Unform folgt Unfunktion

Unform folgt Unfunktion

Blaise Ebiner schreibt in einem Artikel über die lebensphilosophischen Implikationen zeitgenössischer Architektur, dessen Stoßrichtung mir nicht übel gefällt:

A society that mistakes ugliness for beauty will build ugly things. […] In every case, we have professional critics who line up to tell us that our eyes are lying to us. These buildings are inspiring and beautiful, they tell us. Much time and expense were put into erecting them, so they must tell us something profound. If we cannot see that, we are just too dumb to understand. 

As is the case with many of our experts, these critics are wrong. […] These buildings are not beautiful or inspiring. They do have meaning, but not in the sense that the critics tell us. In a twisted and sad way, they unintentionally tell the truth about our times. We are willing to go to great effort and expense to create monuments to disorder, uselessness, and ugliness.

(Eine Gesellschaft, die Häßlichkeit für Schönheit hält, baut häßliche Dinge. Immer, wenn das geschieht, stehen Architekturkritiker bereit, um uns zu sagen, daß unsere Augen sich täuschen. Die fraglichen Gebäude seien inspirierend und schön, sagen sie uns. Eine Menge Zeit und Geld sei in deren Bau gesteckt worden, deshalb müßten sie uns etwas Tiefes mitteilen. Wenn wir das nicht erkennen, seien wir eben zu dumm, um es zu verstehen.

Wie so oft im Falle unserer Experten liegen diese Architekturkritiker falsch. Diese Gebäude sind weder schön noch inspirierend. Sie haben dennoch eine Bedeutung, aber keine, die dem entspräche, was uns die Architekturkritiker sagen. In einer traurigen und perversen Weise, gleichsam versehentlich, teilen uns diese Gebäude die Wahrheit über unsere Zeit mit: Wir sind willens, viel Aufwand und Geld zu investieren, um Monumente für Ungeordnetheit, Unbrauchbarkeit und Häßlichkeit zu schaffen.)

Interessant, wie „disorder“ hier zu übersetzen wäre, zumal das Wort für den Gehalt des Artikels von zentraler Bedeutung ist. „Chaos“ wäre eine Möglichkeit, als Gegensatz zu Kosmos; es wird jedoch heute selten in der gebotenen Tiefe verstanden. „Aus-den-Fugen-geraten-Sein“, ein Shakespeare-Anklang (Hamlet, 1. Akt, 5. Szene), wirkt in der Übersetzung eines in einem angelsächsischen Medium erschienenen Textes mehr als sinnfällig, aber sperrig. Stefan George würde vielleicht „Unform“ setzen, wie in seinem Gedicht „Der Krieg“ gebraucht; schön, aber schwer verständlich. Den Zuschlag erhielt das etwas blasse, doch taugliche „Ungeordnetheit“.

(Bild: Kunsthaus Graz. Heribert Pohl via Wikimedia, bearbeitet.)

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Cancel Culture? Neue Vertriebswege!

Ulrich Schödlbauer bemerkt auf Globkult über die Trennung des Fischer-Verlags von seiner langjährigen Autorin Monika Maron:

Der Vorgang ruft, neben dem politischen Aspekt, in Erinnerung, dass heutige Verlage vor allem Werbeplattformen in eigener Sache sind, die ihren Autoren Anteile an ihrer Marktpräsenz verkaufen. Das Buch, das gute Buch, die Schatztruhe der vielerlei Wahrheiten existiert nicht mehr. Das, was nach wie vor über den Buchhandel oder Amazon verkauft wird, ist bloß der ‚ordentliche‘ Ausdruck einer Datei, die auf multiplen Wegen ihre Leser erreichen könnte. Soll heißen, dem Vorgang des Buchdrucks selbst wohnt keinerlei aufklärerische Bedeutung mehr inne. Das Verlagswesen ist vom Verbreiter zum Flaschenhals seriöser Literatur geworden. Der Leser sollte das im Hinterkopf haben, will er das Verhalten von Massenverlagen und die Mentalität ihrer ‚Macher‘ verstehen. 

