Ein beliebiger Abend in der letzten Woche. Menschenmassen schieben sich durch Krakaus Altstadt, die immer mehr an eine Mischung aus Freilichtmuseum und Freizeitpark mit Alkoholausschank gemahnt. Gut, daß ich mit meiner Familie hier bin – das Eis in der alteingesessenen Konditorei am Hauptmarkt, gleich bei der Einmündung der Grodzka-Straße schmeckt großartig -, so habe ich Ruhe vor den Anquatschern und Anquatscherinnen, die, wie es scheint, alle nicht in weiblicher Begleitung durch die Stadt schlendernden Männer unter siebzig zum Besuch von Etablissements veranlassen wollen, in denen nicht nur gegessen und getrunken wird. Die seit einiger Zeit mit ungemein grellen LEDs auf der Unterseite versehenen Pferdedroschken haben Schwierigkeiten, an der Gruppe von Breakdancern vorbeizufahren, die den Gästen eines der vielen Restaurants, die Tische auf den Rynek Główny gestellt haben, zu überlautem Utz-Utz-Utz ihre Künste darbieten, ob jene wollen oder nicht. Dicht aufeinander folgende Grüppchen von Engländerinnen und Engländern, an denen ein Dalrymple seine (melancholisch gebrochene) Freude hätte, vervollständigen das Bild; es gibt inzwischen eine Reihe von Kneipen, die sich speziell auf diese Klientel ausgerichtet hat, während andere Lokale mit dem Hinweis „No Stag/Hen Parties“ die Sache im Zaum halten wollen. Ältere Deutsche tauchen auch auf; man erkennt sie daran, daß sie beigefarbene Westen tragen und die Männer mit ihrer jeweiligen Frau, die Frauen mit ihrem jeweiligen Manne so rein gar nichts zu tun zu haben scheinen.
Kurzum: es steht nicht zum Besten – oder allzu gut – um die Innenstadt von Krakau, selbst wenn handfeste Skandale wie jener selten sind, als sich im März 2019 eine Gruppe von so-gut-wie-nackten Touristen, die Englisch sprachen, in einer Droschke um den Rynek kutschieren ließ; und natürlich ließen die Herren es sich nicht nehmen, nach der Fahrt über den Hauptmarkt zu stolzieren. – Eher überkommt eine gewisse Schwermut den Metöken, der sich an das vergleichsweise stille und, bei aller Beschränkung der Mittel und mancher Bausünde um die Innenstadt herum, trotzig-elegante Krakau vor anderthalb Jahrzehnten erinnert.
Mitten in dem Getriebe steht die winzige, gut zehn Jahrhunderte alte Sankt-Adalbert-Kirche (Kościół św. Wojciecha) – auf der linken Hälfte der Postkarte, die Sie oben sehen, zwischen den Bäumen. Sie ist am Abend geöffnet. Immer wieder sehe ich, etwa zehn Meter seitlich des Eingangs zur Kirche stehend, wie Touristen in Sightseeing-Absicht die Hand an der inneren Tür haben, deren Scheiben einen Blick in das Innere des nur einige Meter breiten und langen Kirchleins erlauben, sie öffnen wollen und in der Bewegung innehalten. Selbst ihre Miene gefriert, für einen Augenblick wenigstens. Dann gehen sie, einen zutiefst verwirrten, besser noch: befremdeten, durch das Fremde berührten Eindruck machend, bis sie das Gesehene durch einige Schüttelbewegungen des Hauptes verscheuchen, entweder fort, zurück in das Getriebe. Oder ihr Leib strafft sich, und sie treten ein. Das ist der seltenere Fall.
Was geschieht in dieser Kirche? Schauen Sie auf ihre Website, die sie – natürlich – hat, denn Polen ist ein sehr modernes Land:
My, młodzi chrześcijanie, pamiętając o wielkiej historii Krakowa, nie chcemy, aby w naszym mieście propagowana była nieczystość i by nakłaniano nas do grzechu. […] [C]hcemy się razem modlić o moralną odnowę Miasta Królów Polskich. Od dwóch lat spotykamy się codziennie przed Panem Jezusem w Najświętszym Sakramencie i prosimy Go, aby uzdrowił nasze Miasto i przebywających w nim ludzi – mieszkańców i przejezdnych.
(Wir sind junge Christen, die sich der bedeutenden Geschichte Krakaus erinnern. Darum wünschen wir nicht, daß in unserer Stadt moralische Unreinlichkeit propagiert und zur Sünde veranlaßt werde. Wir wollen gemeinsam für eine moralische Erneuerung Krakaus, der Stadt der polnischen Könige, beten. Seit zwei Jahren versammeln wir uns an jedem Tag vor Christus, unserem Herrn, im Allerheiligsten Sakrament und bitten Ihn, daß er unsere Stadt und die Menschen in ihr gesunden lasse – sowohl die Einheimischen, als auch die Durchreisenden.)
***
Bild: Blick über den Hauptmarkt zum Wawel (Ansichtskarte, ca. 1933) Quelle: Zbiory Specjalne, Biblioteka Naukowa PAU i PAN w Krakowie. Własność: Polska Akademia Umiejętności. Prawa autorskie: Utwór w domenie publicznej.