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Jacek Gniadek: Pseudo-Wohltätigkeit

Der katholische Priester Jacek Gniadek – Verfasser eines interessanten Buchs über Johannes Paul II und Ludwig von Mises – konstatiert bezüglich der Frage, was keine Wohltätigkeit bilde:

Rozdawanie cudzej własności nie jest dobroczynnością. (Das Verteilen fremden Eigentums ist keine Wohltätigkeit.)

Nicht alle, aber doch viele Steuern sind Raub. Namentlich jene, die zur Finanzierung ’sozialer‘ Wohltaten, von Umerziehung und sonstigem DOGE-würdigen Gedöns dienen. Daß dergleichen überhaupt betont werden muß, weist auf die moralische Verwirrung unserer Zeit hin…

Max Scheler: Ein Kurzportrait zum 150. Geburtstag
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Max Scheler: Ein Kurzportrait zum 150. Geburtstag

Max Scheler feiert 150. Geburtstag. Höchste Zeit also, ihn vor dem schlimmsten Los zu bewahren, das einem Denker drohen kann: zum Klassiker und folglich unschädlich gemacht zu werden.

Von allen Schriften Schelers empfiehlt sich zum Einstieg – und zu vielfachem Wiederlesen – seine rund 120 Seiten zählende Studie über Das Ressentiment im Aufbau der Moralen, deren erste Fassung unter dem Titel Ressentiment und moralisches Werturteil 1912 in Leipzig erschienen ist. 

Schelers Thema stammt von Nietzsche her, das Ressentiment als schöpferische Rache der Talent- und Charakterlosen, der Ungestalten und sonstwie Zukurzgekommenen an Gott und der Welt. Schöpferisch wird ihre Rache per Umwertung: sie stülpt die eigentliche Wertordnung um, so daß sie auf dem Kopf steht. Im Ergebnis gilt, wie in Deutschland leider sehr ausgeprägt, der Elegante als ‚flach‘, der Grobschlächtige als ‚authentisch‘, und Erfolgreiche werden als Leute verlacht, die psychische Defizite kompensieren.  

Schelers Ressentiment-Schrift modifiziert Nietzsches Standpunkt – gerade dort, wo jener, wie es in Ecce Homo heißt, „Dionysos gegen den Gekreuzigten“ antreten läßt. Das Christentum wird nun nicht mehr in Bausch und Bogen als Ausfluß des Ressentiments verurteilt. Für Scheler ist klar, „daß die Wurzel der christlichen Liebe von Ressentiment völlig frei ist – daß aber andererseits keine Idee leichter durch vorhandenes Ressentiment für dessen Tendenzen zu verwenden ist, um eine jener Idee entsprechende Emotion vorzutäuschen“. Wo wir beim Vortäuschen sind: Schelers Abhandlung besticht durch ihre Analyse der „Werttäuschungen“ als Folge von Ressentiment und Ursache beständigen Unglücks auf Seiten der Verbitterten, da die Täuschungen stets unvollständig bleiben. Die eigentlichen Werte sind, so Scheler, „noch da, aber gleichsam überdeckt von den Täuschungswerten, durch die sie nur schwach hindurchscheinen.“ Der Ressentiment-Mensch weiß, daß er in einer Scheinwelt lebt. Das mag das rasche Aufbrausen vieler unserer Gutmenschen erklären. 

Mit Schelers ‚Rettung‘ des Christentums öffnet sich eine faszinierende Rezeptionslinie. Karol Wojtyła, der spätere Johannes Paul II., verfaßt eine Habilitationsschrift über Scheler und variiert dort dessen Formel bezüglich des Christentums. Schelers Theorie sei – es folgt eine geraffte Übertragung des polnischen Originals – prinzipiell ungeeignet, um die christliche Ethik zu interpretieren, erweise sich jedoch als nützlich, wo es in der wissenschaftlichen Arbeit von Theologen darum gehe, ethische Phänomene und Erfahrungen zu analysieren. Aus Wojtyłas Habilitation allerdings sollte, den Realien in der Volksrepublik Polen geschuldet, nichts werden.

