Stil im Alltag

  • |

    Da in den Wäldern (silvae)…

    …Peter Rühmkorfs „Über das Volksvermögen“ erwähnt wird, erinnere ich mich plötzlich, wie an der Georgia Augusta eine Lehrveranstaltung für Erstsemester, deren Teilnehmer verschreckt und stocksteif darauf bedacht waren, sich nur ja keine Blöße zu geben, durch eine junge Frau ländlicher Anmutung, die noch vor wenigen Wochen eine Schulbank in, sagen wir, Winsen an der Luhe gedrückt haben mochte, gerettet – ja: gerettet – wurde; die Gute nämlich nahm, während sie ein vernichtend langweiliges Referat über Rühmkorf zu ertragen verurteilt war, den herumgehenden Band „Über das Volksvermögen“ in die Hand, öffnete ihn an beliebiger Stelle und begann, in den dort gesammelten und durchaus saftig-defitigen Reimereien der sogenannt einfachen Leute zu lesen. (Die ‚einfachen‘ Leute sind nur selten einfach, aber das nur am Rande.) Wie dem auch sei; die Zoten taten das Ihre, und die sympathische Studentin begann hemmungs-, aber auch lautlos – sie wollte ja nicht stören – zu lachen, schlug eine Seite um, prustete annähernd stumm – eine Meisterleistung der Körperbeherrschung – los, um auch dasjenige, was ihrer dort harrte, angemessen zu rezipieren. Ihr Antlitz bekam die Farbe eines reifen Pfirsichs; ihre hellen Augen füllten Lachtränen, ihr Körper vibrierte unter dem Versuch, sich zu beherrschen. Schließlich übertrug sich ihre Freude auf uns, wiewohl wir einige Zeit kopfschüttelnd für naiv oder sonstwie unangemessen gehalten hatten (vielleicht auch nur unsicher gewesen waren), was sie – oder was sich mit ihr – tat; und selbst der melancholische Dozent vergaß, woran er gelitten hatte. Er strahlte sie und uns an.

    Das also war sie, die Wirkung der Literatur.

  • |

    Während im Westen darüber diskutiert wird, ob mit Notre Dame…

    …ein historisches Gebäude, ein Gotteshaus oder ein Symbol ausgebrannt sei, bereiten sich viele Menschen in Polen auf das Osterfest vor. Reichlich zweihundert Kirchen öffnen in den Nächten vor Ostersonntag, Priester nehmen bis Mitternacht, drei oder gar sechs Uhr morgens die Beichte ab, damit die Gläubigen als freie Menschen am Auferstehungsfest teilnehmen können. „Noc konfesjonałów„, Nacht der Beichtstühle.

  • Piraten!

    Nein, die Piraterei ist nicht tot. – Eine interaktive Karte maritimer Raubüberfälle in den letzten vierzig Jahren (1978-2018) finden Sie hier.

  • |

    „Unplanned“

    Der vor kurzem in den Vereinigten Staaten angelaufene Film „Unplanned“ erzählt aus dem Leben von Abby Johnson, die als Direktorin einer PlannedParenthood-Abtreibungsklinik gearbeitet hat, bis sie während eines Schwangerschaftsabbruchs auf dem Computer-Monitor – per Ultraschall – beobachten konnte, was der Absaug-Apparat mit dem ungeborenen Kind tut und wie das Kind auf die Annäherung dieses Apparates reagiert, bevor es in Stücke und aus der Mutter gerissen wird. Seitdem widmet Abby Johnson ihr Leben dem Kampf gegen die Abtreibung.

    Bemerkenswert ist nicht nur der Film, sondern auch, wie mit ihm umgegangen wird. Wenn man den Berichten glauben darf, verweigerten bedeutende Medienkonzerne die Lizenz, ihre Musikstücke für den Soundtrack des Films zu gebrauchen. Viele führende Presseorgane ignorierten den Film; Fernsehgesellschaften zeigten keine Werbespots. Der Twitter-Account von „Unplanned“ war zeitweise lahmgelegt, die Follower-Anzahl schlug Kapriolen. Trotzdem verzeichnet der Film an den Kinokassen keine geringen Erfolge.

