, weniger einflussreiches Europa“ vorziehen würden.

Soweit das Argument von Herrn Brok. Bemerkenswert daran ist dreierlei.

Zum Einen, daß der Europa-Abgeordnete den Einfluß der Staaten, der Volkswirtschaften und der Wissenschaft Europas von der Gemeinschaftswährung Euro abhängig sieht. Das darf als drolliger Einfall gelten.

Zum Andern, daß Herr Brok der Rating-Agentur Standard & Poor’s vorwirft, ihre Dienstleistungen für Kunden aus der Privatwirtschaft zu erbringen: „Die bekommen ihr Geld von der Finanzwirtschaft. Von den Staaten bekommen sie nichts. Sie sind also von der Finanzwirtschaft abhängig.“ Soll staatliche Finanzierung hier für mehr Objektivität sorgen? Wie schon in Klima-Fragen? Der nächste drollige Einfall! Daniel Hannan kommentiert:

The President of the European Commission, José Manuel Barroso, regularly lashes out at the American agencies, and plans to create an EU one instead (as if anyone would believe a word it wrote). Earlier today, the European Commission threatened the agencies with greater regulation including censorship, prompting my colleague Ashley Fox to remark, ‚You don’t get better weather by turning down the forecast‘.

Und zum Dritten: Was „unser“ Streiter wider die perfiden Angelsachsen verkündet, ist mitnichten neu. Es läßt sich lange zurückverfolgen – bis vor den Ersten Weltkrieg. Ganz in diesem Sinne bemerkt Mr Hannan, in der Anglosphäre sei man dergleichen gewöhnt:

But what’s alarming here is not the EU’s hostility to the English-speaking peoples, nor yet its distrust of free markets: we’re used to both those things. No, what’s truly terrifying is the extent to which the Brussels elites have switched off the real world and taken to screaming at the bearers of bad news.

Was aber, wenn jener Realitätsverlust und die Feindschaft den Angelsachsen – und besonders Amerika – gegenüber zusammenhängen, und also beides gefährlich ist? Wenn, so der Historiker Dan Diner, „die Vorstellung von weltumfassender Geldherrschaft („Plutokratie“) […] einer paranoiden Ideologie, in deren Zentrum „Amerika“ steht,“ Ausdruck gibt? Mir scheint, als zeige Mr Hannan in dieser Frage ein Übermaß an Milde.

In jedem Falle ist man sich in Deutschland seit langem über den „verwerflichen“ Charakter des Kapitalismus einig, wie Professor Diner berichtet:

So sicherte sich Clara Zetkin in einer von spntanen Beifallsstürmen beleiteten Reichstagsrede am 7. März 1923 die Zustimmung von rechts, als sie in nationalbolschewistischer Erregung […] verkündete, die „Vereinigten Staaten vertreten Kapitalisten, die so scharfäugig, so rücksichtslos, so ohne alle alten Traditionen sind, dass sie die Letzten sind, die über die Zwirnfäden moralischer Bedenken stolpern werden. Nein, Industrie mit amerikanischem Kapital die deutsche Arbeiterschaft als billige Arbeitskraft in die Hand zu bekommen und auf diesem Wege Deutschland in eine Kolonie der Vereinigten Staaten zu verwandeln. (Sehr wahr! rechts). Keine Illusionen über diese Tatsache.“

Der „«antiimperialistische» Burgfrieden“ (Diner) besteht auch 2012 weiter. Der Journalist Stefan Kaiser bemerkt über die „Währungskrieg“-Tirade des Herrn Brok:

Wenn Elmar Brok und Gregor Gysi einer Meinung sind, sollte man skeptisch werden – erst Recht, wenn der CDU-Mann und der Fraktionschef der Linken fast wortgleiche Formulierungen benutzen.

Ein Trauerspiel…

***

Elmar Brok hat seine Aufassungen in einem Interview vertreten, das von Günther Lachmann geführt worden ist; es trägt den Titel „US-Kräfte haben uns den Währungskrieg erklärt“. Die Antwort von Daniel Hannan heißt „Eurocrats blame the euro crisis on Britain and America – obviously“. Die Ausführungen von Dan Diner finden sich in dessen Buch „Feindbild Amerika. Über die Beständigkeit eines Ressentiments“, 2. Auflage, München 2003, S. 70 und 78. Auf den Artikel „Der Mythos vom Währungskrieg“ von Stefan Kaiser bin ich durch einen Hinweis des American Viewer gestoßen.

