Evolution hat keinen guten Ruf. Sie wird oft als etwas aufgefaßt, das allem Menschlichen fremd, gar entgegengesetzt sei; als ein entmenschtes Gegen-Evangelium. Dieser Eindruck läßt sich mildern, indem man sich um ein umfassenderes Bild der Sachlage bemüht. Und erkennt, daß der Mensch nicht nur „Glied“[1], sondern auch „Steuernder“[2] der Evolution ist – durch seine Kreativität. Wir sollten uns deshalb verdeutlichen, „daß wir es sind, die in all den Bereichen von der Religionssoziologie bis zur Technikentwicklung das jeweils Neue hervorbringen“.[3] Und zwar auf vielfältige Weise; „in der Möglichkeit zur Zuchtwahl wie zur Genmanipulation, im Entwerfen und Verwirklichen sozialer Systeme, im Konzipieren wissenschaftlicher Theorien und im Realisieren technologischer Artefakte zur Befriedigung […] menschlicher Bedürfnisse.“[4]
Wie sehr der Mensch die Evolution beeinflußt, macht ein näherer Blick auf deren „Mechanismen“ deutlich; – auf jene Mechanismen, die Evolution ermöglichen und vorantreiben. Charles S. Peirce unterscheidet drei solche Mechanismen:
(i) Die Evolution per Zufallsvariation („tychastische Evolution“[5]), auf der der Darwinismus gründet.[6] Sie wird durch Zufälle wie denjenigen ermöglicht, daß gerade jener Paul gerade jene Paula in gerade jener Stadt traf, sich verliebte und schließlich ein Töchterchen namens Paulette zeugte. Paulette verdankt die Zusammensetzung ihrer Gene dem Zufall.
(ii) Die „Evolution durch mechanische Notwendigkeit“[7] („anankastische Evolution“[8]). Mechanische Notwendigkeit wirkt, „[w]enn ein Ei dazu bestimmt ist, eine gewisse Reihe von embryonalen Transformationen durchzumachen, von der es ganz gewiß nicht abweicht“.[9] Jedenfalls, sofern nichts Äußeres dazwischen kommt. (Was hinwiederum einen Effekt tychastischer Evolution bilden würde – „das Sichkreuzen zweier unabhängiger Kausalreihen“.[11])
(iii) Die „Evolution durch schöpferische Liebe“[12] („evolution by creative love“[13]; „agapastische Evolution“[14]). Dieser Mechanismus wird gern übersehen. Das ist bedauerlich. Denn ohne ihn erweist es sich als schlichtweg unmöglich, das Entstehen all der Ideen für Handwerkszeuge und technische Geräte, der wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Theorien, der Kunstwerke und der Meisterwerke der Architektur zu erklären. Schließlich gedeihen all diese Pläne und Dinge nur dann, wenn ein Mensch Arbeit und Mühe – „Gehirnschmalz“ – investiert, lange darüber nachdenkt, was er verbessern, was er noch besser gestalten könnte; mit einem Worte, ihnen Zuwendung schenkt. Man sorgt (wie bei Pflanzen[15]) durch Zuwendung dafür, daß seine Pläne gedeihen; durch schöpferische Liebe. Sonst gedeihen sie nicht.
Wir erkennen: Ein umfassendes Bild der Mechanismen, die Evolution ermöglichen, verändert unseren Eindruck vom Ort des Menschen in der Evolution, und dies in entscheidender Weise! Zwar bleiben wir Geschöpfe der Evolution, deren Launen – man denke an die Sonne – ausgeliefert. Doch sind wir auch – zu Teilen – deren Gestalter; wir beeinflussen die Evolution. Durch unsere Kreativität. Durch unsere Kulturleistungen. So weicht der Eindruck bloßen Ausgeliefert-Seins dem einer gewaltigen Abenteuer-Fahrt.[17]
Deshalb liegt es in unserem Interesse, ein umfassendes Bild der Mechanismen zu erwerben, die Evolution ermöglichen. Bevor wir – grundlos – verzagen. Und darob dem wissenschaftlichen Denken untreu werden.
