Unsere Schuld
Es ist alles unsere Schuld. Denn wir haben die Krawatte weggelassen. Offene Hemden finden wir bequemer. Dann haben wir begonnen, nicht mehr „Guten Tag“ zu sagen, sondern „Tag auch“.
Alles unsere Schuld. Denn nach den Krawatten sind die Anzüge verschwunden. Chinos und Sakko geht ja auch. Und die Chinos kann man selber waschen. Das finden wir bequemer, wie es ja auch reicht, „Hi“ oder „Hallo“ zu sagen. Schließlich sind wir alle gleich. Dann haben wir unterlassen, unser Latein und Griechisch zu pflegen. Die Übersetzungen sind okay. Das paßt schon. Einer Dame in den Mantel helfen? Überholt.
Alles unsere Schuld. Denn nach den Anzügen sind die Sakkos im Schrank geblieben. Wozu so förmlich? Das ist bequemer. Dann haben wir begonnen, statt der Klassiker über die Klassiker zu lesen. Das geht schneller. Die Kenner teilen uns das Wesentliche mit, und wir sind hinreichend orientiert. Unsere Frau oder Freundin kann sich die Beifahrertür selber öffnen. Und der Sonntagmorgen ist zum Ausschlafen da.
Unsere Schuld. Denn inzwischen sind sommers die langen Hosen verschwunden; kurze tun’s auch. Wozu sich quälen? Hat doch keinen Sinn! Oder doch? Denn vor einiger Zeit haben wir uns zu wundern bekommen, weshalb unsere und andere Kinder aufwachsen, als hätten sie keine Vorbilder um und vor sich. Kommt die Rede auf Johann Sebastian Bach, Andrea Palladio oder Thomas Mann, ja selbst auf’s Rasenmähen, gähnt uns blasierte Faulheit entgegen.