Max Scheler: Philosoph und Fiktion

Max Scheler: Philosoph und Fiktion

In seiner berühmten Abhandlung über „Das Ressentiment im Aufbau der Moralen“ widmet sich Scheler einem Phänomen, das dem Neid verwandt ist und sich doch von ihm unterscheidet. Auf deutsch lasse es sich am besten durch das Wort „Groll“ bezeichnen, ein „dunkel durch die Seele wandelndes, verhaltenes und von der Aktivität des Ich unabhängiges Zürnen, das durch wiederholtes Durchleben von Haßintentionen oder anderen feindseligen Emotionen schließlich sich bildet und noch keine bestimmte feindliche Absicht enthält, wohl aber alle möglichen Absichten solcher Art in seinem Blute nährt.“[1] Seit Friedrich Nietzsche den Begriff „zu einem Terminus technicus geprägt“[2] habe, pflege man eine solche Seelenlage als Ressentiment zu bezeichnen.

Scheler fragt darnach, wie Ressentiment entstehe, und beschreibt einige seiner wichtigsten Erscheinungsformen und Folgen, „bestimmte Arten von Werttäuschungen und diesen entsprechenden Werturteilen“.[3] Wo das Ressentiment einen Menschen bestimme, vermöge er keine Urteile ethischer oder ästhetischer Art zu fällen, die auf Gültigkeit hoffen dürfen. Von seinem Groll geblendet, „schlägt sein Wertgefühl […] um“.[4] Fortan hält er Niedriges für hoch, Hohes für niedrig. Der Ressentimentmensch spricht wie John Miltons Satan: „Evil be thou my good“.[5] Doch da eine solche „Ressentimentillusion“[6] niemals vollständig ist, ahnt der in ihr Gefangene, daß er irrt – und leidet.

Worauf Scheler hinausmöchte, läßt sich in den Redeweisen der akademischen Philosophie unserer Tage in etwa so reformulieren: Wir wissen nicht – und sehen uns der epistemologisch fundamentalen Unterscheidung zwischen wertenden und beschreibenden Sätzen wegen außerstande, es zu wissen –, wie ein gültiges („richtiges“) Werturteil zu lauten hat.[7] Werturteile können allenfalls Plausibilität beanspruchen. Äußern sich Menschen, deren Denken und Fühlen vom Ressentiment bestimmt wird, zu ethischen oder ästhetischen Fragen, dürfte die Plausibilität ihrer Werturteile stets bei Null liegen. – Schelers Abhandlung über das Ressentiment reduziert sich auf ein Argument ad hominem.

Dennoch zählt Schelers Studie zu den großen Texten der Philosophie. Es sind die scharfen, wie aus dem Leben selbst geschnittenen Beobachtungen, die für sie einnehmen; – etwa über die „freie Resignation“[8] als Remedium gegen Werttäuschungen, wenn im Alter die Kräfte schwinden.[9]

Und es sind die gewaltigen Urteile der Abhandlung, welche betören. Scheler handelt mit dem Anspruch, das Ressentiment als „eine der Quellen des Umsturzes jener ewigen Ordnung im menschlichen Bewußtsein“[10] – der ewigen Ordnung der Werte nämlich –  dingfest zu gemacht zu haben. Sein Bannstrahl trifft die bürgerliche Kultur der Neuzeit einschließlich ihrer wirtschaftlichen Organisation, der Marktwirtschaft; die Wege und Weisen der Angelsachsen; schließlich den Humanismus (die „moderne Menschenliebe“); all das sei ressentimentvergiftet. Vom Ressentiment unverdorben geblieben sei hingegen der „Kern“ des Christentums, obgleich es leichter als alles andere durch den Ressentimentmenschen mißbraucht werden könne.[11] Scheler, der viel Nietzsche’sches angenommen hat, wendet sich gegen den Meister, wo es ihm  geboten scheint.

Bürgerliche Kultur hat keinen guten Stand bei Scheler. Der Philosoph lehnt die Gesellschaft seiner Zeit ab, weil ein in bestimmter Weise defizitärer „Typus“ Mensch in ihr vorherrsche. Es handelt sich um den „Gemeinen“ – in Abgrenzung zum „Vornehmen“.[12]

Scheler vertritt die Auffassung, daß der „Gemeine“ zu selbständigem Werterkennen kaum in der Lage sei. Letzterem gelangten „nur jene Wertqualitäten überhaupt zur klaren Erfassung […], die «mögliche» Differenzwerte zwischen Eigenwerten und Fremdwerten sind.“[13] In der Folge lebe der „Gemeine“ vom und für den Vergleich seiner selbst mit anderen Menschen: „Er vermag an anderen keinen Wert aufzufassen, ohne ihn zugleich als ein «Höher» und «Niedriger», als ein «Mehr» oder «Weniger» seines Eigenwertes zu nehmen, ohne also die anderen an sich und sich an den anderen zu messen.“[14]

Nun zerfällt der Scheler’sche Typus des „Gemeinen“ in zwei Untertypen. Diese muten wie die Hörner eines bösen Dilemmas an, – worin wir einen gestalterischen Impetus vermuten dürfen. Es handelt sich um (i) den Ressentimentmenschen und (ii) den Streber.

