13 Zwerge, 4 Verse, 1 Hobbit

Interessant, was Übertragungen aus Gedichten machen. Nehmen wir die erste Strophe von J.R.R. Tolkiens Zwergenlied vom Gold hinter den Nebelbergen:

Far over the misty mountains cold,
To dungeons deep and caverns old
We must away ere brake of day
To seek the pale enchanted gold. 

Schön, nicht wahr? Wie aber so etwas übertragen? Es gibt verschiedene Möglichkeiten. Die deutsche Ausgabe vom Hobbit enthält eine Vers für Vers nachvollziehbare, wortgetreue Prosaübersetzung:

Weit über die kalten Nebelberge,
zu den tiefen Verliesen und uralten Höhlen
müssen wir fort, ehe der Tag anbricht,
das bleiche verzauberte Gold suchen.

Solche Genauigkeit hat natürlich (wie alles im Leben) ihren Preis: die Schönheit ist zerstoben. Man müßte das Original lesen oder sich vorlesen lassen, um seinen Reiz zu erahnen.

Zwei polnische Hobbit-Ausgaben gehen einen anderen Weg. Die ältere der beiden Editionen bietet folgende Nachdichtung an:

Ponad gór omglony szczyt
Lećmy, zanim wstanie świt,
By jaskiniom, lochom, grotom
Czarodziejskie wydrzeć złoto.

(Wörtlich übersetzt: Über der Berge umnebelten Gipfel
Laßt uns aufbrechen, bevor die Morgendämmerung anbricht,
Um den Höhlen, Verliesen, Grotten

Das zaubertätige Gold zu entreißen.)

Sie sehen: hier hat sich einiges verändert. Immerhin haben wir – im Unterschied zur deutschen Ausgabe – ein Gedicht vor uns, aber doch eines, dessen Inhalt und Form deutlich vom englischen Original abweichen. Schon die Reimordnung ist verändert worden. Tolkiens Gedicht folgt dieser Reimordnung:

a
a
bb
a

Die polnische Nachdichtung bietet zwei Paarreime (wenn man die Assonanz „grotom“ – „złoto“ akzeptiert). Dazu wirkt sie weniger feierlich, denn der Imperativ „lećmy“ hat etwas Umgangssprachliches an sich; hier ist keine Rede verpflichtender Aufgabe („we must…“) mehr. Das gesuchte Gold ist nun nicht mehr verzaubert (enchanted), sondern zaubertätig (czarodziejski). Blaß ist es weder hier, noch in der sogleich diskutierten Übersetzung; das geht einfach verloren.

Die jüngere polnische Hobbit-Ausgabe überträgt Tolkiens Zwergenlied in folgender Weise:

Wśród szczytów gór, w głębokich grotach
w otchłaniach hen, gdzie skalne wrota,
gdzie mrok i mgła, u kresu dnia,
my swego wciąż szukamy złota.

(Wörtlich übersetzt: Zwischen den Gipfeln der Berge, in tiefen Grotten,
In sehr weit entfernten Abgründen, wo felserne Tore sind,
Wo Dunkelheit und Nebel herrschen, am Ende des Tages,
suchen wir immerzu unser Gold.)

Hier hat sich noch mehr verändert. Doch das ist kein Zeichen von Willkür. Der Übersetzerin lag vor allem daran, den Rhythmus und die Reimordnung nachzubilden. Dies ist ihr, wenn man eine Assonanz (grotach) zugesteht, vorzüglich gelungen. Das „ch“ in „grotach“ ist nicht allzu stark zu sprechen.

Bei Tolkien haben wir die Reime:

cold
old
away – day
gold 

Die jüngere polnische Edition bietet:

grotach
wrota
mgła – dnia
złota

Auch der Rhythmus scheint sich mir näher am Original zu bewegen; natürlich im Vers mit den Binnenreimen, außerdem im zweiten Vers. Ist dort nach „dungeons deep“ eine kleine Pause anzunehmen, gilt dies ebenfalls nach „hen“ („sehr weit entfernt“; die Bestimmung ist nachgestellt, was aus meiner Übersetzung der Nachdichtung nicht hervorgeht).

