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„Der gute und der böse Neid“ – über Helmut Schoeck.

Junge Freiheit Nr. 40/23

Herr Professor Dahlmanns, ist Ihnen da ein Fehler unterlaufen?
Karsten Dahlmanns: Inwiefern?

Der Titel Ihres Buchs lautet: „Vom besonderen Unglück tüchtigerer Minderheiten“. Sicher soll das aber doch „Glück“ heißen?
Dahlmanns: Nein, denn alles hat seinen Preis, also auch der glückliche Umstand, ein besonderes Talent zu besitzen, außergewöhnlich attraktiv zu sein oder sorgsame, wohlsituierte Eltern zu haben. Da läßt der Neid der weniger von Fortuna Bedachten nicht lange auf sich warten.

Ich spüre in der Tat die Eifersucht schon brodeln …
Dahlmanns: Und wie gehen Sie damit um?

Manche treten ihren Hund … Ich natürlich nicht!
Dahlmanns: Meist äußert sich Neid in eher harmlosen Formen, etwa in despektierlichen Beschreibungen, unterfüttert mit einer Art Küchenpsychologie.

Zum Beispiel?
Dahlmanns: Der virtuose Programmierer wird zum „Nerd“, Gutaussehende firmieren unter „Beau“ oder „Prinzeßchen“ und verfügen angeblich über einen bestenfalls oberflächlichen Charakter, und Kinder aus gutem Hause, die sich benehmen können, werden dafür bedauert, keine richtigen Kinder sein zu dürfen. Der Publizist Rainer Zitelmann weist darauf hin, daß wirtschaftlich Erfolgreiche gern als gefühlskalt, rechen- und automatenhaft beschrieben werden: Wer reich ist, der „muß“ zum Ausgleich ein emotionales Defizit aufweisen.

„Hilf dir selbst, so hilft dir Gott“, „Das Glück ist mit den Tüchtigen“, „Dem Tüchtigen gehört die Welt“ Wenn tüchtig zu sein ein Unglück ist, führen uns dann diese Volksweisheiten seit Jahrhunderten in die Irre?
Dahlmanns: Nein, sie liegen schon richtig. Ihr Gegenstand taucht bereits in einem Gleichnis Jesu auf: Wer ein Talent erhält und es vergräbt – also nichts daraus macht –, kann auf Gnade nicht hoffen. Bemerkenswert ist, daß diese Volksweisheiten eine Ermunterung darstellen. Warum aber ist eine solche Ermunterung überhaupt nötig? Wohl deshalb, weil der Begabte einen Anstoß braucht, sein Glück trotz der im Falle eines Mißerfolgs zu erwartenden Häme seiner Nachbarn, Mitschüler, Kollegen zu erproben.

Aber ist Neid nicht eigentlich ein Problem des Neiders?
Dahlmanns: Wäre er ausschließlich das Problem des Neiders, lebten wir in einer anderen Welt. Der 1993 verstorbene Soziologe Helmut Schoeck nennt eine Fülle Beispiele aus aller Herren Länder, die zeigen, wie gefährlich es werden kann, wenn man beneidet wird – bis hin zum Mord aus Neid: Ein, wie Schoeck formuliert, „unansehnlicher Gelegenheitsarbeiter“ tötete einen jungen Mann, weil er „den Glanz des erfolgreichen Sportlers nicht ertragen“ konnte, oder ein begabter Musikstudent ermordete einen noch begabteren Musikstudenten. Der in Deutschland viel zu wenig bekannte US-Soziologe Thomas Sowell ergänzt Schoecks Forschung um weitere Beispiele aus Asien, Afrika und Lateinamerika: Wo auch immer eine Minderheit in irgendeiner Form tüchtiger ist, etwa mehr Universitätsabschlüsse erwirbt oder besser verdient als die umgebende Mehrheit, drohen ihr Übel. Dies gilt besonders dann, wenn sie sich äußerlich unterscheidet, wie etwa die meisten ethnischen Chinesen in Indonesien oder indische Händler im Osten Afrikas. Erstere hatten Pogrome zu erleiden, letztere wurden aus vielen in die Unabhängigkeit entlassenen Staaten vertrieben, mitsamt ihrem Know-how. Im Peru des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts bildeten japanische Immigranten eine tüchtigere Minderheit hinsichtlich Bildung und Geschäftstätigkeit, ja selbst bei bloßer Land- und Lohnarbeit; es gab Pressekampagnen gegen sie, Boykottversuche und schließlich ein Gesetz, das die Einwanderung von Japanern gründlich einschränkte. Und honduranische Bauern klagten, es sei „unfair“, mit allzu arbeitsamen Immigranten aus Deutschland konkurrieren zu müssen. Die Beispiele zeigen, wie Sowell Schoecks Ansatz fortführt, ohne – versteht sich –, von ihm abhängig zu sein. Da von Minderheiten die Rede ist: Die kleinste Minderheit bildet, mit der libertären Autorin Ayn Rand zu sprechen, das begabte Individuum. Schoeck legt seinen Finger immer wieder auf eine besondere Wunde: die Entmutigung des begabten oder sonstwie besser situierten Einzelnen durch unterschwellige oder auch gröbere Gemeinheiten einer neiderfüllten Umgebung.