Ad (i): Mangelt dem „Gemeinen“, was der tägliche Wettstreit in einer Konkurrenzgesellschaft erfordert, sieht er sich in aussichtsloser Lage. Solche Ohnmacht kann bewirken, daß er dem Ressentiment anheimfällt,[15] wenn er nicht den Ausweg „freier Resignation“ findet.[16]

Ad (ii): Besitzt der „Gemeine“ ausreichend Willenskraft und Intellekt, sowie alle körperlichen Voraussetzungen, um in einer Konkurrenzgesellschaft mithalten zu können, tritt er als Streber auf. Scheler beschreibt ihn als einen Menschen, für den sich das Mehrsein, Mehrgelten usw. im möglichen Vergleich zu anderen als Zielinhalt seines Strebens vor irgendwelchen qualifizierten Sachwert schiebt; dem jede „Sache“ nur gleichgültiger Anlaß wird, das ihn drückende Gefühl des „Wenigerseins“, das sich in dieser Art des Vergleichs einstellt, aufzuheben.[17]

Indes verdiene niemand als Streber bezeichnet zu werden, wenn „ihm noch ein Eigengehalt einer «Sache» vorschwebt, die er in Tätigkeit und Beruf fördert und vertritt“.[18] Das (im Wortsinne) Hohle an seinem Geltungsstreben macht den Streber.

Es bedarf kaum mehr der Beschreibung, wie die Scheler’sche Selbststilisierung verlaufen wird. Der „Gemeine“ gibt die Kontrastfolie; dessen rudimentärem Werterfassen wird dasjenige des Philosophen entgegengestellt – in seiner Vollständigkeit, in seiner Tiefe. Was soll man davon halten?

Scheler zielt auf eine Befreiung des Einzelnen und seines Werturteils von dem der Masse. Eine solche Befreiung ist von unschätzbarem Wert. Sie muß von jeder Generation aufs Neue errungen werden, weil selbst in der offensten „Offenen Gesellschaft“ auch die Gegenkräfte sich beständig erneuern.[19]

Scheler fundiert die Befreiung des Einzelnen, indem er dem Werterkennen einen exklusiven Charakter verleiht: „Wie es für gewisse mathematische Probleme und Theorien nur ganz wenige gibt, die sie auch nur verstehen, so kann dies auch für sittliche und religiöse Dinge der Fall sein.“[20] Es sei ein populistischer Irrweg („Herdenkonvention“[21]), in der Ethik all dasjenige zu ignorieren, „was nicht den Sinnen und dem Verstande des – jeweilig Blödesten klarzumachen ist!“[22]

Dergleichen möchte man unterschreiben. Alles Vorige aber wirkt weniger überzeugend. Introspektion und, was etwas anderes ist, Werterfassen mögen uns – vielleicht – offenstehen. Doch der Einblick in fremde Seelen bleibt auch einem Scheler verwehrt. Was von außen wie das „Gemeine“ und, sofern sie nicht grollen, Streberhafte der hoi polloi wirken mag, dürfte sich aus deren jeweiliger Innenperspektive anders ausnehmen: Da wird Karriere gemacht, um mit den höheren Einkünften die Familie besser nähren zu können, seinen geliebten Kindern eine gute Ausbildung – ja, womöglich sogar Bildung im klassischen, dem kaum übersetzbaren Sinne – zu ermöglichen. Da wird ein Haus mit großem Garten erworben, weil es der Familie, die bislang in einem Wohnblock gelebt hat, ein tieferes Leben ermöglicht. Scheler sieht an diesen Dingen vorbei, obschon er in seiner Abhandlung über das Ressentiment eine Philosophie der Liebe entwickelt, welche die in den soeben gegebenen Beispielen beschriebenen Handlungen begrüßen dürfte.[23] Erst eine solche suppressio veri ermöglicht ihm, sein Urteil über die „Bürger“ um ihn zu fällen: Ein Verdikt, durch dessen Schwärze der Stern des Philosophen desto herrlicher leuchten soll.

Es scheint, als wirke bei Scheler ein Ressentiment dem „Bürger“ gegenüber; – ein Umstand, der an Poppers Bemerkung erinnert, Freud sei ein Fall für Freud, Adler ein Fall für Adler gewesen.[24] Sollte es sich bei Scheler um einen Fall für Scheler handeln?

„Rechenhaftigkeit“

Der „Gemeine“ sucht, so Scheler, seinen Eigenwert im Vergleich mit den Anderen zu messen. Messen erfaßt Mengen. Alles Quantitative gemahnt Scheler an den Geist des „Bürgers“ und dessen, so der Philosoph, „kalkulierenden“ Verstand; es gilt ihm als etwas Niederes. Man mag diese Kette vager Assoziationen für ein non sequitur halten, doch will zur Kenntnis genommen sein, daß Scheler solcher Auffassung ist. Was treibt ihn dazu?

