Christian Graf von Krockow: Drei Blicke auf Preußen

Christian Graf von Krockow: Drei Blicke auf Preußen

„Die Deutschen in ihrem Jahrhundert 1890-1990“ ist ein bemerkenswertes Buch. Es bietet eine Fülle nachdenklicher Passagen, die selbst dort, wo man seinem Verfasser Graf von Krockow nicht zustimmen möchte, bedenkenswert sind. Zumal auch der Ton des Werks angenehm wirkt; man hat den Eindruck, einem gelehrten und kultivierten Manne zu lauschen, wie dieser seine Gedanken entwickelt.

Es folgen drei Passagen aus dem Werk des Grafen, die von Preußen handeln. Deren erste weist darauf hin, was Preußen nicht ist:

Hitler behauptet, daß er die preußische Armee zum Vorbild nimmt. Dort aber gab es den absoluten und blinden Gehorsam der Befehlsempfänger gerade nicht. Es galt vielmehr die Eigenverantwortlichkeit in der Ausführung – wie die Anekdote aus der Schlacht bei Königgrätz anschaulich macht: Ein Major hat etwas Unsinniges getan und beruft sich auf den Befehl, der ihm erteilt wurde. Doch er bekommt zu hören: „Herr, dazu hat Sie der König von Preußen zum Stabsoffizier gemacht, daß Sie wissen, wann Sie einen Befehl nicht ausführen dürfen!“

Die zweite Passage reicht tief in die Ethik und Geschichtsphilosophie; sie fragt nach dem summum bonum „des“ Preußen – und sucht den Kontrast in der Neuen Welt:

…kommt es auf den Idealismus des Selbstopfers im Dienst für das Höhere und Höchste an, sei dies der Staat, das Volk, die Gemeinschaft oder was auch immer. Nicht das Lebensglück zählt, sondern die Pflichterfüllung. Auch dafür hat der Soldatenkönig das Muster geschaffen; in seinem Zeichen steht der Kampf mit dem Thronerben – und der Sieg des Vaters über den Sohn. Was wiegt dagegen der persönliche Preis, den Friedrich zahlen muß, die unerbittlich wachsende Einsamkeit, am Ende die Menschenverachtung, der bloß noch Hunde als Gefährten bleiben?

Unsere Kathedrale der Pflichterfüllung, über einer Schädelstätte des Glücks aufgetürmt: Es ist des Nachdenkens wert, daß noch zu Lebzeiten des großen Königs, 1776, fern im Westen der Gegenentwurf seine Gestalt finden wird, der dazu bestimmt ist, Epoche zu machen: „pursuit of happiness“, das Streben nach Glück als ein dem Menschen eingeborenes und unveräußerliches Recht.

Ernst Jünger allerdings hat wiederum dazu die Gegenparole gefunden: „Jede Haltung“, sagt er 1932, „der ein wirkliches Verhältnis zur Macht gegeben ist, läßt sich auch daran erkennen, daß sie den Menschen nicht als Ziel, sondern als Mittel… begreift. Der Mensch entfaltet seine höchste Kraft, entfaltet Herrschaft überall dort, wo er im Dienste steht. Es ist das Geheimnis der echten Befehlssprache, daß sie nicht Versprechungen macht, sondern Forderungen stellt. Das tiefste Glück des Menschen besteht darin, daß er geopfert wird, und die höchste Befehlskunst darin, Ziele zu zeigen, die des Opfers würdig sind.“ Das erwies sich keineswegs als Wahn, sondern als eine deutsche Wahrheit – oder wenn es denn Wahn war, als der schreckensvoll wirksame.“

Die dritte und letzte Passage schließlich beleuchtet anläßlich der de-facto-Vernichtung Preußens den deutschen Regionalismus, eine – wie bei dieser Gelegenheit zu bemerken sowohl sinnvoll, als auch verzeihlich sein mag – aus polnischer Perspektive oftmals unterschätzte Größe in der deutschen Geschichte:

Der Verfasser ist zufällig Zeuge eines Festakts zur Gründung der „Niedersächsischen Landespartei“ im Jahre 1946 gewesen. Damals stellte der Hauptredner – später Bundesminister, dann Ministerpräsident von Niedersachsen – die geschichtliche Stunde unter das Motto: „Der Erbfeind (Preußen) liegt zerschmettert am Boden, die achtzigjährige Schmach von Langensalza (Kapitulation der hannoverschen Armee vor der preußischen) [oben] ist gelöscht und die gelbweiße Fahne wieder am Mast!“

***

Christian Graf von Krockow, „Die Deutschen in ihrem Jahrhundert 1890-1990“, rev. und erw. Ausgabe, Reinbek bei Hamburg 1990, Seiten 162-163, 413 und 442.

