Geschichte

  • Der ehrliche Mitläufer

    Fritz Stern erinnert sich:

    1946, als der Bahnverkehr in der britischen Besatzungszone wieder in Gang gekommen war, betrat ein britischer Offizier ein Abteil, in dem bereits drei Deutsche saßen. Er wandte sich an den ersten Deutschen mit der Frage: „Waren Sie Mitglied der Nationalsozialistischen Partei?“ Ärgerlich entgegnete der Deutsche, natürlich sei er nicht Mitglied gewesen; im Grunde hätte kaum jemand dazugehört, und an allem, was geschehen war, waren einzig ein paar Leute an der Spitze schuld. Nach einer Weile richtete der Offizier dieselbe Frage an den zweiten Deutschen, der noch wütender erwiderte, schon die Frage sei eine Beleidigung für ihn. „Ihr Briten wollt uns Demokratie beibringen, und dann schnüffelt ihr herum und fragt nach unserer politischen Meinung.“ Er war jedenfalls kein Mitglied gewesen. Auf dieselbe Frage antwortete der dritte Deutsche: „Ich hatte 1937 eine Frau und drei Kinder. Ich bekam nur Arbeit, wenn ich der Partei beitrat, und so bin ich beigetreten.“ Der britische Offizier nickte ihm zu und antwortete: „Danke. Ich suche nur jemanden, der auf mein Gepäck aufpasst, während ich im Speisewagen sitze. Würden Sie das übernehmen?“

    Stern fährt fort:

    Arglos erzählte ich die Geschichte auf der ersten Abendgesellschaft, an der ich in Berlin teilnahm, und fand heraus, daß sie ein perfekter Lackmustest war: Einige Deutsche konnten darüber lachen, doch die meisten versanken in betretenem Schweigen.

    Fritz Stern, Fünf Deutschland und ein Leben. Erinnerungen. München 2007: C.H. Beck, S. 267. (Photo: Flickr Commons. San Diego Air and Space Museum Archive. Catalog #: 10_0020293. Title: Reconnaissance Photo Aerial View Germany. Date: 1941-1945.)

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    Kultur zwischen Gewinnstreben, Nächstenliebe und Sozialstaat

    Epistemologische und ethische Katastrophen ereignen sich für gewöhnlich in den unausgesprochenen Zusatzannahmen. Einen beliebten Fehler bilden überstrenge Dichotomien, das ewige „Entweder-Oder“, wo es rein gar nichts zu suchen hat. Hören wir, um solcher Infantilerei abzuhelfen, ein wenig Wilhelm Röpke zu:

    Daß […] den höchsten geistigen Leistungen das Gewinnmotiv keineswegs fremd ist, lehrt besonders eindringlich der Fall Goethes, der offenbar erst durch ein günstiges Angebot Cottas, seines Verlegers, den letzten Anstoß erhielt, seinen „Faust“ zu vollenden. Es war Schiller gewesen, der dieses Angebot hinter Goethes Rücken veranlaßt hatte, indem er an Cotta am 24. März 1800 schrieb: „Ich fürchte, Goethe läßt seinen „Faust“, an dem schon so viel gemacht ist, ganz liegen, wenn er nicht von außen und durch verlockende Offerten veranlaßt wird, sich noch einmal an diese große Arbeit zu machen und sie zu vollenden… Er rechnet freilich auf einen großen Profit, weil er weiß, daß man in Deutschland auf dieses Werk sehr gespannt ist. Sie können ihn, das bin ich überzeugt, durch glänzende Anerbietungen dahin bringen, dieses Werk in diesem Sommer auszuarbeiten“ […]. Die prompte Wirkung auf Goethe ist in seinem Brief an Schiller vom 11. April 1800 nachzulesen. Wer aber wollte deshalb das Gewinnmotiv schmähen!

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  • Rotmistrz Witold Pilecki

    Vor einigen Monaten ist mir in Katowice ein Flugblatt in die Hand gefallen. Auf ihm steht:

    Witold Pilecki (1901-1948).

    Held aller Zeiten.