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Karsten Dahlmanns: „Stefan George zwischen Antiamerikanismus und Anglophilie“ jetzt im OA verfügbar
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Karsten Dahlmanns: „Stefan George zwischen Antiamerikanismus und Anglophilie“ jetzt im OA verfügbar

Nach Ablauf der Schutzfrist ist mein Aufsatz über Antiamerikanismus und Anglophilie bei Stefan George jetzt im OpenAccess zugänglich. Sie finden ihn in der eLibrary des Verlags Vandenhoeck & Ruprecht oder hier (PDF), außerdem – mit den Fußnoten des Originals als Endnoten – einige wenige Millimeter unterhalb dieser Vorrede. Viel Freude bei der Lektüre!

I

Stefan George war kein Freund der Vereinigten Staaten von Amerika und ihrer Bewohner. Kamen Land und Leute vor dem ‚Meister‘ zur Sprache, „rümpfte Man [George – K.D.] gleich die Nase.“[1] Während eines Tischgesprächs in Minusio bemerkte der Dichter, dass „Amerika […] wohl ungefähr dem entspräche was für die Griechen die Barbarei gewesen sei.“[2] Als zur Diskussion stand, ob Friedrich Wolters für einige Monate an eine amerikanische Universität gehen solle, sprach sich George dagegen aus: „nee, um Gottes willen – wenn man da nur ausspuckt, hinterläßt man viel zu viel geist – – die pa[a]r deutschen ideen davon lebt die welt sogar der sozialismus der schund – nicht mal den können sie hervorbringen“.[3] Denn „Geist gibt’s dort nicht.“[4]

Dies ist die radikalste Variante Georgescher Amerikaverdammung; eine geringfügig mildere Abart – von Ute Oelmann aus dem Nachlass herausgegeben – gesteht
zu, dass es in der Neuen Welt ‚Geist‘ gebe, dieser aber bloß als Unterhaltung oder ergänzende, oberflächliche Motivation zu weiterer Wirtschaftstätigkeit geduldet werde:

In Amerika ist die Erziehung zum Dollar, das geistige wird dort nur geduldet, weil┌obwol xxxxx┐es doch nötig┌könnte┐damit der Dollarmensch┌macher┐nicht einschläft. (weil es vielleicht doch dazu gehört)[5]

Ob nun die schärfere oder die mildere Variante als wesentlich für Georges Denken angenommen wird: in beiden Fällen fungieren die Vereinigten Staaten als eine Art Gegenwelt. Dort herrscht, was George nicht schätzt, und dorthin lassen sich Anhänger, die den ‚Meister‘ enttäuscht oder verärgert haben, abschieben. Entsprechend bemerkte George über Percy Gothein: „Früher hat man einem solchen Menschen ein paar hundert Mark in die Hand gedrückt und gesagt, geh übers große Wasser und verschwinde!“[6]

Ein entscheidender Zug Georgescher Amerikafeindschaft besteht darin, dass sie mit den tatsächlich existierenden Vereinigten Staaten allenfalls mittelbar zu tun hat. Dies zeigt die folgende, von Edith Landmann überlieferte Äußerung, in der den Menschen in der Neuen Welt jegliche Möglichkeit abgesprochen wird, sich zum Besseren zu entwickeln:

als er [George – K.D.] von einer grässlichen rosinenbrühe erzählte, die als kalifornischer wein ausgegeben wurde, und I. [Julius Landmann – K.D.] meinte, das habe seine zeit, in 200 jahren werde es da einen possiblen wein geben, er: nie wird es ihn geben, Lumpenpack sind sie, und lumpenpack werden sie bleiben. ich weiss auch warum. aber ich werde mich hüten es zu sagen sie sollen lumpenpack bleiben[.][7]

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Von Büchsen und Burgern. Zum deutschsprachigen Antiamerikanismus innerhalb und außerhalb der schönen Literatur
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Von Büchsen und Burgern. Zum deutschsprachigen Antiamerikanismus innerhalb und außerhalb der schönen Literatur

Acta Neophilologica XXV/1 (2023), S. 85-97 (PDF)