Hält der Neid also die großen Dinge klein – oder setzt er sie vielleicht gar erst in Gang?
Dahlmanns: Es wäre ein Irrtum, dem Neid nur negative Folgen zuzuschreiben. Schon Aristoteles unterschied zwischen dem guten und dem bösen Neid. Der gute Neid schlägt in Ansporn um; sein Treibstoff ist der Ehrgeiz. Wiewohl mit ihm – wie mit allem, was das menschliche Herz berührt – übertrieben werden kann, zeitigt er zumeist positive Folgen: Das Kind aus ärmlicher Familie schwört sich, einmal einen dicken Mercedes zu fahren. Eine junge Frau wird Unternehmerin, um es wem auch immer zu zeigen. Ein junger Mann arbeitet an seinem Charakter, um dereinst „ein holdes Weib errungen“ zu haben, wie Schiller formuliert. Nur ein Verbitterter könnte solche Dinge schlechtreden! Der böse Neid hingegen – der eigentliche Neid – will, wie Schoeck sehr genau herausarbeitet, nicht unbedingt auch einen Mercedes fahren, sondern erreichen, zur Not durch Vandalismus, daß der Nachbar keinen Mercedes fahren kann. Oder keinen fahren „darf“, womit vermutlich die Beweggründe einiger – nicht aller – ökologisch Bewegter dingfest gemacht werden. Augenmerk verdient, daß mutwillige Zerstörung und grünfundamentale Gesetzgebung hier auf dasselbe Resultat hinauslaufen.

Ihr Buch ist eine „Reaktualisierung des Werks von Helmut Schoeck“. Warum ist eine Studie über den Neid ausgerechnet heute wieder aktuell?
Dahlmanns: Schoecks Hauptwerk, seine große Monographie „Der Neid. Eine Theorie der Gesellschaft“, ist 1966, also vor über einem halben Jahrhundert erschienen. Die „Reaktualisierung“ besteht zunächst darin, Schoecks Ergebnisse durch die Resultate neuerer Forschung zu ergänzen. Neben dem erwähnten Sowell kommen etwa Götz Aly, Roland Baader oder Norbert Bolz zu Wort und weisen nach, daß Schoecks Ansatz weiterhin fruchtbar ist. Reaktualisierung bedeutet zudem, Schoecks wertvolle Einsichten gegen seinen zuweilen altbackenen, manchmal sogar übellaunig wirkenden Stil zu verteidigen. Letzterer dürfte damit zusammenhängen, daß Schoeck in den siebziger und achtziger Jahren gegen den „progressiven“ Zeitgeist in Politik und Publizistik gekämpft – und verloren hat.