Wie bereits bemerkt, befürchtet Scheler einen Umsturz der Werte.[25] Er werde vom Ressentiment befördert, dessen Träger auch und gerade der „Bürger“ sei; und er vollziehe sich, indem die Berufswerte des Kaufmanns und Gewerbetreibenden, die Werte der Eigenschaften, durch die eben dieser Typus Homo reüssiert und Geschäfte macht, zu allgemeingültigen moralischen Werten, ja zu den „höchsten“ unter diesen erhoben werden. Klugheit, rasche Anpassungsfähigkeit, kalkulierender Verstand, Sinn für „Sicherheit“ des Lebens und allseitigen ungehemmten Verkehr, für Stetigkeit in der Arbeit und Fleiß, Sparsamkeit und Genauigkeit in der Einhaltung und Schließung der Verträge: das werden jetzt die Kardinaltugenden, denen Mut, Tapferkeit, Opferfähigkeit, Freude am Wagnis, Edelsinn, Lebenskraft, Eroberungssinn, gleichgültige Behandlung der wirtschaftlichen Güter, Heimatliebe und Familien-, Stammes-, Fürstentreue, Kraft zu herrschen und zu regieren, Demut usw. untergeordnet werden.[26]

In einer weiteren Abhandlung unterstellt Scheler dem „Bürger“ eine über die Jahrhunderte „steigende Rechenhaftigkeit der seelischen Grundeinstellung auf Welt und Leben überhaupt.“[27] Auch dort werden Tugenden wie Mut, Tapferkeit und Freude am Wagnis jenen „bürgerlichen“ Zuschnitts kontrastiert. Scheler geht dabei soweit, den „Bürger“ als „geringerwertigen Vitaltypus“[28] zu bezeichnen: „Diesem «angsthaften», «rechenhaften» Typus steht der «gläubige», der «vital vertrauensvolle» und «muthafte» Typus gegenüber.“[29]

Selbst- und Fremdvertrauen, Mut und Hingabe, Opferfähigkeit und Lebenskraft auf der einen Seite; Angst und der Wunsch nach „Sicherheit“, Berechnung und Anpassungsfähigkeit, Vertragsbindung und schwindende (oder bereits geschwundene) Lebenskraft auf der anderen. Wiederum legt Scheler mit einer „dienlichen“ Zeichnung des Gegenübers das Fundament für eine Selbststilisierung: Der Philosoph gebe sich hohen Idealen hin, lehne es ab, den eigenen Vorteil in Betracht zu ziehen. Dabei fällt auf, daß der Begründer der materialen Wertethik mit dem Topos des „Bürgers“ als eines „geringerwertigen Vitaltypus“ vorwegnimmt, was spätestens seit Wilhelm Reich zur Folklore psychologisierender Gesellschaftskritik gehört.[30] Konservativer und fortschrittlicher Antiliberalismus berühren einander; so auch hier.

Vor allem aber taugt Schelers Gegenüberstellung zweier Wert-Tafeln – der Tugenden des kalkulierenden „Bürgers“ und der Tugenden des vertrauensvoll Muthaften – weit weniger, als ein oberflächlicher Blick vermuten läßt. Um dies zu erklären, ist ein kurzer Ausflug in die Wirtschaftslehre nötig:

Alle bürgerliche (wir lassen von Schelers Sicht und damit von den Anführungsstrichen) Kultur beruht auf Produktion und Handel, dem Geschäft. Handel bildet kein Nullsummenspiel, sondern eines, in dem beide Parteien gewinnen.[31] Widrigenfalls bliebe unerklärbar, weshalb unsere Mitbürger tagaus, tagein Millionen von Handelsverträgen schließen, zu denen sie kein Mensch zwingt. Wenn aber der Handel kein Nullsummenspiel darstellt, wird deutlich, daß unterhalb der hohen Ideale (selbstloser Hingabe, freudiger Selbstaufopferung) nicht gleich Verworfenheit beginnt, sondern für ein Drittes Raum bleibt. Wie Wilhelm Röpke ausführt, ist jeglicher Handel und mit ihm die bürgerliche Zivilisation

weder auf Egoismus in dem Sinne aufgebaut, daß die eigene Wohlfahrt zum Schaden anderer gefördert wird, noch auf der […] Hingabe in dem Sinne, daß die eigene Wohlfahrt zum Nutzen anderer vernachlässigt wird. Es ist vielmehr eine ethisch neutrale Beziehung, in der kraft einer vertraglichen Gegenseitigkeit das Ziel der eigenen Wohlfahrtssteigerung mit dem Mittel fremder Wohlfahrtssteigerung erstrebt wird.[32]

Nun setzt ein solches Wunder mancherlei voraus. Vor allem eine gute Geschäftsidee, ein neues und lohnendes Produkt. Schließlich wird in der Marktwirtschaft nur derjenige prosperieren, welcher den Kunden eine Ware anbietet, die ihnen gefällt. Den Markt zu erobern,[33] ist alles andere als eine triviale Aufgabe, weil seine Majestät der Kunde sich wählerisch gibt und die Konkurrenz nicht schläft.