Um welchen Preis freilich dies alles erreicht wird! Das Gold ist hier weder verzaubert, noch zaubertätig. Der Nebel (mgła) erscheint weit, weit von den misty mountains getrennt, als habe er rein gar nichts mit ihnen zu tun. Die Bestimmung „ere break of day“ wird um rund zwölf Stunden verschoben. Wie mir einige Muttersprachler versichert haben, sei „u kresu dnia“, obschon wörtlich als „an der Grenze des Tages“ (und somit neutral im Hinblick auf Morgan und Abend) zu übersetzen, als abendlicher Zeitpunkt zu verstehen. Ob „u kresu dnia“ hier überhaupt noch auf die Stunde des Aufbruchs bezogen, als solche verstanden werden kann, wirkt fraglich.

Welche der drei Übertragungen ist nun die beste? Die wortwörtliche Prosa-Übersetzung der deutschen Ausgabe, die ältere oder die jüngere Nachdichtung in polnischer Sprache? Diese Entscheidung liegt bei Ihnen. Mir ging es lediglich darum zu zeigen, wie der Übersetzer mit der Materie (und sich selbst) verhandeln muß, wo ein Gedicht übertragen werden soll. Hier gibt es keinen Königsweg, sondern nur trade-offs. Jede Entscheidung ein Quid pro quo. Und, von Glücksfällen abgesehen, jeder Gewinn auch ein Verlust.

*

Die deutsche Übersetzung stammt von Walter Scherf (J.R.R. Tolkien, Der kleine Hobbit, München 2002). Die ältere polnische Nachdichtung erstellte Włodzimierz Lewik (J.R.R. Tolkien, Hobbit czyli tam i z powrotem, Warschau 1997), die jüngere polnische Übertragung Paulina Braiter (J.R.R. Tolkien, Hobbit albo tam i z powrotem, Warschau 2009).

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Gleichförmigkeit und Eigenbrötelei

Richard Fernandez stellt fest, daß der Besuch einer renommierten Universität heute weniger der Bildung diene, als dem Auf-Linie-Bringen:

educational institutions have lately been focused on creating cultural clones of themselves. They are full of speech codes, no-go areas of inquiry, forbidden subject matter, and even banned books. All too often, you go to college to narrow your mind.

(Bildungsinstitutionen haben sich in letzter Zeit darauf konzentriert, Klone ihrer selbst zu produzieren. Sie sind voll von Sprachregelungen, Denk- und Forschungsverboten, und sie haben sogar Bücher verboten. Nur zu oft gehen junge Leute auf eine Universität, um ihren geistigen Horizont nicht zu erweitern, sondern zu verengen.)

Eine Alternative dazu sei Autodidaktentum, ein Streben nach Wissen außerhalb von Universitäten. Fernandez präsentiert eine Liste berühmter Autodidakten und beruft sich auf Elon Musk:

Elon Musk famously said “you don’t need college” to learn. 

(Wie allgemein bekannt, hat Elon Musk gesagt: Man braucht keine Hochschule, um zu lernen.)

Natürlich zeigt sich Fernandez vorsichtig. Der ‚unabhängige‘ Weg taugt nicht für jedermann. Bildungsentscheidungen sind, wie alle menschlichen Entscheidungen, Entscheidungen unter Risiko. Dergleichen kann auch schiefgehen. Deshalb gibt es eine schöne Entgegnung oder Parodie auf die abschließenden Verse des bekannten Gedichts „The Road Not Taken“ von Robert Frost:

I took the one less traveled by,
And that has made all the difference.

(Ich nahm den Weg, den weniger Leute wählten, / und das hat all den Unterschied ausgemacht.)

Die Parodie lautet (in deutscher Sprache): „Ich nahm den Weg, den weniger Leute wählten, und jetzt weiß ich leider, leider nicht mehr, wo ich hingeraten bin.“

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Crispinus & Crispianus

Gestern, am 25. Oktober, war der Gedenktag für die Heiligen Crispinus und Crispianus, bekannt im Englischen als St Crispin’s Day. Da kommt natürlich die St-Crispin’s-Day-Rede aus Shakespeares Henry V. in den Sinn. August Wilhelm von Schlegel hat bei ihrer Übertragung keinen schlechten Job gemacht:

