Literatur

  • Sozialpartner in der Betreuungsindustrie

    Ein Anblick zum Mäusemelken sind
    Die fetten Keiler auf den Podien
    Sinnloser Kongregationen, in Tagungszentren
    Sich mästend von erpreßten Spesen,
    Gottkönige des Fortschritts.

    Schwerer
    Bist Du zu ertragen, Kenner
    Der windigen Szene, verbohrter
    Jüngling und Gutmensch, Stipendien-
    Schlucker,
    Ressentiment im gelben Gesicht:

    Verloren, jeder „Beweis“führung aus-
    Geliefert, ein Rausch kenntnislosen Verdachts,
    Eigener Scheuklappen Freund,
    Zu feige für eigene Kinder,
    Knüpfer der Schlinge, mit der Du
    Wirst abgewürgt werden.

    Dreist
    Versprechen Dir viele, aufzustehen
    Für Toleranz, gegen Unterdrückung zu ziehen
    Mit dem Nachwuchs der Mauermörder.
    Die Freiheit, sie wird die Partie
    Verlieren. Denn es wechseln bloß
    Ihr Panier die Vernichter:
    Die Lust der Meute bleibt Mord.

    ***

    Aus: Karsten Dahlmanns, Sonderlichs Sondierungen, Norderstedt 2018, über Amazon und in allen Buchhandlungen erhältlich. Eine weitere Leseprobe finden Sie hier und hier.

    Der volle Titel des Gedichts lautet übrigens: „Sonderlich liest fortschrittliche Lyrik, verläßt das Haus, um sich eine Hose zu kaufen, und notiert nach der Rückkehr mit einer Feder auf einem Bogen handgeschöpften Büttenpapiers, den er mit der Überschrift „Sozialpartner in der Betreuungsindustrie“ versieht:“.

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    Mythos und Thymos

    Auf dem Blog der Vierteljahresschrift Tumult erschienen: ein größeres Interview mit dem Schriftsteller Boris Preckwitz, das zu führen ich die Freude hatte. Leseempfehlung!

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    Stefan George (12.07.1868-4.12.1933)

    Heute vor einhundertfünfzig Jahren wurde Stefan George geboren. Ein Leserbrief-Schreiber auf der Achse des Guten fragt, warum er lesen solle, was „dieses unverständliche, mystisch überzogene Ego“ verfaßt habe.  Nun, darum vielleicht:

    Sie sagen dass bei meinem sang die blätter
    Und die gestirne beben vor entzücken ·
    Dass die behenden wellen lauschend säumen ·
    Ja dass sich menschen trösten und versöhnen.
    Erinna weiss es nicht · sie fühlt es nicht.
    Sie steht allein am meere stumm und denkt:
    So war Eurialus beim rossetummeln
    So kam Eurialus geschmückt vom mahle –
    Wie mag er sein bei meinem neuen liede?
    Wie ist Eurialus vorm blick der liebe?

  • Sonderlich liebt sein Berlin

    Sonderlich liebt sein Berlin
    Wie der Schulrat seinen Schiller,
    Wie die Dame aus der Villa
    Ihr diskretes Aspirin.

    Sonderlich hegt sein Berlin,
    Wie die Äffin den Gorilla,
    Wie der sanfte Serienkiller
    Seinen Kleine-Mädchen-Spleen.

    Nichts gleicht Sonderlich darum
    Zwischen Burg und Oder/Neiße
    Sommertagen in der Stadt:

    Nichts von Etwas findet statt.
    Alles stinkt nach Hundescheiße,
    Und man schwitzt sich langsam dumm.

    *

    Leseprobe aus: Karsten Dahlmanns (Hrsg.), Sonderlichs Sondierungen, Erzählungen und Gedichte, Norderstedt 2018. Inhalt: Vorrede des Herausgebers 9 – Göttingen als Lebensform 15 – In der Kitschkammer 25 – Sonderlichs Verse 33 – Der Narr von der Möckernbrücke 101 – Das ewige England 107 – Aus dem Vorort 117 – An der Grenze 129 – Verzeichnis der Gedichtanfänge und -überschriften 137. (Bildnachweis.)

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    Ein höflicher junger Mann…

    …aus Deutschland, den ich da kürzlich in Krakau getroffen habe.  Doch hat er alle Üblichkeiten des sozialstaatlich-ökologischen Konsenses so brav repetiert, daß ich an Stanisław Jerzy Lec‘ Aphorismus denken mußte: „Czasem psy merdają łańcuchem.“ (Das ist: Manchmal wedeln die Hunde mit ihrer Kette.)