Dies alles im Blick, wird verständlich, daß der Bürger größeren Mutes und Eroberungssinns, größerer Tapfer- und Opferfähigkeit, größerer Führungskraft nach innen und Demut dem Kunden gegenüber bedarf, als Scheler anzunehmen  bereit ist. Wer auf dem Markt bestehen will, muß Tugenden an den Tag legen, die über das Rechenhafte hinausgehen. Doch selbst damit nicht genug. Denn hinzukommen muß ein gerüttelt Maß Schöpferkraft (neudeutsch: Kreativität), wie Ludwig von Mises zeigt:

Millions of people like to drink Pinkapinka, a beverage by the world-embracing Pinkapinka Company. […] If you want to acquire wealth, then try to satisfy the public by offering them something that is cheaper or which they like better. Try to supersede Pinkapinka by mixing another beverage.[34]

Mit einem Worte: Denk Dir ’was aus! Die Marktwirtschaft bietet somit reichlich Gelegenheit, neue Geschäftsideen, innovative Produkte und die meisten der von Scheler geschätzten und vermißten Tugenden zu erproben. Mehr noch, sie setzt sie voraus. Daß der Philosoph dergleichen übersieht, liegt an seiner rudimentären Vorstellung dessen, was ein Unternehmer zu leisten hat.

Bestürzend wirkt: Scheler war ein guter Bekannter von Mises’.[35]  Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, ein tieferes Bild vom Unternehmertum zu gewinnen. Scheler hat es nicht gewollt. Röpke würde Scheler „ressentimentgeladene Wirtschaftsferne der Geisteswelt“[36] vorwerfen. Unser Verdacht aus dem vorigen Kapitel hat sich erhärtet. Scheler ist ein Fall für Scheler.

Anmerkungen

[1] Max Scheler, „Das Ressentiment im Aufbau der Moralen“, Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen und Aufsätze, Bern u. München 1972, S. 33-147, Zitat S. 36-37.

[2] Ebd., S. 36.

[3] Ebd., S. 38.

[4] Ebd., S. 66.

[5] Von Scheler, „Das Ressentiment…“, S. 52, in der Fußnote gegeben.

[6] Scheler, „Das Ressentiment…“, S. 51.

[7] Vgl. Hans Poser, Wissenschaftstheorie, Stuttgart 2001, S. 33-36.

[8] Scheler, „Das Ressentiment…“, S. 54, ohne Kursive.

[9] Vgl. ebd., S. 50-51.

[10] Ebd., S. 63.

[11] Vgl. ebd., S. 75.

[12] Vgl. ebd., S. 48.

[13] Ebd., S. 47.

[14] Ebd. Wie Scheler unterstreicht, nimmt auch der Vornehme Vergleiche vor. Doch entscheide die Reihenfolge von Werterfassen und Vergleich: „Der Vornehme erlebt die Werte vor dem Vergleich; der Gemeine erst im und durch den Vergleich.“ (Ebd.)

[15] Vgl. ebd.

[16] Vgl. oben im gegenwärtigen Kap.

[17] Scheler, „Das Ressentiment…“, S. 48.

[18] Ebd.

[19] Vgl. Leszek Kołakowski, „Samozatrucie otwartego społeczeństwa“, Czy diabeł może być zbawiony i 27 innych kazań, Krakau 2006, S. 291-306.

[20] Scheler, „Das Ressentiment…“, S. 125.

[21] Ebd.

[22] Ebd.

[23] Vgl. Scheler, „Das Ressentiment…“, S. 72-77.

[24] Vgl. Frank Cioffi, „Psychoanalysis, Pseudo-Science and Testability“, in: Gregory Currie und Alan Musgrave (edd.), Popper and the Human Sciences, Dordrecht 1985, S. 13-44, bes. 17.

[25] Vgl. in Kap. I.

[26] Scheler, „Das Ressentiment…“, S. 132.

[27] Scheler, „Die Zukunft des Kapitalismus“, Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen und Aufsätze, Bern u. München 1972, S. 382-395, Zitat S. 388.

[28] Ebd.

[29] Ebd. Scheler betont ebd., S. 388-389, daß mit dem Gläubigen nicht „die Angehörigen des orthodoxen Kirchenglaubens“ gemeint seien, sondern „ein bestimmter Vitaltypus“.

[30] Vgl. Wilhelm Reich, Massenpsychologie des Faschismus, Köln 1986, S. 12-13, 310-312. Einen Überblick über die Folgen  gibt Wolfgang Brezinka, Die Pädagogik der Neuen Linken, München u. Basel 1972, S. 174-180.

[31] Vgl. Friedrich August von Hayek, The Fatal Conceit, Chicago 1991, S. 95.