Der heutge Tag heißt Crispianus‘ Fest:
Der, so ihn überlebt und heim gelangt,
Wird auf den Sprung stehn, nennt man diesen Tag,
Und sich beim Namen Crispianus rühren.
Wer heut am Leben bleibt und kommt zu Jahren,
Der gibt ein Fest am heilgen Abend jährlich
Und sagt: «Auf morgen ist Sankt Krispian!»
Streift dann den Ärmel auf, zeigt seine Narben
Und sagt: «Am Krispinstag empfing ich die.»
Die Alten sind vergeßlich; doch wenn alles
Vergessen ist, wird er sich noch erinnern
Mit manchem Zusatz, was er an dem Tag
Für Stücke tat: dann werden unsre Namen,
Geläufig seinem Mund wie Alltagsworte:
Heinrich der König, Bedford, Exeter,
Warwick und Talbot, Salisbury und Gloster,
Bei ihren vollen Schalen frisch bedacht!
Der wackre Mann lehrt seinem Sohn die Märe,
Und nie von heute bis zum Schluß der Welt
Wird Krispin-Krispian vorübergehn,
Daß man nicht uns dabei erwähnen sollte,
Uns wen’ge, uns beglücktes Häuflein Brüder:
Denn welcher heut sein Blut mit mir vergießt,
Der wird mein Bruder; sei er noch so niedrig,
Der heutge Tag wird adeln seinen Stand.
Und Edelleut in England, jetzt im Bett,
Verfluchen einst, daß sie nicht hier gewesen,
Und werden kleinlaut, wenn nur jemand spricht,
Der mit uns focht am Sankt Crispinustag.

Interessant zwei Lösungen des Übersetzers. Im berühmten, vielfach zitierten und adaptierten Vers „We few, we happy few, we band of brothers“ versetzt Schlegel das „happy“, um das Versmaß zu halten; es entsteht etwas wie „We few, we happy band of brothers“ („Uns wen’ge, uns beglücktes Häuflein Brüder“). Im vorletzten Vers dann setzt Schlegel „Und werden kleinlaut…“, was richtig ist und trifft und doch an Saft und Kraft des Vorbilds nicht heranreicht, wo es heißt: „And hold their manhoods cheap…“

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Jörg Bernig: Labenbrods Umgebung

Wie das Radebeuler Amtsblatt für den September 2020 auf Seite 9 verlauten läßt, hat sich der Oberbürgermeister der sächsischen Stadt, Bert Wendsche bei Jörg Bernig „für die öffentliche Beschädigung“ entschuldigt, nachdem er zuvor Widerspruch gegen die Entscheidung des Stadtrats eingelegt hatte, den Schriftsteller zum Kulturamtsleiter zu wählen. Damit ist die Causa Bernig zu einem versöhnlichen Ende gelangt, wiewohl einzuwenden wäre, daß man nicht „sich entschuldigen“ kann, sondern bloß „um Entschuldigung bitten“.

Mir scheint, es wäre nun Zeit, einmal auf den Schriftsteller Bernig zu schauen, den es ja jenseits aller politischen Fragen auch noch gibt. Hören wir also, wie Bernig in seinem Roman Anders (2014) die Umgebung der Stadt Labenbrod schildert, die natürlich ein fiktives Radebeul verkörpert, zumal sie, wie ihr Name bezeugt, an der „Labe“ (Tschechisch für „Elbe“) liegt:

Die Stadt konnte etwas Südländisches haben. Es blühte in einem fort an den Häusern und in den Gärten um sie herum, das Frühjahr begann hier etwas eher als anderswo, und der Herbst wehrte sich hier länger gegen den Winter. Aber oben auf dem Kamm der Hügel, da begann mit eins eine andere Welt.

War die Stadt unten ein grünes Kissen aus Linden, Kastanien und mächtigen Magnolien, so hatte sich oben ein Kiefernwald bis an den östlichen Hügelrand herangeschlichen. Er stand dort wie ein Barbarenheer, rotstämmig mit krätziger Rinde und zerzaustem Haar. Wie Wächter warteten die Kiefern da oder wie fiebrige Eroberer und gierten hinab auf die kultivierte Welt, die sie einnehmen, aber nicht erhalten wollten. Vielleicht hatten so auch die wirklichen Barbarenstämme auf Rom geblickt, bevor sie es plünderten und zerstörten. Abends glomm die Kiefernhaut bei flachstehender Sonne feurig und bedrohlich auf.

