Einschmelzen
|

Einschmelzen

Der Soziologe Helmut Schoeck fragt in seinem Hauptwerk „Der Neid“, weshalb von Gruppen und Gemeinschaften, in die sich der Einzelne einfügt und einfügen muß, um leben und überleben zu können,

konformes Verhalten selbst auf Gebieten verlangt wird, die mit der eigentlichen Funktion der Gruppe nichts oder sehr wenig zu tun haben.

Schoeck beobachtet:

Je unangenehmer, ja je irrationaler und hinderlicher in der Praxis die Norm ist, die, aus welchen Gründen auch immer (vielleicht, weil sie Aufsichtsbehörden am Herzen liegt) von den Mitgliedern eingehalten werden muß, desto unnachsichtlicher beaufsichtigen sie sich nicht selten gegenseitig.

Wie Sie sehen, idealisiert Schoeck das Gemeinschaftliche nicht; dafür ist er zu klug. Gruppen, Gemeinschaften usw. sind für den Soziologen zumeist ein notwendiges Übel, kein Fetisch. Fragen Sie sich, ob Sie mit allen Ihren Arbeitskollegen gern zusammenarbeiten, und Sie erkennen, worauf Schoeck hinauswill.

Denn jetzt kommt der Neid ins Spiel. Es ist der Neid der an die – wie Schoeck unterstreicht, möglicherweise blödsinnige – Norm der jeweiligen Gruppe Angepaßten auf denjenigen, der sich noch nicht angepaßt hat oder sich auf keinen Fall anpassen will:

Wer sich wider Willen, aus Feigheit oder Bequemlichkeit, bereits angepaßt hat, verargt den anderen den bewiesenen Mut, die Freiheit, die sie noch genießen.

Das läßt sich auf vieles, dem wir begegnen, übertragen. Immer wieder verargen Menschen, die sich aus einer Fehleinschätzung heraus, aus Obrigkeitsgläubigkeit oder schierer Denkfaulheit in den Dreck geritten haben, anderen Menschen, die dergleichen vermieden haben, deren praktische Klugheit und Vorsicht (phronesis, prudentia), ja, das pure Glück (im Sinne von Dusel, luck), davongekommen zu sein.

Das ‚darf‘ natürlich nicht so bleiben! Das ‚muß‘ geändert werden! So tritt eine besondere Art von Rachsucht hinzu, eine Mißgunst reinsten Essigs:

Es ist die Schadenfreude über die Pein des in die Gruppe erst noch einzuschmelzenden Neulings, die Schadenfreude über die Sanktionen, die dem nichtkonformen Mitglied zugefügt werden, die jedes Mitglied automatisch zum Wachhund und zum Einpeitscher macht.

Merken Sie was? Schadenfreude über die Sanktionen, die dem Nichtkonformen, dem Eigenständigen zugefügt werden. Auch das läßt sich auf vieles, dem wir begegnen, übertragen.

Dem Nichtkonformen soll’s nicht besser gehen als mir, sagt sich mancher, der sich durch Fehlentscheidungen ruiniert, wenigstens aber um neun Zehntel seiner Lebensfreude gebracht hat. Es versteht sich, daß die genannten Fehlentscheidungen nicht spektakulärer Natur sein müssen. Hunderte kleiner Feigheiten tun’s auch. Deshalb setzt Schoeck in einem der oben gegebenen Zitate das Wort „Bequemlichkeit“.

Schließlich meldet sich ein Neid, der nicht auf Äußerlichkeiten ziehlt, sondern auf den Charakter, die ‚Coolness‘ dessen zielt, der ’sein Ding macht‘. Max Scheler bezeichnet ihn als Existenzialneid:

Der ohnmächtigste Neid ist zugleich der furchtbarste Neid […]: der Existenzialneid. Dieser Neid flüstert gleichsam fortwährend: ‚Alles kann ich dir verzeihen; nur nicht, daß du […] das Wesen bist, das du bist; nur nicht, daß nicht ich bin, was du bist; ja daß ‚ich‘ nicht ‚du‘ bin.‘

In diesem Stadium ist alles verloren. Denn der Existenzialneid gilt dem tiefinnersten Wesen des Beneideten, mithin keiner Verhaltensweise, die sich von heute auf morgen erlernen ließe. Verzweiflung stellt sich ein. Und ein Haß, den Stefan George in treffende Verse gegossen hat:

Der geht noch aufrecht – reisset ihn um
Der hat noch ein antlitz – zerret es krumm!