[32] Wilhelm Röpke, Die Lehre von der Wirtschaft, Erlenbach-Zürich 1965, S. 41.

[33] Röpke, Die Lehre…, S. 45, lehnt solche kriegerischen Vokabeln ab, wo es um Handel und Produktion geht; sie gemahnen an einen Kriegs- und Beutezug, was unter die ethisch negativen Beziehungen zu subsumieren wäre. In der Auseinandersetzung mit Schelers heroischen Idealen jedoch unterstreichen bellikose Begrifflichkeiten in sehr willkommener Weise, daß auch dem Bürger das Heroische nicht fremd ist.

[34] Ludwig von Mises, The Anticapitalistic Mentality, Grove City 1972, S. 7-8, Kursive von mir.

[35] Vgl. Murray N. Rothbard, „Ludwig von Mises: 1881-1973“, nach: http://mises.org/rothbard/misesobit.asp (24.12.2010), und Ludwig von Mises, Erinnerungen, Stuttgart u. New York 1978, S. 69.

[36] Wilhelm Röpke, Jenseits von Angebot und Nachfrage, Erlenbach-Zürich 1966,S. 173, ohne Kursive.

***

Der vorstehende Text ist ein Auszug aus dem Essay „Philosoph und Fiktion. Über Max Schelers Stilisierungen seiner selbst und Anderer“, der in dem von Jacek Rzeszotnik herausgegebenen Band Schriftstellerische Autopoiesis (Darmstadt 2011) erschienen ist.

Rudyard Kipling über die Tradition als Voraussetzung der Freiheit
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Rudyard Kipling über die Tradition als Voraussetzung der Freiheit

Rudyard Kiplings „The Gods of the Copybook Headings“ („Die Götter der Schönschreibheft-Sinnsprüche“) sind ein erstaunliches Gedicht. Es ist knapp hundert Jahre alt. Wie konnte der Dichter so viele der Torheiten vorhersehen, die wir in den vergangenen Jahrzehnten begangen haben?

As I pass through my incarnations in every age and race,
I make my proper prostrations to the Gods of the Market Place.
Peering through reverent fingers I watch them flourish and fall,
And the Gods of the Copybook Headings, I notice, outlast them all.

We were living in trees when they met us. They showed us each in turn
That Water would certainly wet us, as Fire would certainly burn:
But we found them lacking in Uplift, Vision and Breadth of Mind,
So we left them to teach the Gorillas while we followed the March of Mankind.

Bestimmte Einsichten und Empfehlungen locken keinen Hund hinter dem Ofen hervor – so selbstverständlich wirken sie. Vielen Menschen, besonders wenn sie jung sind, scheinen diese Maximen deshalb nichtssagend zu sein („Wasser macht naß“ etc.). Es fehlt ihnen das Erhebende und Orignelle („Uplift“, „Vision“ usw.); genau deshalb kann man mit vielen Auffassungen, die vernünftig sind, nicht renommieren. Auch erlauben sie nicht, uns für fortgeschrittener und also klüger als frühere Generationen zu halten („March of Mankind“)… Erkennen wir Köder und Falle?

We moved as the Spirit listed. They never altered their pace,
Being neither cloud nor wind-borne like the Gods of the Market Place;
But they always caught up with our progress, and presently word would come
That a tribe had been wiped off its icefield, or the lights had gone out in Rome.

Dergleichen ist geschehen, und es kann wieder geschehen.

With the Hopes that our World is built on they were utterly out of touch,
They denied that the Moon was Stilton; they denied she was even Dutch;
They denied that Wishes were Horses; they denied that a Pig had Wings;
So we worshipped the Gods of the Market Who promised these beautiful things.

Im Englischen gibt es die wunderbare Fügung „wishful thinking“, um eine bestimmte Form des Kindisch-Seins zu beschreiben, die uns allen immer wieder unterläuft. Das Deutsche ist gerade hier, an dieser für die Ethik und Staatskunst entscheidenden Stelle so viel ärmer! Auf Wünschen kann man nicht reiten, und Hoffnungen sind kein Fels, auf dem man bauen könnte; Hoffnung kann allenfalls dabei helfen, auf der Suche nach festem Grund nicht vorschnell aufzugeben.

When the Cambrian measures were forming, They promised perpetual peace.
They swore, if we gave them our weapons, that the wars of the tribes would cease.
But when we disarmed They sold us and delivered us bound to our foe,
And the Gods of the Copybook Headings said: „Stick to the Devil you know.“

Über die europäische (und deutsche) „Nachkriegsweisheit“ muß kaum ein Wort mehr verloren werden. Wir verlassen uns darauf, daß die Vereinigten Staaten von Amerika uns im Fall der Fälle heraushauen werden. Und verachten sie genau dafür.