    Ganz gleich, wie man zur Abtreibung steht, läßt sich an dem Gelingen des Filmprojekts „Unplanned“ einiges lernen. Wenn Sie dessen Website näher anschauen, erkennen Sie, daß hier robustes Marketing betrieben wird – robust in dem Sinne nämlich, daß es, nun, Schwierigkeiten mit den großen Internetplattformen aushält. Plakate, Memes, Bilder von Filmszenen und anderes Material sind dort herunterzuladen, ja selbst der Trailer, falls er auf Youtube verschwinden sollte. Beherztes, selbständiges, kluges Handeln lohnt, mehr als das Gejammere über die Gemeinheiten von Big Tech.

    Das, liebe Freunde, ist Amerikanismus im besten Sinne!

  • Problemsucht

    Vorgestern im Netz geschaut, ob es brauchbare Arbeitsblätter gibt, mit denen sich das Zusammenfassen von Sachtexten üben läßt. Der erste Vorschlag, den ich angeklickt habe, basierte auf einem Text zum Thema Internetsucht, der zweite Vorschlag bezog sich auf einen Text über Schadstoffe in Nahrungsmitteln. Den dritten Vorschlag – ertrinkende Eisbären? Rechtsextremismus in den neuen Bundesländern? Mobbing in Kindertagesstätten? – habe ich nicht mehr angeklickt.

  • Unsere Schuld

    Es ist alles unsere Schuld. Denn wir haben die Krawatte weggelassen. Offene Hemden finden wir bequemer. Dann haben wir begonnen, nicht mehr „Guten Tag“ zu sagen, sondern „Tag auch“.

    Alles unsere Schuld. Denn nach den Krawatten sind die Anzüge verschwunden. Chinos und Sakko geht ja auch. Und die Chinos kann man selber waschen. Das finden wir bequemer, wie es ja auch reicht, „Hi“ oder „Hallo“ zu sagen. Schließlich sind wir alle gleich. Dann haben wir unterlassen, unser Latein und Griechisch zu pflegen. Die Übersetzungen sind okay. Das paßt schon. Einer Dame in den Mantel helfen? Überholt.

    Alles unsere Schuld. Denn nach den Anzügen sind die Sakkos im Schrank geblieben. Wozu so förmlich? Das ist bequemer. Dann haben wir begonnen, statt der Klassiker über die Klassiker zu lesen. Das geht schneller. Die Kenner teilen uns das Wesentliche mit, und wir sind hinreichend orientiert. Unsere Frau oder Freundin kann sich die Beifahrertür selber öffnen. Und der Sonntagmorgen ist zum Ausschlafen da.

    Unsere Schuld. Denn inzwischen sind sommers die langen Hosen verschwunden; kurze tun’s auch. Wozu sich quälen? Hat doch keinen Sinn! Oder doch? Denn vor einiger Zeit haben wir uns zu wundern bekommen, weshalb unsere und andere Kinder aufwachsen, als hätten sie keine Vorbilder um und vor sich. Kommt die Rede auf Johann Sebastian Bach, Andrea Palladio oder Thomas Mann, ja selbst auf’s Rasenmähen, gähnt uns blasierte Faulheit entgegen.

  • |

    Confidence

    Einer der besseren Right Angles (ehemals Trifecta) über die Frage, weshalb die USA den nächsten Großkonflikt nicht verlieren werden. Selbstvertrauen und Dankbarkeit zu rechten Anteilen gemischt – ein Genuß. Und die Euroweenies unter uns, sie sollten sich zu Gemüte führen, was Stephen Green – oder Esteban Verde – (ab 3′ 35“) über Spielsüchtige zu sagen hat: jene seien, so Green, vernarrt in das Gefühl des Verlierens.