Übersehene Liebe, wucherndes Unglück
Natürlich sind die drei von Peirce unterschiedenen Evolutionsmechanismen irreduzibel; wir müssen uns aller drei bedienen, wenn wir beschreiben wollen, wie wir zu denen geworden, die wir sind. Ohne Mechanismus (iii) etwa – die Evolution durch schöpferische Liebe – bliebe jedweder (im weitesten Sinne) kulturelle Fortschritt unerklärlich; denn ohne unseren Einfallsreichtum – der übrigens stets der Einfallsreichtum Einzelner ist – würden wir alle immer noch in Höhlen hausen. Trotzdem wird Mechanismus (iii) oft übersehen oder sogar mutwillig hinwegerklärt, das heißt auf einen der anderen Mechanismen zu reduzieren versucht, die Evolution ermöglichen. Im Widerspruch zu dem, was die Maßgabe der Umfassendheit fordert.
Jede Torheit hat ihren Preis; auch ein solcher Reduktionismus in der Evolutionsphilosophie. Wer Mechanismus (iii) übersieht oder forterklärt, muß sich nicht wundern, wenn er den Eindruck einer unfreundlichen, ja unmenschlichen Welt schafft. Einer Welt, in der Zufall – Mechanismus (i) – und Naturnotwendigkeit – Mechanismus (ii) – herrschen, doch der einzelne Mensch nichts ausrichten kann. Man wird es nicht für übertrieben halten, wenn ich diesen Eindruck als künstlich niederdrückend beschreibe; als geeignet, Resignation und Depression auch dort hervorzurufen, wo wenig Anlaß besteht. Es liegt daher in unserem Interesse, uns auf keinerlei Reduktionismus einzulassen! Und – als Akt der Nächstenliebe – den Reduktionismus in der Evolutionsphilosophie zu bekämpfen.
Eine Welt, in der der Einzelne nichts ausrichten kann, beschreiben viele deutsche Schulbücher aus den 1970er Jahren – in „kritischer“ Absicht. Sie erweisen sich damit als in genau der Weise künstlich niederdrückend, die soeben beschrieben wurde. Schoeck macht deren ganze Perfidie deutlich:
Anschauungsbeispiele für etwas Schönes, Gelungenes, für das Kunstwerk, das in seiner Abgrenzbarkeit von der Umgebung, in seiner geglückten Ganzheit ein Erlebnis, wenigstens eine Ahnung von Sinn vermitteln könnte, werden aus der Schule verbannt. Erzählungen und Abbildungen geglückter Unternehmungen (das Betreten des Mondes ebenso wie Lindberghs Alleinflug über den Atlantik, ein Gedicht oder Gemälde) werden in vielen Fällen nur noch ins Schulbuch aufgenommen, wenn sie mit Bildern oder Texten eingerahmt sind, aus denen menschliches Versagen zu sprechen scheint. Das linke Lernziel heißt: schon das elfjährige Kind soll spüren, dein Leben in dieser Gesellschaft, in dieser Zeit ist sinnlos, ist überflüssig. Wie ein riesiger Staubsauger, der […] mit Dutzenden von Schläuchen aus der Seele des Kindes jeden Winkel absaugt, in dem noch ein Rest von Sinn verborgen sein könnte, sind die linken Lernziele […] ein wohlüberlegtes Instrument zur Abtötung jedes Erlebnisses von Sinn.
Welche enorme Gefahr für die seelische Gesundheit dies mit sich bringt, kann man z.B. den Ausführungen des Psychotherapeuten Professor Viktor E. Frankl, „Der Mensch auf der Suche nach Sinn“ […], entnehmen. Er sieht seit mehreren Jahren auf die Jugend eine ganz neue Art von Neurose zukommen. Diese hat mit den herkömmlichen Konflikten und Komplexen […] wenig zu tun. Es handelt sich nach seinen Beobachtungen bei jungen Menschen in zahlreichen westlichen Ländern um Gewissenskonflikte und eine „existentielle Frustration […], um ein Gefühl der Sinnlosigkeit der eigenen Existenz; das eigene Dasein habe keinen Sinn. Es läßt sich vorstellen, wie diese für unsere Zeit ohnehin typische Ursache seelischer Erkrankung in der Schule als „Lernziel“ bei Kindern wirkt.[19]
Natürlich scheint dem eigenen Dasein der Sinn zu mangeln, wenn man eingetrichtert bekommt, daß der Einzelne weder etwas gestalten, noch ausrichten könne! Wer jungen Menschen Mechanismus (iii) – die Evolution durch schöpferische Liebe, Einsatz und Gehirnschmalz des Einzelnen – vorenthält oder durch Gewissenskonflikte verstellt, für die es keinen sachlichen Anlaß gibt, handelt verantwortungslos. Ob als Schulbuchredakteur, Lehrer oder Dozent.
Anmerkungen