On the first Feminian Sandstones we were promised the Fuller Life
(Which started by loving our neighbour and ended by loving his wife)
Till our women had no more children and the men lost reason and faith,
And the Gods of the Copybook Headings said: „The Wages of Sin is Death.“

Der „neue Mensch“ wollte nicht weniger als eine neue Welt gewinnen, und jetzt hat er sogar Schwierigkeiten damit, sich fortzupflanzen. Und er hat seinen Glauben und seine Vernunft verloren. Darüber lohnt nachzudenken. Die „Ehrfurcht vor dem Traditionellen“ ist, so Friedrich August von Hayek, „für das Funktionieren einer freien Gesellschaft unentbehrlich“.

In the Carboniferous Epoch we were promised abundance for all,
By robbing selected Peter to pay for collective Paul;
But, though we had plenty of money, there was nothing our money could buy,
And the Gods of the Copybook Headings said: „If you don’t work you die.“

Der Wohlfahrtsstaat beruht auf Diebstahl („robbing… Peter“), und er ist nur um den Preis chronischer Inflation zu haben. Allein Kiplings Hinweis, daß es nichts gebe, was unser Geld kaufen könne, muß nicht nur auf dessen Entwertung hinweisen. Hier mag auch dasjenige eine Rolle spielen, was Wilhelm Röpke „Langeweile in der Massengesellschaft“ nennt:

Die Menschen werden nicht nur als Produzenten, die typisierte Serienfabrikate in einer mehr und mehr mechanisierten Erzeugung herstellen, sondern auch als Konsumenten ihrer natürlichen Individualität entkleidet, da diese Serienerzeugnisse den individuellen Geschmack ignorieren müssen, während die Klasse derjenigen, die wohlhabend genug sind, die nicht über denselben Leisten geschlagenen Güter zu erwerben, dank einer von der erdrückenden Masse der Normalverbraucher erzwungenen Neidbesteuerung immer mehr zusammenschmilzt.

Kipling fährt fort:

Then the Gods of the Market tumbled, and their smooth-tongued wizards withdrew
And the hearts of the meanest were humbled and began to believe it was true
That All is not Gold that Glitters, and Two and Two make Four —
And the Gods of the Copybook Headings limped up to explain it once more.

Wir beginnen zu glauben, daß an den Weisheiten in den Schönschreibheften etwas dran sein könnte. Das heißt, die sich überlegen dünkenden Menschen aus Kiplings zwanzigstem und unserem einundzwanzigsten Jahrhunder tun das, was Tom Wolfe als Relearning beschrieben hat. Wir lernen, was Generationen vor uns wußten:

In 1968, in San Francisco, I came across a curious footnote to the hippie movement. At the Haight-Ashbury Free Clinic, there were doctors treating diseases no living doctor had ever encountered before, diseases that had disappeared so long ago they had never even picked up Latin names, diseases such as the mange, the grunge, the itch, the twitch, the thrush, the scroff, the rot. And how was it that they now returned? It had to do with the fact that thousands of young men and women had migrated to San Francisco to live communally in what I think history will record as one of the most extraordinary religious fevers of all time.

The hippies sought nothing less than to sweep aside all codes and restraints of the past and start from zero. At one point, the novelist Ken Kesey, leader of a commune called the Merry Pranksters, organized a pilgrimage to Stonehenge with the idea of returning to Anglo-Saxon’s point zero, which he figured was Stonehenge, and heading out all over again to do it better. Among the codes and restraints that people in the communes swept aside–quite purposely–were those that said you shouldn’t use other people’s toothbrushes or sleep on other people’s mattresses without changing the sheets, or as was more likely, without using any sheets at all, or that you and five other people shouldn’t drink from the same bottle of Shasta or take tokes from the same cigarette. And now, in 1968, they were relearning…the laws of hygiene…by getting the mange, the grunge, the itch, the twitch, the thrush, the scroff, the rot.

Aber zurück zu Kipling:

As it will be in the future, it was at the birth of Man —
There are only four things certain since Social Progress began: —
That the Dog returns to his Vomit and the Sow returns to her Mire,
And the burnt Fool’s bandaged finger goes wabbling back to the Fire;

And that after this is accomplished, and the brave new world begins
When all men are paid for existing and no man must pay for his sins,
As surely as Water will wet us, as surely as Fire will burn,
The Gods of the Copybook Headings with terror and slaughter return!