Einführung

Die Vereinigten Staaten von Amerika spielen eine bedeutende Rolle für das Selbstverständnis vieler Menschen im deutschen Sprachraum, oft als abschreckendes Beispiel. Die US-Amerikaner handeln oder sind, wie viele Deutsche und Österreicher nicht handeln oder sein wollen.[1] Dabei bezeichnet der Übergang von einer Kritik an einzelnen Handlungen zu einer Totalverwerfung des Betrachteten, zu einer Kritik an dessen Sein, den Übergang von legitimer Kritik zu Antiamerikanismus (Markovits 2007: 11). Dass eine solche Totalverwerfung in einer beträchtlichen Anzahl von Fällen auf Neid oder Ressentiment (Diner 2003: 7; Epstein 2003: 55–57; Schoeck 1958: 178) zurückgehen dürfte, kann im gegenwärtigen Rahmen nur vermerkt, nicht aber diskutiert werden.

Der mitteleuropäische Antiamerikanismus zeigt sich sozial ungleichmäßig verteilt. „‚Gewöhnliche‘ Europäer haben niemals dieselbe Abneigung gegen Amerika gehegt wie ihre Eliten.“ (Markovits 2008: 52) Dies führt zu einer überraschenden Anomalie, wo Xenophobie im Deutschland und Österreich der Gegenwart betrachtet wird: „die Welt der Universitäten ist allen Minoritäten gegenüber toleranter als Bürger sozial niedrigerer Schichten. Nur beim Antiamerikanismus ist dies nicht der Fall.“ (Markovits 2008: 54)
Das bedeutet in lebenspraktischer Hinsicht: Während die ‚einfachen‘ Leute den (vermeintlichen oder tatsächlichen) Segnungen des American Way of Life recht offen gegenüberstehen und übernehmen, was sie ästhetisch überzeugt, sofern sie es sich finanziell erlauben können, sind es namhafte oder weniger bekannte Vertreter der schreibenden Zunft, Intellektuelle jeglicher Abstufung, die den Antiamerikanismus verbreiten. Diesem Umstand wird auf den nachfolgenden Seiten Rechnung getragen, indem der Antiamerikanismus eines Stefan George zur Sprache kommt, der antiamerikanische Gehalt des Romans Die andere Seite von Alfred Kubin, außerdem einige Artikel der satirischen Zeitschrift Simplicissimus betrachtet werden.

Natürlich unterliegt auch der deutschsprachige Antiamerikanismus kultureller Evolution, was schon deshalb berücksichtigt werden sollte, weil die folgenden Seiten Vignetten aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg bis hin zur Gegenwart versammeln. Hier muss eine wesentliche Veränderung in Betracht gezogen werden: „Das Milieu, welches früher in Österreich und Deutschland schwarz oder braun war, ist seit Ende der 60er Jahre rot und heute oft mehrheitlich grün.“ (Markovits 2008: 54) Dies betrifft natürlich vor allem die Westhälfte der heutigen Bundesrepublik Deutschland (Schwaabe 2003: 157). Der Antiamerikanismus gewisser Kreise des deutschsprachigen Bildungsbürgertums in Belle Epoque und Interbellum wird heute von neuen Wirten getragen, namentlich den Grünen[2] und ihnen nahestehenden Kulturschaffenden. Diesem Umstand wird der Hinweis auf den Liedermacher Hans Söllner und den unlängst verstorbenen Politiker Christian Ströbele Rechnung tragen.

Was ist das Gemeinsame? Antikapitalismus und Ökologismus. Christian Ströbele und Stefan George gleichen einander in ihrer ablehnenden Einstellung zur Markt- und Unternehmerwirtschaft (irreführende Bezeichnung: Kapitalismus) sowie zu deren Erzeugnissen. Sie fällen, wie im Folgenden zu sehen sein wird, kategorische Urteile über Qualität und Bekömmlichkeit der Produkte, wobei die Frage der Bekömmlichkeit nur eine Einbruchstelle für den Ökologismus darstellt. Auch die Art und Weise der Produktion, ja die schiere Menge des Produzierten wird inkriminiert. Sowohl George als auch die Grünen zeichnen sich durch einen Malthusianismus aus, der weit über Fragen der Ernährung hinausreicht (Dahlmanns 2016: 159–162).[3]