Wer war denn Helmut Schoeck?
Dahlmanns: Zunächst ein begabter, einsichtsvoller Forscher, in gewisser Weise ein Nachfolger Max Schelers, aber ohne dessen antibürgerliche, antiwestliche Verkrampfung. Ein mutiger Einzelgänger und begnadeter Beobachter. Besonders gut gefällt mir Schoecks 1958 erschienenes Buch „USA. Motive und Strukturen“, die Frucht eines langjährigen Aufenthalts in Übersee. Des weiteren ein kluger Verknüpfer. Schoeck brilliert, wo er Phänomene in verschiedenen Kulturen oder Kulturkreisen vergleicht, Unterschiede und Gemeinsamkeiten herausarbeitet. Zu seinen wertvollsten Einsichten gehört, daß in vielen außerwestlichen – Schoeck formulierte noch: „primitiven“ – Kulturen Beneidete den Schadenzauber von Neidern fürchten, etwa die Verhexung von Vieh und Acker oder das Herbeihexen eines frühen Todes, und diese Furcht in industriellen oder postindustriellen, „aufgeklärten“ Gesellschaft fortbesteht.

Wie bitte?
Dahlmanns: Ja, sie tritt in einem diffusen schlechten Gewissen hervor, einem in der Magengegend oder sonstwo körperlich lokalisierbaren Unwohlsein und Gefühl unbestimmter Bedrohung, das der Tüchtigere oder schlicht unter glücklicheren Umständen Lebende verspürt, sobald er sich die Diskrepanz zwischen seinen Lebensverhältnissen und denen von Menschen in rauheren Vierteln der eigenen Stadt, in „abgehängten“ Gegenden des eigenen Landes oder in der Dritten Welt vor Augen führt. Laut Schoeck handelt es sich dabei um „Neidangst“ oder „Neidfurcht“, und daher ist der auf lokale oder globale Umverteilung erpichte Fortschrittler – kulturanthropologisch gesehen – eigentlich ein Rückschrittler.

Also ist der Neid beziehungsweise der Neidausgleich ein konstitutives Element unserer Gesellschaft?
Dahlmanns: In einem demokratischen Staat können Neider per Abstimmung auf den Gesetzgebungsprozeß einwirken, um ihrer Mißgunst – also dem oben genannten „bösen Neid“ – Einfluß zu verschaffen. Das ist unstrittig. Allerdings muß nicht jede Stimme, die sozialstaatliche Umverteilung befürwortet, bösem Neid entstammen. Eine Melange aus unausgegorenem Idealismus, Etatismus und volkswirtschaftlicher Ahnungslosigkeit tut’s auch.

Warum fürchtet die Mehrheit die tüchtige Minderheit eigentlich? Schließlich nützt ihnen doch, daß dank dieser „der Laden brummt“, wie Sie schreiben.
Dahlmanns: Wenn der Laden brummt, wächst der Wohlstand und auch geringer Qualifizierte, die weniger verdienen, profitieren davon. Sie müssen lediglich ertragen, daß andere reicher sind als sie selbst. Der Lohn für solche Niederhaltung des eigenen Neides liegt auf der Hand: Sie tuckern nicht – wie (fast) alle anderen auch – in einer Schrottkiste vor sich hin, sondern gleiten in einem komfortablen PKW der unteren Mittelklasse durchs Land, während Ihr Nachbar sich an seinem dicken Mercedes erfreut und an Ihnen vorbeirauscht. Experimente weisen nach, daß Versuchspersonen eher ein geringeres eigenes Gehalt vorziehen, solange ihr (fiktiver) Arbeitskollege nicht viel mehr als sie selbst verdient. So schießen sich Neider ins eigene Knie.

Manchen gilt die AfD als Manifestation des Neids, als Partei jener, die von Wohlstand und Privilegien nicht teilen wollen. Wie sieht das aus Schoecks Perspektive aus?
Dahlmanns: Wie erwähnt, zeitigt der Neid nicht nur negative Folgen. Dies gilt laut Schoeck sogar für den bösen Neid. Zu seinen guten Seiten zählt, daß er, je nach Ausprägung, zum Entstehen und zur Festigung einer Rechtsordnung beiträgt.