„Naseweise klüglinge/vnd gehessige Neidharten“

„Naseweise klüglinge/vnd gehessige Neidharten“

Es wird Zeit, wieder einmal etwas Schönes zu hören. Deshalb folgt nun die Vorrede („Author ad Isagogen“) aus Heinrich Stahls „Anführung zu der Esthnischen Sprach“, die 1637 in Reval, dem heutigen Tallinn erschienen ist.

GEhe hin/meine Anführung/in die Welt/vnd vnter die Leute/und hilff denen/so zur Esthnischen Sprache beliebung tragen/das sie zu deroselben wissenschafft gelangen/vnd ihrer gebrauchen/Gott zu Ehren/ihnen selbst zu zeitlichem vnd ewigen gedeyen/vnd vielen Menschen zu nutz vnd frommen/wie du dann vmb solcher/und keiner andern Vrsachen willen von mir abgefertiget wirst.

Ich will dir aber zuvor sagen/vnd verkündigen/wie es dir gehen werde/vnd was du wirst zu erwarten haben/auff das du dich desto besser in die Zeit schicken/darnach richten/vnd gegen männiglich der gebühr nach verhalten/vnd bezeigen möges.

Es werden dir/liebe Anführung/begegnen viele fromme hertzen/die dich mit frewden empfangen/annemen/vnd deiner gebrauchen werden: Denen selben soltu dienen/vnd so viel möglich/befürderlich sein/das sie die Esthnische Sprache fassen/vnd wesser art sie sey/erkennen/oder/da sie selbige schon zuvor wissen/das sie sich mit dir eine kleine weile belüstigen/ und ergetzen; Darnach soltu deine Großgünstige Herren auch fleissig ersuchen/das sie für lieb annemen/was ich/mit vielfältiger mühe vnd schwerer Arbeit häuffig vnd überlüssig beladen/in kurtzer Zeit/schleunigst entworffen/vnd dir mitgetheilet/vnd sich nicht wundern lassen/dafern etwas unverhoffentlich untergeschlichen/das allerdings nicht besteht/vnd sie besser verstehen […]. So aber einem oder dem andern düncket/das an dir/oder meinen andern Schriften/die außgekommen/vnd hinführo außkommen werden/etwas zu endern/zuzusetzen/außzuwerfen/vnd zuverbessern/allermassen ich selbst erkenne/das du noch vnvollkommen/vnd nur auß dem gröbesten gehawen/den oder dieselben soltu bitten/das sie mich dessen Schrifft- oder Mündtlich ohne schew erinnern/Ich erbiete mich solches danckbarlich anzunehmen/vnd guten Raht williglich zu folgen.

Neben diesen wirstu auch antreffen Naseweise klüglinge/vnd gehessige Neidharten/welche bald hie/bald dort etwas herfür suchen und außklauben/selbiges durch ihren klugen Kopff ziehen/anzischen/lästern/tadeln/vnd nach ihrer hocherhabenen Naseweißheit meistern vnnd klügeln werden/nicht das sie dazu gnugsahme vrsachen hetten/sondern die Leute sehen/hinder ihren grossen Bärten/vnnd anschlägigen Köpffen stecke auch/vnd sey vergraben/grosse/vnerforschliche/thörliche klugheit/für welcher sie bersten möchten.

Stahl fährt fort:

Denenselben soltu melden/Erstlich/das es zeit sey/von ihrer Mißgunst abzustehen/vnd GOtt keine Ehre/auch den Menschen ihr bestes zu vergönnen/massen sie mit solcher ihrer Mißgunst/da sie vngern sehen/das die Esthnische Sprache gemein wird/keinen höher/als sich selbst/beleidigen/ihr eigen Hertz quelen/vnnd doch das aller geringste an meinem führhaben nicht behindern: Darnach/das sie zum Artzten gehen/und sich curiren lassen von der gefährlichen Seuche der Faulheit/damit sie beladen sind/ehe dieselbe gar überhand nimmet/vnnd sie in derselben mit grosser schmach und schande sterben vnd vntergehen: vnnd endtlich/das sie aus der Schatzkammer ihrer Weißheit etwas bessers an den Tag bringen/so werden männiglich dessen gebrauchen/Ihnen dafür Lob und Danck sagen/vnd ihre Weißheit/wie billich/in den Himmel erheben.

Zitiert nach der zweiten Auflage des Neudrucks, Brampton/Tartu 2000.