Die Erfahrungswirklichkeit – alles im nicht-trivialen Sinne Mess- und Überprüfbare (Popper 1992: 82–85) – spielt für diese Art Antikapitalismus und Ökologismus keine oder bloß eine stark untergeordnete Rolle. So gelangen wir zu einem weiteren Wesenszug des Antiamerikanismus: zu seiner Abneigung gegen die Erfahrungswirklichkeit, die ihn, im Lichte des Kritischen Rationalismus Karl Poppers betrachtet, zur Ideologie, zum Vorurteil macht.[4] Dies wird zuweilen dadurch ausgedrückt, dass Amerika-Verächter sich ihr Amerika ‚erfinden‘ (Kamphausen 2002: 15–17).

Der vorliegende Aufsatz lässt die beiden ersten Nachkriegsjahrzehnte, die „kulturellen Flitterwochen zwischen den USA und der Bundesrepublik“ (Jessica Gienow-Hecht, nach Schwaabe 2003: 157) unbesprochen, weil er vor allem auf die Gleichartigkeit des neueren ‚grünen‘ Antiamerikanismus und seiner älteren Spielformen bereits vor dem Ersten Weltkrieg aufmerksam machen möchte. Wo die Zeit des Eisernen Vorhangs gestreift wird, konzentriert er sich auf die westliche Hälfte Mitteleuropas.

I

Der bayrische Liedermacher Hans Söllner singt in seinem 1989 veröffentlichten Album Hey Staat über einen damaligen Abgeordneten des bayrischen Landtags und späteren stellvertretenden CSU-Vorsitzenden, dieser sei „schoʼ so süchtig, dass er Büchsenbier sauft“ (Söllner 1989),[5] also bereits derart abhängig, dass er sich bereit finde, Dosenbier zu trinken. Söllner setzt dabei voraus, dass Bier aus Glas- und wohl auch Pfandflaschen zu trinken sei, und er hat offenbar allen Grund, auf die Zustimmung seines Publikums zu rechnen, da die Gewissheit, dass Bier aus Glasflaschen besser schmecke, den epistemologischen Status einer Volksweisheit oder „folk notion“ (Barnett et al. 2016: 6) besitzt. Die unterliegenden Oppositionen von kulturwissenschaftlicher Relevanz lauten: Flasche vs. Dose – von Söllner pejorativ als Büchse bezeichnet, womit zugleich ein herzhaft stabendes Kompositum gewonnen wird –, Glas vs. Weißblech etc., sehr häufig auch Pfand vs. Einweg. Und, was überraschen mag, Deutschland vs. die Vereinigten Staaten von Amerika.

Dosenbier nämlich ist eine amerikanische Erfindung. Nach Versuchen, die im Jahr 1909 im Bundesstaat Montana ihren Anfang genommen hatten, und technischen Schwierigkeiten, die u.a. der Notwendigkeit einer inneren Beschichtung, die das Metall der Dose von ihrem Inhalt trennt, geschuldet waren, wurde 1932 in Newark, New Jersey, die erste Partie von 2000 Bierdosen gefüllt, die allerdings keine Abnehmer fanden (Maxwell 1993: 95). Anfang 1935 wagte dieselbe Brauerei einen neuen Versuch, und im Verlauf des Jahres wurde die neue Darreichungsform des Gerstensafts in den USA allgemein akzeptiert. 1937 gelangte sie ins Deutsche Reich (Meier 2020, nach 17 Min., 25 Sek.). Wie das Schaffen des Liedermachers Söllner 1989 und auch die Einführung des Dosenpfands im Jahr 2003 zeigen, traf die Bier- und allgemeiner die Getränkedose in der Alten Welt auf nachhaltigen Widerstand. 2013 lag der Anteil des in Glas- und Mehrwegflaschen verkauften Bieres in der Bundesrepublik Deutschland bei über 90 Prozent (Birkenstock 2013).

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Neuerscheinung: Karsten Dahlmanns / Aneta Jachimowicz (Hrsg.), Geliebtes, verfluchtes Amerika
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Neuerscheinung: Karsten Dahlmanns / Aneta Jachimowicz (Hrsg.), Geliebtes, verfluchtes Amerika

Die Vereinigten Staaten von Amerika fungierten im deutschen Sprachraum zwischen 1888 und 1933 als Traum oder Alptraum, als eine Verkörperung von Moderne und Kapitalismus, die bewundert, verachtet oder gar gefürchtet wurde.  