Einer „Rechtsordnung“?
Dahlmanns: Ja. Zwar mißbilligt der Neider, daß sein Nachbar einen dicken Mercedes besitzt, aber er mißbilligt ebenfalls, daß ein Autodieb sich „einfach so“ einen Mercedes besorgt. Das gilt auch dort, wo es nicht um Besitz geht, etwa im ÖPNV: Fahrgäste, die eine Fahrkarte kaufen, nehmen es dem Schwarzfahrer übel, wenn er „einfach so“ die S-Bahn nutzt. Wenden wir nun Schoecks Ansatz auf die Einwanderung in die westlichen Sozialsysteme an, zeigt sich: Die angestammten Bewohner haben, sofern berufstätig, regelmäßig Beiträge in die Sozialkassen gezahlt und verargen es nun, daß Zuzüglern jene Sozialleistungen „einfach so“ zugestanden werden. Schoeck würde folglich zugestehen, daß in den Empfindungen der angestammten Bewohner Neid eine Rolle spielt, aber er würde auch auf die Funktion dieses Neides für die Genese und Festigung einer Rechtsordnung hinweisen. Übrigens enthält Ihre Frage den Begriff „Privileg“, den Schoeck als irreführend ablehnen würde, weil er etwas, das man sich erarbeitet hat – Sozialleistungen als Frucht von Beitragszahlungen –, mit beliebigen, willkürlichen Vorrechten mischt. Schoeck war auch ein kluger Sprachkritiker, wie vor ihm Friedrich August von Hayek.

Man könnte Schoeck vorhalten, nur eine „neoliberale“ Opfererzählung zu vertreten, die Egoismus und Skrupellosigkeit der Besitzenden als „Tüchtigkeit“, sich Wehren gegen Armut und Ausbeutung als „Neid“ verbrämt.
Dahlmanns: Egoismus und Skrupellosigkeit sind bei tüchtigeren Minderheiten zu finden – aber nicht nur dort, sondern auch bei der Mehrheit. Das Verhältnis zwischen tüchtigerer Minderheit und umgebender Mehrheit läßt sich besser verstehen, sobald man nicht immer bloß auf den Sozialstaat starrt. Man sollte eher die vielfältigen Formen tätiger Nächstenliebe seitens tüchtigerer oder bloß glücklicherer, da ohne eigenes Verdienst wohlsituierter Minderheiten in den Blick fassen – nämlich Stiftungen, Spenden für kirchliche oder weltliche Schulen und andere Projekte, aber auch die individuelle Aufopferung in einem Beruf, der wichtig ist, obgleich er miserabel bezahlt wird. Der in New Yorks Harlem unter ärmlichen Bedingungen aufgewachsene Sowell denkt mit Dankbarkeit an Mrs. Simon zurück, seine Lehrerin, der es völlig gleichgültig war, ob der junge Sowell fünf Cent für die Straßenbahn aufbringen konnte oder zur Schule laufen mußte. Auch seine Hautfarbe war ihr gleichgültig. Sie lehrte ihn, was er brauchte, um Karriere zu machen.

Ist die Frage danach, wie wir mit den Tüchtigen und dem Neid umgehen also eine Zukunftsfrage, ja vielleicht sogar die Schicksalsfrage für unsere Gesellschaft?
Dahlmanns: Schoecks Werk berührt eine Frage, die in der Tat äußerst bedeutsam für den Fortbestand von Freiheit und Wohlstand ist. Nach Schoecks Gesetz – das ist meine Bezeichnung – generiert eine Gesellschaft desto mehr Innovationen und Wirtschaftswachstum, je stärker Bürger und Politiker so handeln können, als ob es keinen Neid gäbe. Wenn begabte Schüler und Studenten, also künftige Leistungsträger, in einem gesellschaftlichen Klima herangezogen werden, das alles Hervorragende als Ausdruck von Geltungssucht und kaltherzigem Egoismus abtut, braucht man sich nicht zu wundern, wenn Höchstleistungen ausbleiben.

Das Interview führte Moritz Schwarz. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung der Wochenzeitung Junge Freiheit.

(Zuerst erschienen in: Junge Freiheit Nr. 40/23 vom 29.09.2023, S. 3. Beitragsbild: Pixabay.)