    Quelle:  Stanisław Jerzy Lec, Myśli nieuczesane, Warschau 2017, S. 198. Bild: John Singer Sargent: Zeichnung von Edwin Austin Abbey (Wikimedia, gemeinfrei).

  • In eigener Sache: „Sonderlichs Sondierungen“ jetzt erschienen

    Es ist mir ein ganz besonderes Vergnügen, ankündigen zu dürfen, daß Sonderlichs Sondierungen vor wenigen Tagen erschienen sind. Das Buch ist versandkostenfrei beim Verlag und bei Amazon zu beziehen, natürlich auch im gewöhnlichen Buchhandel erhältlich.

    Was ist drin? Die Aufzeichnungen eines Verschollenen, der lange in Berlin ansässig war: Prosastücke zwischen Kurzgeschichte und Essay, außerdem Sonette und andere Gedichte – herausgegeben von meiner Wenigkeit.

    Der Inhalt: Vorrede des Herausgebers 9 – Göttingen als Lebensform 15 – In der Kitschkammer 25 – Sonderlichs Verse 33 – Der Narr von der Möckernbrücke 101 – Das ewige England 107 – Aus dem Vorort 117 – An der Grenze 129 – Verzeichnis der Gedichtanfänge und -überschriften 137.

    Aus der Vorrede des Herausgebers:

    Der Zeichenstand und sonstige Eigentümlichkeiten des Originals wurden erhalten. Dies gilt auch für sämtliche Passagen weltanschaulich haarsträubenden Inhalts. Es mag nicht schaden, wenn ich mich an diesem Ort für alle Geschmack- und Gedankenlosigkeiten Sonderlichs entschuldige, die nachfolgend wiedergegeben werden, sein mangelndes Gespür für politischen und ästhetischen Anstand, sein Defizit an Auf- und Abgeklärtheit, mich bis aufs Knochenmark davon distanziere. Pfui, pfui, pfui, so wahr mir alles, was bundesdeutschen Demokraten, ja sozial verantwortlichen Menschen überall auf der Welt heilig ist, helfe! Mein Halbbruder, der Zahnarzt, ist schuld; er und sein unverschämtes Honorar.

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    25 Jahre „Anschwellender Bocksgesang“

    Die Hypokrisie der öffentlichen Moral, die jederzeit tolerierte (wo nicht betrieb): die Verhöhnung des Eros, die Verhöhnung des Soldaten, die Verhöhnung von Kirche, Tradition und Autorität, sie darf sich nicht wundern, wenn ihre Worte in der Not kein Gewicht mehr haben.

    Botho Strauss. Mehr hier.

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    Prophet an Kasseler Rippspeer

    Friedrich Reck-Malleczewen berichtet über sein doppeltes Zusammentreffen mit Stefan George:

    Eine Woche bin ich in Hechendorf am Pilsensee Gast meines Freundes Clemens zu Franckenstein, der noch zwei Wochen vor Kriegsausbruch in London ein Konzert dirigiert hat und Gast von Winston Churchill gewesen ist. […] Wir sprechen über die kürzlich veröffentlichten, in ihrer Arroganz wirklich maßlosen Briefe, die Stefan George an Hugo von Hofmannsthal geschrieben hat, und zu Clés Erheiterung erzählte ich ihm die Einzelheiten einer Audienz, die ich bei George hatte, als er mich, auf erhöhtem Sitz zwischen zwei silbernen Armleuchtern thronend, nach meiner Einstellung zu Aristoteles fragte, und zwei Stunden später sah ich dann den Dichterfürsten auf dem Heidelberger Bahnhof, wie er im Wartesaal II. Klasse fettspritzend und mit einem geradezu pöbelhaften Appetit ein Kasseler Rippspeer mit Sauerkraut verschlang.

    Nun gut. Aber wäre es nicht besser gewesen, in der Manier Bertrand Russells darauf zu reagieren?

    I remember meeting for the first time one of the leading literary men of America, a man whom I had supposed from his books to be filled with melancholy. But it so happened that at that moment the most crucial baseball results were coming through on the radio; he forgot me, literature, and all the other sorrows of our sublunary life, and yelled with joy as his favourites achieved victory. Ever since this incident I have been able to read his books without feeling depressed by the misfortunes of his characters.

    *

    Nachweise: Friedrich Reck-Malleczewen, Tagebuch eines Verzweifelten, Frankfurt am Main: Eichborn 1994, S. 109; Bertrand Russell, The Conquest of Happiness, London: George Allen & Unwin Ltd. 1930, S. 154.