|

Kultur zwischen Gewinnstreben, Nächstenliebe und Sozialstaat

Epistemologische und ethische Katastrophen ereignen sich für gewöhnlich in den unausgesprochenen Zusatzannahmen. Einen beliebten Fehler bilden überstrenge Dichotomien, das ewige „Entweder-Oder“, wo es rein gar nichts zu suchen hat. Hören wir, um solcher Infantilerei abzuhelfen, ein wenig Wilhelm Röpke zu:

Daß […] den höchsten geistigen Leistungen das Gewinnmotiv keineswegs fremd ist, lehrt besonders eindringlich der Fall Goethes, der offenbar erst durch ein günstiges Angebot Cottas, seines Verlegers, den letzten Anstoß erhielt, seinen „Faust“ zu vollenden. Es war Schiller gewesen, der dieses Angebot hinter Goethes Rücken veranlaßt hatte, indem er an Cotta am 24. März 1800 schrieb: „Ich fürchte, Goethe läßt seinen „Faust“, an dem schon so viel gemacht ist, ganz liegen, wenn er nicht von außen und durch verlockende Offerten veranlaßt wird, sich noch einmal an diese große Arbeit zu machen und sie zu vollenden… Er rechnet freilich auf einen großen Profit, weil er weiß, daß man in Deutschland auf dieses Werk sehr gespannt ist. Sie können ihn, das bin ich überzeugt, durch glänzende Anerbietungen dahin bringen, dieses Werk in diesem Sommer auszuarbeiten“ […]. Die prompte Wirkung auf Goethe ist in seinem Brief an Schiller vom 11. April 1800 nachzulesen. Wer aber wollte deshalb das Gewinnmotiv schmähen!

Und – oder „aber“:

Wir begeben uns im Geiste vor eines der größten Werke abendländischer Kunst, die Wand- und Deckengemälde, mit denen Tintoretto die Säle der Bruderschaft zum Heiligen Rochus (Scuola di San Rocco) in Venedig geschmückt hat, einer jener kirchlichen Fürsorgegemeinschaften, die in der Handelsrepublik der Adria in der Weise ihrer Zeit das Problem der Lebensvorsorge der Schwachen gelöst haben und ohne die der Lagunenstaat schwerlich ein Jahrtausend lang ohne Revolution Bestand gehabt hätte. Der Hingabe der Bruderschaft entsprach diejenige des Künstlers, der für sein Riesenwerk gemäß der Überlieferung kein Honorar gefordert hatte.

Wenn wir einmal die abenteuerliche Annahme machen, daß es heute einen Maler vom Range Tintorettos gäbe, können wir uns ein Amt des Wohlfahrtsstaates vorstellen, das seine Räume von ihm ausschmücken ließe? Und einen Tintoretto, der sich, hingerissen von seiner Aufgabe, zum Preise Gottes, der Schönheit und der Nächstenliebe selbstlos und selbstvergessen seinem Werke hingeben würde?

Grausame Fragen. Aber dafür haben wir den modernen Wohlfahrtsstaat.

***

Wilhelm Röpke, Jenseits von Angebot und Nachfrage, Erlenbach-Zürich 1966, S.220 und 261-262. Hervorhebung im Original.