14 Aufsätze erforschen das Verhältnis ausgewählter deutschsprachiger Dichter, Schriftsteller und Publizisten, Wissenschaftler und Architekten jener Zeit zu den USA. Besprochen werden so verschiedene Temperamente wie Alfred Kubin und Stefan George, Ernst Jünger und Erich Maria Remarque, Adolf Loos und Friedrich August von Hayek. Bekannte Schriftsteller wie Stefan Zweig und Joseph Roth haben ihren Auftritt, aber auch weniger bekannte Autorinnen und Autoren wie Bertha Eckstein-Diener, Marta Karlweis und Maria Leitner, Hugo Bettauer, Bernhard Kellermann und Arthur Rundt.

„Der Band zeichnet ein breitgefächertes, methodisch vielfältiges und überaus lesenswertes Panorama der Auseinandersetzung mit den USA in der Literatur und Publizistik der deutschsprachigen Länder vor und nach dem Ersten Weltkrieg.“ Prof. Wynfrid Kriegleder (Wien)

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Adam Smith: Moralphilosophie und Marktwirtschaft

Eine lohnende Einführung in Leben und Werk von Adam Smith, die deutlich macht, wie sehr Smiths ökonomisches Denken von seiner Moralphilosophie bestimmt und gerechtfertigt wird, sie auf ersteres zurückwirkt, indem sie Tugenden umreißt, ohne die eine freie, auf der Markt- und Unternehmerwirtschaft basierende Gesellschaft nicht zu bestehen mag. Der gut gemachte Film von knapp einer Stunde Dauer räumt mit einigen Klischees über den schottischen Denker und „liberales“ Denken, „gierige“ Bürger usw. auf; schon deshalb empfiehlt er sich. Nach 23 Minuten, 30 Sekunden findet sich ein köstliche Visualisierung dessen, was später Friedrich August von Hayek als The Fatal Conceit bezeichnen wird, die drollige Idee, ein Mensch oder ein Gremium (z.B. in Berlin oder Brüssel) könne planen und ersetzen, was der Markt an Information leistet; nach Minute 36, 10 Sekunden wird verdeutlicht, was Ludwig von Mises als tägliche Volksabstimmung über den Wohlstand der Unternehmer beschreiben wird: unsere Kaufentscheidungen.

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Götz Aly und Hans-Ulrich Wehler über Kapitalismus, Antisemitismus und Sozialpolitik

Der vorliegende Essay enthält einige Beobachtungen und Reflexionen, die an den Aufsatz „Zur Kontroverse um Götz Alys Warum die Deutschen? Warum die Juden?“ anschließen. Die neuerliche Beschäftigung mit Alys Forschung rechtfertigt sich aus dem Erscheinen seines neuesten Buches Europa gegen die Juden 1880-1945. Die 2017 publizierte Abhandlung stellt eine Weiterführung des Ansatzes dar, der Alys 2011 auf den Markt gekommenem Buch über den in letzter Konsequenz mörderischen Neid der Deutschen auf die Juden zugrunde liegt. Beide Aufsätze widmen sich also einem Forschungsprogramm, wenn Imre Lakatos’ Begriff in das Reich idiographischer Wissenschaft ausgedehnt werden darf (vgl. Lakatos 1982: 46-52).

Wie zuvor geschehen, sollen auch diesmal ausgewählte Reaktionen auf Alys Buch in der deutschsprachigen Presse diskutiert werden. Unter ihnen verdienen zwei Rezensionen besonderes Lob dafür, daß sie in einer Zeit, wo nur zu gern ‚mißverstanden‘ und entstellend zitiert wird, in prophylaktischer Absicht hervorheben, was auch der Verfasser der gegenwärtigen Zeilen über Alys Buch denkt:

An der deutschen Urheberschaft für den Holocaust lässt Aly keinen Zweifel. Nur böser Wille kann ihm die Absicht unterstellen, diese Schuld und Verantwortung relativieren zu wollen, wenn er betont, dass die Nationalsozialisten Helfer und Mittäter in ganz Europa fanden. (Jahr 2017)