Der schreitet noch – er schleiche und hinke
Der schaut noch – macht dass er schiele und zwinke!

Sie finden diese Diagnose zu böse, zu düster? Es wurde ja nicht behauptet, daß alle Menschen wie Schoecksche „Einpeitscher“ und „Wachhunde“ vorgehen. Doch sollte eine realistische Anthropologie stets das Wirken von Wachhund-Artigen und artigen Wachhunden einkalkulieren.

(Quellen: Helmut Schoeck, Der Neid. Eine Theorie der Gesellschaft, Freiburg im Breisgau u. München 1966, S. 103-105; Stefan George, Nova Apocalypsis, 1919 in den Blättern für die Kunst unter dem Namen Karl Wolfskehls veröffentlicht, hier Strophe 3-4 von insgesamt sieben Strophen; Max Scheler, Das Ressentiment im Aufbau der Moralen, in: Ders., Vom Umbruch der Werte. Abhandlungen und Aufsätze (Gesammelte Werke, Bd. 3), Bern u. München. 1972, S. 33-147, bes. S. 45. Bild: Gemälde von Frans Hals; Wikimedia Commons, gemeinfrei.)

777 Millionen

Der Ausbau des Bundeskanzleramts in Berlin soll mehr als eine dreiviertel Milliarde Euro kosten. Es wäre anständig gewesen, vom Ausbau des ohnehin gewaltigen – und bestürzend häßlichen – Bundeskanzleramts abzusehen und den Betrag den von galoppierender Inflation geplagten Bürgern in geeigneter Form zu erstatten. Natürlich wäre der Betrag per Bürger eher symbolischer Natur, aber für eins-zwei Burger dürfte er reichen. Aus Rindfleisch, versteht sich. Die Insektenburger können warten.

Nicht bloß anständig, sondern auch umsichtig wäre es gewesen, schon vor geraumer Zeit damit begonnen zu haben, wenigstens eine Ursache der Inflation zu bekämpfen, die zu bedeutendem Anteil als Grünflation bezeichnet zu werden verdient, weil sie aus ideologisch motivierter Brennstoff-Verknappung erwächst. Man hätte seine teutonisch verbiesterte, neuheidnisch unterfütterte Feindschaft gegen Kohle, Erdöl und Erdgas überwinden können. Ein wenig Fracking könnte ebenfalls nicht schaden, oder? Die große Gaia wird Euch nicht gleich zürnen, dessen bin ich sicher.

Nicht bloß anständig und umsichtig, sondern zudem ein achtenswerter Ausdruck von Lernfähigkeit wäre es gewesen, Kernkraftwerke nicht mehr unbesehen für Teufelszeug zu halten. Wir brauchen unsere noch betriebsfähigen Kernkraftwerke. Und wir brauchen mehr Kernkraftwerke. Laßt uns, Landsleute, den Windmühlen-Wahn beenden. Sich in unverspargelter Landschaft zu ergehen, welch ein Segen…

Aber zurück zum Bundeskanzleramt. Denn nicht bloß anständig, umsichtig und ein Ausdruck von Lernfähigkeit, sondern auch ein Zeichen von Weisheit in Staatsdingen – von Staatskunst im tieferen Sinne des Wortes – wäre es gewesen, die Idee eines noch riesenhafteren Kanzleramtsgebäudes von vornherein als das zu verwerfen, was sie ist: Symptom eines gewucherten, wuchernden Staates, der alles und jedes regeln will, den Bürger „betreut“ (Helmut Schelsky) und verzwergt.

Adam Smith: Folly

Adam Smith: Folly

Adam Smith, An Inquiry Into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, Bd. 1 (1776), hrsg. von Edwin Cannan, London 1904, Buch IV, Kap. II, S. 421, zugänglich und vorzüglich digital bearbeitet auf den Seiten der Online Library of Liberty des Liberty Fund:

The statesman, who should attempt to direct private people in what manner they ought to employ their capitals, would not only load himself with a most unnecessary attention, but assume an authority which could safely be trusted, not only to no single person, but to no council or senate whatever, and which would no-where be so dangerous as in the hands of a man who had folly and presumption enough to fancy himself fit to exercise it.

(Versucht ein Staatsmann, den Bürgern vorzuschreiben, in welcher Weise diese ihr privates Kapital einsetzen sollen, lädt er sich nicht nur eine völlig überflüssige Last auf die Schultern, sondern er beansprucht für sich eine Autorität, die vernünftigerweise keiner einzelnen Person und keinem Rat oder Senat übertragen werden kann – und die in niemandes Händen derart gefährlich werden dürfte als jenen eines Mannes, der dumm und arrogant genug ist, sich selbst für befähigt zu halten, dergleichen Befugnis an sich reißen und in die Tat umsetzen zu wollen.)