Die Hügel westlich des Flusses dagegen schwangen in Feldern davon, eines und noch eines und noch eines, und sie trugen, so schien es, immer andere Frucht, Gerste oder Weizen, Mais oder Raps. Zwischen den Feldern schlängelten sich Alleen mit alten Obstbäumen die Hügel hinauf, sie standen im Mai an der schmalen Straße weiß und rosa Spalier. Einer der Hügel leuchtete von einem Jahr auf’s andere lila von Lavendel. Wald und Felder hingen über der Stadt wie Heranrückungen längst vergangener Zeiten, wie letzte Echos aus den großen Tagen der Wildnis, aus denen der Dreifelderwirtschaft, die ja ein Kampf gegen die Wildnis war. […]

Sie passierten mit dem Moped den östlichen Hügelkamm und fuhren lange durch den Kiefernwald, es duftete nach Harz und Sandboden. Links und rechts der Straße standen weißgestrichene Markierungssteine an den Straßengräben, manche lehnten schief, als wären sie betrunken oder zum Umsinken müde. […] Der Waldausgang war ein Gleißen, sie hielten auf der kerzengeraden Straße darauf zu, das Moped summte und brummte unter ihnen, es sandte Wellen durch ihre Körper, und es dauerte eine Ewigkeit, bis sie den Wald wieder verließen, aber dann öffnete sich alles. Das Kiefernschattige verschwand, zu beiden Seiten dehnten sich Getreidefelder aus, mit einem Mal lag kein Harzgeruch mehr in der Luft.

Gar nicht schlecht, oder? Bernigs Anders enthält viele derart ‚dichte‘ Beschreibungen. Der Erzähler begleitet die Figuren, als würde er ihnen über die Schulter blicken; er schildert optische Eindrücke, Geräusche und Gerüche mit einer Intensität, die, wie auch die musikalische Qualität der Prosa, das Buch lesenswert macht. Dazu enthält es eine melancholische Liebesgeschichte mit überraschendem und im Hinblick auf die Logik des Erzählten höchst interessantem Ausgang.

Zitat aus: Jörg Bernig, Anders, Mitteldeutscher Verlag 2014, jetzt beziehbar über das Buchhaus Loschwitz, S. 72-73.

Alfred, Lord Tennyson: Ulysses (Auszug)

Alfred, Lord Tennyson: Ulysses (Auszug)

There lies the port; the vessel puffs her sail:
There gloom the dark, broad seas. My mariners,
Souls that have toil’d, and wrought, and thought with me—
That ever with a frolic welcome took
The thunder and the sunshine, and opposed
Free hearts, free foreheads—you and I are old;
Old age hath yet his honour and his toil;
Death closes all: but something ere the end,
Some work of noble note, may yet be done,
Not unbecoming men that strove with Gods.
The lights begin to twinkle from the rocks:
The long day wanes: the slow moon climbs: the deep
Moans round with many voices. Come, my friends,
It is not too late to seek a newer world.
Push off, and sitting well in order smite
The sounding furrows; for my purpose holds
To sail beyond the sunset, and the baths
Of all the western stars, until I die.
It may be that the gulfs will wash us down:
It may be we shall touch the Happy Isles,
And see the great Achilles, whom we knew.
Tho‘ much is taken, much abides; and tho‘
We are not now that strength which in old days
Moved earth and heaven, that which we are, we are;
One equal temper of heroic hearts,
Made weak by time and fate, but strong in will
To strive, to seek, to find, and not to yield.

Der Vers „It is not too late to seek a newer world“ beginnt mit einer Zusammenziehung von „It“ und „is“, die sich hier nicht wiedergeben läßt, weil das Auslassungszeichen nach unten springt. Übersetzung folgt bei Gelegenheit.

Graphik: Pixabay.

Von abgestanden Feindbildern
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Von abgestanden Feindbildern

Über eine erwartbar „fortschrittliche“ Theater-Inszenierung in unserer glücklosen Hauptstadt (vor dem großen Lockdown) berichtet Juri Tonal auf dem Blog en arrêt!:

Die Eintönigkeit und Ideenlosigkeit der antiamerikanischen Kulturszene in Deutschland deutet auf ein tiefsitzendes Ressentiment. […] Willkommen im Berliner Kunstbetrieb. Wenn die neueste Aufführung im Berliner Ensemble also als ein “Debüt nach Maß” [(RBB)] beschrieben wird, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es sich um Schrott handelt. […]

In Ubu Rex, das seit dem 13. Februar 2020 im Berliner Ensemble zu sehen ist, versucht sich Stef Lernous an einer Neufassung des Klassikers von Alfred Jarry, der 1896 einen gefräßigen, ordinären König inszenierte. Dieser geht auch über Leichen, um Macht und Einfluss zu gewinnen. Jarrys Original ist eine Herrschaftskritik, wenn man so will, die 1896 für einen echten Skandal sorgte, als die Uraufführung wegen Tumulten unterbrochen wurde. Der Autor der 2020er-Neufassung will dieses Stück ins Heute übersetzen. 