    Von seinen Verdiensten im Polnisch-Sowjetischen Krieg, in der Zwischenkriegszeit, während des Warschauer Aufstandes abgesehen, hat dieser Mann etwas getan, was kein Anderer auf der Welt getan hat: Er ging freiwillig ins Konzentrationslager Auschwitz. Sein Ziel war es, eine Widerstandsbewegung innerhalb des Lagers zu organisieren und einen detaillierten Bericht über die Vorgänge in Auschwitz zu erstellen. Das Resultat seines Tuns sollte – im Zusammenwirken mit einem Angriff der [West-]Alliierten – ein Aufstand im Lager sein. Leider wurde sein Bericht als übertrieben eingeschätzt, und die Alliierten lehnten eine Intervention ab. Nach dem Krieg [d.h. unter kommunistischer Herrschaft] wurde Witold Pilecki verhaftet, unmenschlichen Foltern unterworfen und durch einen Schuß in den Hinterkopf ermordet. Seine sterblichen Überreste wurden in einer namenlosen Grube verscharrt und bis heute nicht gefunden…

    Die Feinde Polens haben alles unternommen, um ihn aus dem Bewußtsein der Polen und der Welt zu tilgen. Such seinen Namen bei Google, Youtube, Wikipedia… Frag Deine Bekannten, ob sie ihn kennen. Komm auf die Konferenz, das Konzert, die Feierlichkeiten…,

    …die auf der Rückseite angeführt sind. Dort wird u.a. ein Konzert in einem Krakauer Studentenklub genannt. Titel: „Warum haben sie mich in der Schule nichts über Dich gelehrt?“

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    Sprachimperialismus

    Eine Reihe von Vereinigungen in Deutschland engagiert sich für den Erhalt und die Pflege der deutschen Sprache. Sie sind recht unterschiedlichen Charakters; das Spektrum reicht von der sehr gediegenen Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) bis zum umtriebigen und teils unbotmäßig aggressiv handelnden (K. Wirth, 2010, S. 290-296) Verein Deutsche Sprache (VDS), welcher von dem Wissenschaftler, Hochschullehrer und Erfolgsautor Walter Krämer ins Leben gerufen wurde. Wo die Tätigkeit der letzteren Vereinigung von Liebe zur Muttersprache getragen wird, sich zivilisierter Umgangsformen befleißigt und während irgendwelcher „Aktionen“ das Eigentum anderer auch dann achtet, wenn diese Anglizismen lieben (ebd., S. 283), überzeugt sie. Weniger schlagend hingegen mutet ihre Analyse der Ursachen an: Da ist (i) von „Sprachimperialismus“ die Rede – was einen Kategorienfehler beinhaltet, weil das Englische sich, einem Herrscher gleich, ein Reich bauen zu wollen scheint, obschon man dergleichen Absichten nur Personen zuschreiben kann –; werden (ii) Kontinentaleuropäer, welche sich des Englischen gern und oft bedienen, zu Äffenden gestempelt – was, von Fragen der Höflichkeit abgesehen, mehr als vorschnell wirkt, denn es könnte ja gute Gründe geben, sich der führenden Verkehrssprache in Wissenschaft und Ökonomie bedienen zu wollen –; werden (iii) mit Schlagworten wie „Stoppt die Amerikanisierung“ und „USA-Massenverblödung“ (ebd., S. 283) alte Verwerfungen zwischen Anglosphäre und Kontinentaleuropa aufgerissen, die bis in die letzten Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg zurückreichen, als Max Scheler, Werner Sombart und andere wider das Merkantil-Utilitaristische im Angelsächsischen zogen.

    Hören wir eine Passage aus dem Vortrag „Macht über Marionetten“ des Germanisten Gert Ueding, der auf der Website des VDS veröffentlicht worden ist:

     „Die Globalisierung läuft nach dem Vorbild der USA ab“, stellt der Leiter der Pariser Zweigstelle von McKinsey befriedigt fest und weist darauf hin, daß die Dominanz der englischen Sprache für diesen Erfolg nicht unwichtig ist. Wir können solches Understatement ruhigen Gewissens in seine reale Dimension übersetzen.