Wer atmet, dem steht auch dann, wenn er gesund ist, lebenslang Geld zu. Ob „Hartz IV“, „Bürgergeld“ oder „garantiertes Grundeinkommen“. Für das Brot und die Spiele. Keines weiteren Worts bedarf es, um in dieser Vorstellung den Gipfel der Dekadenz zu erkennen. Und zwar selbst dann, wenn nicht wieder Peter (und sein Nachwuchs bis in die x-te Generation) für den „kollektiven Paul“ zahlen müßte. Wobei überhaupt Peter, der ausgewählte („selected“) Peter, dort, wo die Schönschreibheft-Sinnsprüche auf taube Ohren stoßen, ganz offenbar der Einzige ist, der bestraft wird. Natürlich trifft es ihn nicht etwa deshalb, weil er eine Sünde oder sonstige Übertretung begangen hätte; schließlich wird wegen solcher Dinge niemand mehr ernsthaft bestraft, sondern „nur“ noch zu bessern versucht. Kipling durchdringt auch den Widersinn der pantherapeutischen Weltsicht, wie sie Theodore Dalrymple u.a. beschreiben, und erkennt sie als Symptom der Dekadenz, die er beschreibt. Peter wird ausgenommen, weil er (noch) geben kann.

Wie lange das so weitergehen kann und soll? Bis die Götter der Schönschreibheft-Sinnsprüche wiederkehren – mit Feuer und Schwert. Soviel zum Thema „vermeidbares Elend“.

***

Das Gedicht von Rudyard Kipling findet sich u.a. bei John Derbyshire, der es als Text und Hördatei bereithält. Auf Tom Wolfes Relearning-Topos bin ich durch Ed Driscoll aufmerksam geworden. Friedrich August von Hayeks Mahnung ist im vierten Kapitel, (sechster Abschnitt) von dessen „Die Verfassung der Freiheit“ enthalten. Wilhelm Röpke schreibt von der Langeweile in der Massengesellschaft im zweiten Kapitel seines Werkes „Jenseits von Angebot und Nachfrage“ (Inhaltsübersicht); das Zitat stammt von Seite 110 einer älteren Ausgabe (Erlenbach-Zürich u. Stuttgart 1966). Natürlich bildet Kiplings Strophe von der Rückkehr der Sinnspruch-Götter keine Endzeitphantasie, sondern „nur“ einen Hinweis auf die Folgen menschlicher Dummheit. (Hintergrund-Bild: Pixabay.)

Am Rande der Bewegung III: Ein Zeichen setzen!
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Am Rande der Bewegung III: Ein Zeichen setzen!

Hinter dem Fischereihafen der kleinen Stadt werden große Dreifüße aus Stahl gebaut, um einige Kilometer vor der Küste versenkt zu werden. Dann werden darauf Windkraftanlagen montiert. Ganz offenbar hofft man, mit diesem Stahl-Opfer den Zorn der Gottheit abwenden zu können. Ein anderer Grund, diese Steuermittel-Verbrennungsanlagen in die See zu rammen, will mir nicht einfallen.

Von dem Fall abgesehen, daß es sich um Crony Capitalism handle, natürlich:

In a truly capitalist society businesses never receive money or special privileges from government: they succeed if they please customers in offering them what they want, and they fail if they do not. (Kel Kelly, The Case for Legalizing Capitalism, Auburn 2010, S. 26-27)

(In einer kapitalistischen Gesellschaft, die den Namen verdient, erhalten Unternehmen niemals Geld oder irgendwelche besonderen Privilegien von Seiten der Regierung: Sie haben Erfolg, wenn sie den Kunden bieten, was diesen so sehr zusagt, daß sie es kaufen wollen, und sie gehen unter, wenn sie dies nicht tun.)

Wie steht es darum bei unseren Windmühlen und den Dreifüßen, auf denen sie in den Sand gesetzt werden?

Mit großer Unterstützung des Landes Niedersachsen und der EU wurde hier eine Infrastruktur geschaffen, um Offshore-Windkraftanlagen mit allen erforderlichen Komponenten zu bauen und zu verschiffen. Mehr als 80 Mio. € sind in den letzten Jahren in die Infrastruktur der Offshore Basis Cuxhaven investiert worden – hinzu kommen private Investitionen der Offshore-Branche in Cuxhaven von über 100 Mio. €  in den Jahren 2007 und 2008.

„Mit großzügiger Unterstützung des Landes Niedersachsen und der EU“. Und es reden so Viele von „Neoliberalismus“?

Machen wir uns klar: Wer feststellt, die Windkraft-Branche schaffe Jobs, sollte darauf hinweisen, daß diese Jobs recht eigentlich Stellen des Öffentlichen Dienstes darstellen; sie sind von Seiten des Staates bestellt und werden vom Steuerzahler finanziert.

Crony Capitalism ist eine Veranstaltung der Gleicheren unter den Gleichen. Dem Bürger bleibt das Wundern. Er geht durch

Landschaften, welche durch die Rotorenwälder der Windindustrie weiträumig verschandelt wurden,

und fragt sich: Das soll Umweltschutz sein?

* * *

Kellys Argument ruht auf Ludwig von Mises‘ Anschauungen über das Verhältnis von Unternehmer und Kunde. Mehr dazu finden Sie – meisterhaft klar und allgemeinverständlich ausgedrückt – im ersten Kapitel von dessen Werk Die Wurzeln des Antikapitalismus.