Es sei “[e]in ehrgeiziger Abend”, schreibt eine Autorin der Berliner Zeitung. Vorgenommen hat sich der Regisseur ein Stück über Donald Trump und den Verfall der Werte in Zeiten des Fernsehens. Zumindest mutet es so an: “Auf der Bühne sieht es aus wie bei Trumps unterm Sofa”, schreibt die Berliner Zeitung. Zwischen Chipstüten, heruntergekommenen Möbeln und Reality-TV thront Pa Ubu, der im Original von Alfred Jarry König Ubu ist. Es folgt diese Szene: “‘Gott hat die Welt nach seinem Ebenbild geschaffen. Gott ist rund. Ich bin rund’, und Pa schaut stolz an seinem Fettwanst hinunter über das gelb versiffte Hemd und die Schlabberkurzhose hinweg. ‘Also bin ich Gott!’” Da bleibt kein Auge trocken. Es ist das Bild der ungebildeten Unterschicht mit ihren fettleibigen Körpern und verschmutzter Kleidung, eine Symbolik der – natürlich selbstverschuldeten – Verkommenheit. Man könnte in ihr die Kehrseite der Kapitalgesellschaft erkennen, aber um die geht es nicht. Die Unterschicht mag man hier ohnehin nicht und zum Glück wohnt die jetzt in Amerika.

Der ganze Text, der im weiteren Verlauf u.a. Dan Diner aufbietet, ist hier zu finden.

(Bild: Pixabay.)

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Verfehlte Schuldzuweisung

Alexander von Schönburg bespricht in Cato 3/2019 Michael Houellebecqs Serotonin. Dabei zitiert er eine Passage aus dem Roman des französischen Schriftstellers, in der am Beispiele Spaniens von Rollkoffern und deren Vorgängern die Rede ist, welche getragen werden mußten, sofern nicht eigens dafür bestallte Kofferträger diese Aufgabe übernahmen: „Wie alle Länder des abendländischen Europas“ habe sich Spanien „in einem tödlichen Prozeß der Produktivitätssteigerung“ verfangen und „Stück für Stück aller nichtqualifizierten Tätigkeiten entledigt, die einst dazu beigetragen hatten, das Leben etwas weniger unerfreulich zu gestalten, und im gleichen Zug den Großteil seiner Bevölkerung zur Massenarbeitslosigkeit verdammt.“ Von Schönburg nimmt den Faden Houellebecqs auf: der Siegeszug des Rollkoffers und das Verschwinden das Kofferträgers stünden „stellvertretend für die Häßlichkeit unserer praktisch-effizienten Gegenwart, einer Welt, die sich aufteilt in die Habenden, die mit ihrer Vielfliegerkarte durch die Gegend jetten, auf der einen und die zur Unsichtbarkeit verurteilte Masse auf der anderen Seite, die mit Sozialhilfe abgefunden“ werde. Letztere werde „zu einem Leben in sozialer und kultureller Isolation gezwungen“.

So weit, so gut. Natürlich ist an der Opposition zwischen den „Somewheres“ und den „Anywheres“ etwas dran. Aber – und das ist ein wichtiges Aber – es liegt keinesfalls an der Markt- und Unternehmerwirtschaft mit ihren Vorstellungen von Produktivität und Effizienz, dem bösen, bösen Kapitalismus, daß es keine Kofferträger mehr gibt. Sondern an staatlichen Eingriffen. Die Kofferträger sind durch Mindestlohn-Gesetze und andere Formen der Sozialgesetzgebung, die „nichtqualifizierte Tätigkeiten“ (Houellebecq) teurer und teurer machen, aus dem Markt gedrängt – vulgo: um Lohn und Brot gebracht worden. Nicht der Kapitalismus, sondern der europäische Sozialstaat wäre zur Verantwortung zu ziehen.

Allgemeine Nutzanwendung: Kulturkritik sollte nicht auf verfehlten Prämissen beruhen. Sonst drohen verfehlte Therapie-Vorschläge.

(Alle Zitate: Cato 3/2019, S. 66.)

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Sebastian Junger: Krieg

Hochinteressanter Vortrag von knapp einer Viertelstunde Länge, in dem Sebastian Junger – den Deutschen sicher am besten bekannt (oder unbekannt) als Verfasser der Reportage-Vorlage für Wolfgang Petersens Spielfilm „Der Sturm“ („The Perfect Storm“) aus dem Jahr 2000 – über die Frage spricht, was den Krieg, eines der schrecklichsten Dinge überhaupt, so anziehend mache. Mit deutschen Untertiteln.