Damit wäre ein Argument Friedrich August von Hayeks, das er in The Fatal Conceit (1988) vorträgt, weitgehend vorweggenommen.

(Bild: Winslow Homer, Snap the Whip (1872). Wikimedia Commons, gemeinfrei.)

|

Cancel Culture? Neue Vertriebswege!

Ulrich Schödlbauer bemerkt auf Globkult über die Trennung des Fischer-Verlags von seiner langjährigen Autorin Monika Maron:

Der Vorgang ruft, neben dem politischen Aspekt, in Erinnerung, dass heutige Verlage vor allem Werbeplattformen in eigener Sache sind, die ihren Autoren Anteile an ihrer Marktpräsenz verkaufen. Das Buch, das gute Buch, die Schatztruhe der vielerlei Wahrheiten existiert nicht mehr. Das, was nach wie vor über den Buchhandel oder Amazon verkauft wird, ist bloß der ‚ordentliche‘ Ausdruck einer Datei, die auf multiplen Wegen ihre Leser erreichen könnte. Soll heißen, dem Vorgang des Buchdrucks selbst wohnt keinerlei aufklärerische Bedeutung mehr inne. Das Verlagswesen ist vom Verbreiter zum Flaschenhals seriöser Literatur geworden. Der Leser sollte das im Hinterkopf haben, will er das Verhalten von Massenverlagen und die Mentalität ihrer ‚Macher‘ verstehen. 

Ja und nein. Die Einschätzung des gegenwärtigen Verlagswesens überzeugt, die gedankliche Verknüpfung von Buchdruck und aufklärerischer Bedeutung weniger. Schließlich muß man nicht lange suchen, um antiaufklärerisches, (im Sinne Poppers) pseudowissenschaftliches oder schlechterdings obskures Zeugs zwischen prächtigen Buchdeckeln zu finden. Das ist keine Frage des Herausgabedatums, gilt heute ebenso wie vor 150 Jahren. Und natürlich existiert auch heute noch „das gute Buch, die Schatztruhe der vielerlei Wahrheiten“. Vereinzelt nämlich, wie immer schon.

Doch stimme ich Schödlbauer uneingeschränkt zu, wo er äußert: „Das, was nach wie vor über den Buchhandel oder Amazon verkauft wird, ist bloß der ‚ordentliche‘ Ausdruck einer Datei, die auf multiplen Wegen ihre Leser erreichen könnte.“ Sind, wie Schödlbauer richtig beobachtet, etablierte Verlage „vom Verbreiter zum Flaschenhals seriöser Literatur geworden“, muß sich die seriöse Literatur eben neue Vertriebswege suchen. Wenn kein anderer ‚traditionell‘ arbeitender Verlag ein Angebot macht, dann eben jenseits des überkommenen Verlagswesens. Die Technik steht zur Verfügung, das Internet und Print on Demand machen einen Direktvertrieb vom Schriftsteller-Schreibtisch zum Kunden möglich. Alternative Geschäftsmodelle wie Abonnements oder freiwillige Zahlungen funktionieren. Michael Klonovsky, Dushan Wegner und die Leute von der Achse des Guten machen es vor. Gut, die Beispiele reichen ins Journalistische, berühren keine „seriöse Literatur“, aber das muß ja nicht so bleiben. Zumal bereits der bloß vorderhand marktfeindliche Stefan George sich als überaus findig erwies, was Aufbau und Ausnutzung der Marke „Stefan George“ und geeignete, auch ungewöhnliche Vertriebswege angeht.

Mit einem Wort: Nicht jammern, sondern die Segnungen der Technik und der Katallaxie beherzt und mit unternehmerischem Elan nutzen!

|

Armut-Reduktion

Blauer Kasten: 2018 lebten annähernd 1,25 Milliarden weniger Menschen in extremer Armut als 1981 – 653 Millionen (2018) im Vergleich zu 1,9 Milliarden (1981).

Im Rahmen der Graphik: In extremer Armut lebt, wer max. 1,90 US-Dollar pro Tag ausgeben kann (angeglichen an die Kaufkraft eines US-Dollars im Jahr 2011).