23./24. August 1939: Hitler-Stalin-Pakt

Richard Wagner erinnert an ein Datum, das viele „Progressive“ lieber vergessen möchten: Vor 72 Jahren haben Hitler und Stalin die vierte Teilung Polens beschlossen. Der Hitler-Stalin-Pakt bildet einen blinden Fleck im historischen Bewußtsein vieler Deutscher – wohl auch deshalb, weil er von deutschen und russischen Historikern als Randerscheinung behandelt wird.

Wagner:

„In der Akademie für politische Bildung in Tutzing fand im Juli eine deutsch-russische Historikertagung statt. Es ging um „Erinnerungsorte des 20. Jahrhunderts im russischen und deutschen Gedächtnis.“ Der Titel wurde durch drei Jahreszahlen aufschluss-und folgenreich markiert: 1941, Hitlers Angriff auf die Sowjetunion; 1961, Mauerbau und 1991, das Ende der Sowjetunion. Der Hitler-Stalin-Pakt von 1939 war zwar am Rande auch ein Thema, aber nur am Rande.

Sein Status als Marginalie erlaubt es über die Ereignisse vom 23.August 1939 bis zum 22. Juli 1941 hinwegzusehen. Diese aber stellen eine mustergültige Zeugenschaft für den Totalitarismus dar. Ihre Betrachtung macht jede Debatte über die Vergleichbarkeit der beiden extremistischen Systeme überflüssig. Ihre Verbrechen erweisen sich als so überzeugend austauschbar, dass noch in späten Projekten, wie dem der ersten Wehrmachtsausstellung, Dokumente falsch zugeordnet werden konnten.“

Wagner schließt:

„In den von Stalin besetzten Gebieten beginnt das „Rote Jahr“ 1940, das von Willkür und Terror, Enteignung und Deportation geprägt ist. Es ist für die Völker Ost- und Ostmitteleuropas die Einführung in das, was sie mit dem Kalten Krieg, von dem sie noch nichts wissen können, in der Nachkriegszeit erwartet.“

Die Angehörigen dieser Völker dürften sich wundern, daß ein Artikel, wie ihn Wagner geschrieben hat, überhaupt notwendig ist. An der Weichsel etwa hält kaum jemand eine „Debatte über die Vergleichbarkeit der beiden extremistischen [oder totalitaristischen] Systeme“ für unabdingbar. Von Polen aus ist die Sache klar – wie sie übrigens auch für den sowjetischen Schriftsteller Vasilij Grossman klar gewesen ist.

Rudyard Kipling: Gestern vor knapp 800 Jahren
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Rudyard Kipling: Gestern vor knapp 800 Jahren

Rudyard Kiplings „The Reeds of Runnymede“ (Magna Charta, June 15, 1215) — mit einigen Hervorhebungen und Kommentaren.

At Runnymede, at Runnymede
What say the reeds at Runnymede?
The lissom reeds that give and take,
That bend so far, but never break.
They keep the sleepy Thames awake
With tales of John at Runnymede.

At Runnymede, at Runnymede,
Oh, hear the reeds at Runnymede: —
„You mustn’t sell, delay, deny,
A freeman’s right or liberty.
It wakes the stubborn Englishry,
We saw ‚em roused at Runnymede!

Rechte sind „negativ“; sie verbieten dem Staat und dem Mitbürger, dies und jenes mit einem Menschen zu tun. Und sie müssen verteidigt werden.

„When through our ranks the Barons came,
With little thought of praise or blame,
But resolute to play the game,
They lumbered up to Runnymede;
And there they launched in solid line
The first attack on Right Divine —
The curt, uncompromising ‚Sign!‘
That settled John at Runnymede.

„At Runnymede, at Runnymede,
Your rights were won at Runnymede!
No freeman shall be fined or bound,
Or dispossessed of freehold ground,
Except by lawful judgment found
And passed upon him by his peers.
Forget not, after all these years,
The Charter Signed at Runnymede.“

Rechte fallen nicht vom Himmel; sie müssen erkämpft werden.

And still when Mob or Monarch lays
Too rude a hand on English ways,
The whisper wakes, the shudder plays,
Across the reeds at Runnymede.
And Thames, that knows the moods of kings,
And crowds and priests and suchlike things,
Rolls deep and dreadful as he brings
Their warning down from Runnymede!

Die Herrschaft des Rechts (Rule of Law) darf nicht mit der Herrschaft der Mehrheit des Volkes verwechselt werden. Die Frage, wer herrschen soll, ist irreführend. Es geht darum, was herrschen soll: Ein Recht, das jeden einzelnen Bürger vor Staat und Mitbürgern schützt.