Die Idee, Antisemitismus als europäisches Phänomen von Athen bis Budapest, von Paris bis Berlin zu deuten, ohne den Holocaust direkt in den Mittelpunkt zu rücken, ist originell. Darin nach heimlichen Entschuldungswünschen zu fahnden, ist keinen Gedanken wert, gerade bei einem Historiker, ohne den die hiesige Holocaustforschung um einiges ärmer wäre. (Reinecke 2017)

Darüber hinaus betrachtet der vorliegende Aufsatz ausgewählte Argumente Hans-Ulrich Wehlers, der uns als scharfer Kritiker Alys erinnerlich ist (vgl. Dahlmanns 2017: 45, 52). Dies geschieht in der Absicht, Wehlers Kritik zu kontextualisieren. Wie sich erweisen wird, könnte ein systematischer Grund für Wehlers Ablehnung des Alyschen Forschungsprogramms vorliegen. Er wäre in Wehlers kapitalismuskritischen Anschauungen zu finden, die – mit manchem sachlichen Fehler belastet – sozialdemokratische Vorstellungen von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft favorisieren, sowie dem Umstand, daß jedwede anthropologische Argumentation, die vollständig genug ist, um auch den Neid zu kennen, auf Ideen sozialdemokratischen oder sozialistischen Zuschnitts zu wirken pflegt wie das Tageslicht auf Vampire. Insofern wiederholt Wehler mit Aly, was Karl Marx mit dem französischen Schriftsteller Eugène Sue vornahm, nachdem jener einen Roman über den Neid und dessen Überwindung als Aufgabe für den Einzelnen, nicht für die Gesellschaft, veröffentlicht hatte (vgl. Schoeck 1966: 159-163).

1 Alys Argument in grundsätzlicher Betrachtung

Alys neuestes Buch untersucht die Judenfeindschaft in Europa während der Jahre 1880 bis 1945, mit besonderem Gewicht auf der Zeit vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Dabei wird der deutsche Sprachraum ausgespart; erforscht werden Frankreich, Polen, die Ukraine, Rußland, Litauen, Ungarn, Rumänien, Bulgarien und Griechenland.[1] Der Historiker beschreibt die verschiedenen Erscheinungen des Antisemitismus in diesen Ländern unter drei Aspekten:

  • Angehörige der Mehrheitsbevölkerung vieler der genannten Staaten berauben Juden ihres Besitzes, beschädigen oder vernichten deren Behausungen und Werkstätten, Ladengeschäfte etc., vergewaltigen, verstümmeln und morden (vgl. Aly 2017: 166-178 u.ö.).
  • Die Regierungen fast aller der genannten Staaten betreiben Sozialpolitik auf Kosten der Juden. Um die jeweilige Mehrheitsbevölkerung zu fördern, werden verschiedenste Gesetze erlassen, die Juden in ihrer Berufswahl und -tätigkeit behindern, jüdische Kaufleute und Unternehmer mit Sondersteuern und schikanösen Auflagen belegt. Auch im Bildungswesen wird den Juden das Fortkommen erschwert, um die Mehrheitsbevölkerung zu bevorteilen, z.B. durch konfessionell gebundene Studienplätze (vgl. ebd. 94-98, 205-208 u.ö.)
  • In den Jahren vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs wird in den meisten der genannten Staaten eine Politik favorisiert, die auf die Emigration ihrer jüdischen Minderheit zielt. Dies soll einen möglichst homogenen Nationalstaat schaffen, ist nicht nur gegen die Juden, sondern auch gegen andere Minderheiten gerichtet. Daher wird es von Aly u.a. im Zusammenhang mit Maßnahmen des Bevölkerungsaustausches betrachtet (z.B. zwischen Griechenland und der Türkei, vgl. ebd. 188-192).
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Der Cantillon-Effekt

Thorsten Polleit erklärt den Cantillon-Effekt in einem kurzen Video. Die vier Minuten sind gut investiert. Bitte klicken Sie hier, um zu dem Film zu gelangen.