Text ganz oben: Dies ist die erstaunliche Verringerung der weltweiten Armut um 80%. Im Jahr 1981 lebten 42,3% der Menschen in Armut, 2018 8,6% Es brauchte wahrscheinlich 1000 Jahre, um den Anteil der Armen von 84% auf 42% im Jahr 1981 zu halbieren, dann 24 Jahre, um ihn auf 21% im Jahr 2005 zu verringen, und dann nur noch 10 Jahre, diesen Wert erneut zu halbieren – auf 10% im Jahr 2015.

„Nein, nein! das kann nicht seyn!“ (Wolfgang Amadeus Mozart & Emanuel Schikaneder, Die Zauberflöte, erster Aufzug, erster Auftritt)

Joe Biden vs. Thomas Sowell (1987)
|

Joe Biden vs. Thomas Sowell (1987)

Eine kuriose Begegnung: Während der Anhörungen im Rahmen der (gescheiterten) Nominierung Robert Borks für den Supreme Court of Justice der Vereinigten Staaten von Amerika trifft – hier ab etwa Minute 2 des Films – Senator Joseph „Joe“ Biden, Jr. auf Thomas Sowell, der in diesem Blog bereits viele Auftritte hatte. Drollig ist, daß Sowells erste Entgegnung auf Biden gleich auf dasjenige hinauswill, was heute „Virtue Signalling“ genannt wird; dann geht es über die Nachteile von Affirmative Action weiter. Hörens- und sehenswert.

Kartoffeln und Kapitalismus

Kartoffeln und Kapitalismus

Roland Baader schreibt in seinem empfehlenswerten, wenn auch etwas rauh geschriebenen, um 30-40 Seiten zu kürzenden Buch „Das Kapital am Pranger. Ein Kompaß durch den politischen Begriffsnebel“ über Kartoffeln und Kapitalismus:

Der amerikanische Ökonom David A. Henderson hat folgende Zahlen ermittelt: Im Jahr 1890 wurden in den USA auf 2.557.000 acres [rund 0.4 Hektar] rund 10 Millarden amerikanische Pfund [rund 0,45 Kg] Kartoffeln geerntet. Das waren 2.990 Pfund je acre. Im Jahr 1997 wurden auf 1.362.000 acres – also auf ungefähr der halben Ackerfläche im Vergleich zum Jahr 1890 – 46 Milliarden amerikanische Pfund Kartoffeln geerntet, d.h. mehr als das Vierfache von 1890 – und, je acre gerechnet, fast das Neunfache von 1890. Die dramatische Steigerung des Ernteertrages hat viele Ursachen, vor allem verbessertes Saatgut, bessere Pflanztechniken, bessere Bewässerung, bessere Düngemittel und bessere Mittel gegen Schädlinge. Hinzu kamen verbesserte Methoden auf allen Verarbeitungsstufen. So werden beispielsweise aus einem Pfund Rohkartoffeln heute mit modernen Maschinen (bessere Schältechnik etc.) 25% mehr Pommes frites erzeugt als vor 25 Jahren. Alle diese Verbesserungen und Fortschritte lassen sich auf einen ursächlichen Nenner bringen, nämlich auf den marktwirtschaftlichen Wettbewerbsprozeß. Konsequent folgert Henderson für die Zukunft: „Die Menschheit wird nur dann verhungern, wenn sie die Märkte nicht frei funktionieren läßt.“

Baader fragt:

Was ist an diesem „System“, das als einziges die Menschheit vor dem Hungertod bewahren kann, unmoralisch?

Gute Frage. Vielleicht gibt die Rinderhaltung mehr Auskunft.

Aus: Roland Baader, „Das Kapital am Pranger. Ein Kompaß duch den politischen Begriffsnebel, Gräfelfing: Resch 2005, S. 87-88; Angaben zu den Einheiten ergänzt. Bild: Van Gogh (Wikimedia Commons).

|

Wie Neuseeland Freiheit und Wohlstand wiederherstellte

Empfehlenswerter Film von Johan Norberg über die jüngere Geschichte Neuseelands. Nachdem die Wirtschaft des Inselstaates in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts unter einem Wust von widersinnigen Subventionen, Importbeschränkungen und sonstigen Regulierungen erstickt worden war, zogen sich die Neuseeländer am eigenen Schopf aus dem Morast: durch kluge Wahlentscheidungen, Deregulierung und Eigeninitiative. Ein Lehrstück! Als solches lohnt es nicht zuletzt für schwermütige Kontinentaleuropäer, wiewohl man einwenden mag, daß der Film um knapp 10 Minuten hätte gekürzt werden können.