    Mit der Sprache wird angelsächsisches Wirtschaftsdenken übernommen, in dem etwa, so wieder jener McKinsey-Agent, die Unternehmenspolitik den Eigentümer-Interessen bedenkenlos untergeordnet wird, die Interessen der Beschäftigten keine Rolle spielen. Daß solche ökonomische Politik zur Unternehmenskultur hochgejubelt wird, wirkt wie ein zynischer lapsus linguae, ist aber in Wahrheit Bestandteil der Sprachpolitik. (G. Ueding, 2002)

    Ueding setzt dem angelsächsisch „kalten“ Stil des Wirtschaftens deutsches Verantwortungsbewusstsein entgegen. Dergleichen wirkt wie das Bekenntnis einer schönen Seele. Doch steckt nicht viel dahinter. Denn Uedings Ausführungen gereichen zu einer suppressio veri: Es ist keine Rede davon, dass (i) die den Eigentümer-Interessen Geopferten nicht selten selbst Anteilseigner sind, wo der Aktienbesitz weit gestreut ist, und (ii) in einer weniger überregulierten Wirtschaft Menschen, die entlassen werden oder kündigen, leichter andere Arbeit finden können. Außerdem „vergisst“ Ueding zu erwähnen, dass (iii) Eigentümer-Interessen selbst kulturstiftend wirken können. Stichwort: Mäzenatentum. Hingegen hat (iv) deutsche Sozialpartnerschaft ihren Preis; wer sich den Realien des Marktes verweigert, lässt seine Kinder und Kindeskinder die Zeche zahlen – was man als Verstoß gegen das siebte Gebot auffassen kann –, während in der Zwischenzeit die Bundesrepublik Deutschland als Wirtschaftsstandort an Brauchbarkeit verliert.

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    Fußball und Krieg

    Das linke Titelblatt trägt den Text „Polen-Rußland. Die Schlacht um Warschau 2012“. Es spielt auf den in Deutschland wenig bekannten Polnisch-sowjetischen Krieg (Wojna polsko-bolszewicka) an – und die entscheidende Schlacht in ihm.

    Das rechte Titelblatt ist schon etwas älter: aus dem Jahre 1996. Die englischen Fußball-Profis tragen Helme aus dem Ersten Weltkrieg. Und natürlich wird der kontinentale Gegner mit seinem Akzent geneckt: „For you, Fritz, ze Euro 96 Championchip is over.“

    Bemerkenswert ist, daß jeweils auf die Zeit des vorletzten großen Krieges zurückgegriffen wird. Nähere Erinnerungen würden zu schmerzlich sein.

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    Mit Rudyard Kipling zum neuen Jahr (II): Norman and Saxon

    My son,“ said the Norman Baron, „I am dying, and you will be heir
    To all the broad acres in England that William gave me for share
    When he conquered the Saxon at Hastings, and a nice little handful it is.
    But before you go over to rule it I want you to understand this:–

    „The Saxon is not like us Normans. His manners are not so polite.
    But he never means anything serious till he talks about justice and right.
    When he stands like an ox in the furrow – with his sullen set eyes on your own,
    And grumbles, ‚This isn’t fair dealing,‘ my son, leave the Saxon alone.

    Kipling fährt fort:

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    Grünkernsuppe mit Totalitarismus

    Zum deutschen Antimodernismus.

    Manfred Güllner, Chef des Meinungsforschungsinstituts Forsa, hat ein Buch über die Grünen geschrieben und Spiegel online ein Interview gewährt. Darin heißt es:

    SPIEGEL: Sie beschreiben die Grünen fast, als wären sie die neuen Nazis. Die Partei habe anfangs „gegen einen pragmatischen Politikstil und gegen die sich den Notwendigkeiten der Moderne öffnende Gesellschaft“ gekämpft.

    Güllner: Ich will die Grünen um Gottes willen nicht mit den Nazis vergleichen. Doch rein soziologisch betrachtet, entstammte der ursprüngliche Nukleus dieser Bewegung in der Weimarer Zeit und später der Grünen-Bewegung dem gleichen antimodernen Segment der Gesellschaft, einem radikalisierten Teil der deutschen Mittelschicht.

    Was soll man sagen? Das ist nichts Neues. Jeder, der sich auch nur ein wenig mit dem deutschen (bzw. deutschsprachigen) Antimodernismus seit der Zeit Wilhelms II. beschäftigt hat, zuckt mit den Schultern: „Ja mei…“

    Dennoch brodelt es in der Grünkern-Fraktion.

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