Der Bildungsauftrag öffentlich-rechtlicher Medien in historischer Perspektive
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Der Bildungsauftrag öffentlich-rechtlicher Medien in historischer Perspektive

Als Winston Churchill ’störte‘. Milton Friedman:

From 1933 to the outbreak of World War II, Churchill was not permitted to talk over the British radio, which was, of course, a government monopoly administered by the British Broadcasting Corporation. Here was a leading citizen of his country, a Member of Parliament, a former cabinet minister, a man who was desperately trying by every device possible to persuade his countrymen to take steps to ward off the menace of Hitler’s Germany. He was not permitted to talk over the radio to the British people because the BBC was a government monopoly and his position was too „controversial“.

(Capitalism and Freedom, Chicago 2002, S. 19.)

Mit Rudyard Kipling zum neuen Jahr
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Mit Rudyard Kipling zum neuen Jahr

Dane-Geld

A.D. 980-1016

It is always a temptation to an armed and agile nation
To call upon a neighbour and to say: —
„We invaded you last night – we are quite prepared to fight,
Unless you pay us cash to go away.“

And that is called asking for Dane-geld,
And the people who ask it explain
That you’ve only to pay ‚em the Dane-geld
And then you’ll get rid of the Dane!

It is always a temptation for a rich and lazy nation,
To puff and look important and to say: —
„Though we know we should defeat you, we have not the time to meet you.
We will therefore pay you cash to go away.“

And that is called paying the Dane-Geld;
But we’ve proved it again and again,
That if once you have paid him the Dane-geld
You never get rid of the Dane.

It is wrong to put temptation in the path of any nation,
For fear they should succumb and go astray;
So when you are requested to pay up or be molested,
You will find it better policy to say: —

„We never pay any-one Dane-Geld,
No matter how trifling the cost;
For the end of that game is oppression and shame,
And the nation that pays it is lost!

Wie man die schlechte Nachricht höflich überbringt
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Wie man die schlechte Nachricht höflich überbringt

Hagen Schulzes „Kleine deutsche Geschichte“ zeichnet – neben vielem anderen – die deutsche Sozialstaatstradition nach. Der Historiker übt Zurückhaltung. Denn die Fakten sprechen für sich.

Schulze über das Deutsche Reich von 1871:

Das Sozialistengesetz von 1878 war die staatliche Antwort auf die Kampfansage der „Umsturzpartei“, wenn es sich auch in Kenntnis politischer Unterdrückungsmaßnahmen des 20. Jahrhunderts fast harmlos ausnimmt – immerhin blieb die SPD-Reichstagsfraktion bestehen und erstarkte von Wahl zu Wahl. Auf der anderen Seite führte die Reichsregierung seit 1880 Schritt für Schritt eine staatliche Sozialversicherung ein, die vorbildlich für ganz Europa wurde, um aus besitzlosen Sozialisten konservative Rentiers zu machen – was das anging, erwies sich die europaweit vorbildliche, wenn auch ganz aus dem Geist des ostelbischen Paternalismus erdachte Sozialpolitik als erfolglos, denn nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes 1890 war der Zustrom zur SPD stärker denn je. (Kleine deutsche Geschichte, S. 136)

Ansprüche auf Ansprüche (entitlements) wachsen mit dem Essen.

Mehr
Russell über Marx und Calvin
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Russell über Marx und Calvin

Unsere Linksradikalen jugendlichen oder berufsjugendlichen Zuschnitts halten sich für „rationaler“ – es lebe der Komparativ! – als ihre nicht-linken Zeitgenossen. Diese Selbsteinschätzung könnte sich jedoch als hinfällig erweisen, wie Bertrand Russell in „New Hopes for a Changing World“ zeigt:

There is in Marx a cold logic which is reminiscent of Calvin. Calvin held that certain people – chosen not for their virtues but arbitrarily – are predestined to go to heaven, and the rest are predestined to go to hell. No one has a free will: if the elect behave well that is by God’s grace, and if the reprobate behave badly, that again is because God has so willed it. So in Marx’s system if you are born a proletarian you are fated to carry out the purposes of Dialectical Materialism (as the new God is called), while if you are born a bourgeois you are predestined to struggle vainly against the light, and to be cast into outer darkness if you live until the coming Revolution.

The whole process of history proceeds according to a logical system, which Marx took over, with slight modifications, from Hegel. Human developments are as irresistible and as independent of human will as the movements of the heavenly bodies. The force that brings about change in social affairs is the conflict of classes. After the proletarian revolution there will be only one class, and therefore change will cease. For a time the dispossessed bourgeoisie will suffer, and the elect, like Tertullian, will diversify their bliss by the contemplation of the damned in concentration camps. But Marx, more merciful than Calvin, will allow their sufferings to end with death.

This curiously primitive myth…

Was könnte man noch hinzufügen?

(Das Zitat findet sich auf den Seiten 121-122 der Ausgabe, welche 1956 bei George Allen & Unwin in London erschienen ist.)