Ja und nein. Die Einschätzung des gegenwärtigen Verlagswesens überzeugt, die gedankliche Verknüpfung von Buchdruck und aufklärerischer Bedeutung weniger. Schließlich muß man nicht lange suchen, um antiaufklärerisches, (im Sinne Poppers) pseudowissenschaftliches oder schlechterdings obskures Zeugs zwischen prächtigen Buchdeckeln zu finden. Das ist keine Frage des Herausgabedatums, gilt heute ebenso wie vor 150 Jahren. Und natürlich existiert auch heute noch „das gute Buch, die Schatztruhe der vielerlei Wahrheiten“. Vereinzelt nämlich, wie immer schon.

Doch stimme ich Schödlbauer uneingeschränkt zu, wo er äußert: „Das, was nach wie vor über den Buchhandel oder Amazon verkauft wird, ist bloß der ‚ordentliche‘ Ausdruck einer Datei, die auf multiplen Wegen ihre Leser erreichen könnte.“ Sind, wie Schödlbauer richtig beobachtet, etablierte Verlage „vom Verbreiter zum Flaschenhals seriöser Literatur geworden“, muß sich die seriöse Literatur eben neue Vertriebswege suchen. Wenn kein anderer ‚traditionell‘ arbeitender Verlag ein Angebot macht, dann eben jenseits des überkommenen Verlagswesens. Die Technik steht zur Verfügung, das Internet und Print on Demand machen einen Direktvertrieb vom Schriftsteller-Schreibtisch zum Kunden möglich. Alternative Geschäftsmodelle wie Abonnements oder freiwillige Zahlungen funktionieren. Michael Klonovsky, Dushan Wegner und die Leute von der Achse des Guten machen es vor. Gut, die Beispiele reichen ins Journalistische, berühren keine „seriöse Literatur“, aber das muß ja nicht so bleiben. Zumal bereits der bloß vorderhand marktfeindliche Stefan George sich als überaus findig erwies, was Aufbau und Ausnutzung der Marke „Stefan George“ und geeignete, auch ungewöhnliche Vertriebswege angeht.

Mit einem Wort: Nicht jammern, sondern die Segnungen der Technik und der Katallaxie beherzt und mit unternehmerischem Elan nutzen!

Jüngste Buchveröffentlichung: Dahlmanns / Freise / Kowal (Hrsg.), „Krieg in der Literatur, Literatur im Krieg“

Jüngste Buchveröffentlichung: Dahlmanns / Freise / Kowal (Hrsg.), „Krieg in der Literatur, Literatur im Krieg“

Letzten Sommer erschienen: Karsten Dahlmanns / Matthias Freise / Grzegorz Kowal (Hrsg.), „Krieg in der Literatur, Literatur im Krieg“, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020, 578 Seiten.

Der Band versammelt 37 Aufsätze von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus den USA, China, der Schweiz, Österreich, Deutschland und Polen. Ein ausführliches Namenregister hilft bei der Erschließung seiner Inhalte. Weitere Informationen auf den Seiten des Verlags und bei Amazon (Blick ins Buch).

Steffen Dietzsch, Wilfried Lehrke: Geheimes Deutschland. Von Deutschlands europäischen Gründen.
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Steffen Dietzsch, Wilfried Lehrke: Geheimes Deutschland. Von Deutschlands europäischen Gründen.

Steffen Dietzsch und Wilfried Lehrke haben vor einiger Zeit ein Bändchen vorgelegt, in dem sie dafür werben, den Begriff „Geheimes Deutschland“ ernstzunehmen. Die im Umkreis Stefan Georges gebrauchte Fügung meint „die Idee dessen, was Deutschland jenseits bloßer historisch-politischer Zeit und Geschichtslagen sein sollte“; sie gehöre „zu den überempirischen Prinzipien, die uns über alle durchlittenen Schiffbrüche hinweg – wenn auch oft genug nur im Klandestinen – immer auch Denkräume für das Tiefste offen gehalten haben.“ (S. 68) Die beiden Verfasser schildern in affirmativer Weise die wertstiftenden Bezüge Georges und seiner Anhänger auf die Staufer, heben aber auch – und dies stärker als George oder gar gegen ihn – die Bedeutung der deutschen Klassik hervor: „Weimar verkörpert als seelische Landschaft des Deutschen dessen integrative Potenzen als etwas Besonderes seines Nationalcharakters.“ (S. 54, Kursiv im Original) Mit „integrative Potenzen“ dürften die Autoren u.a. die Fähigkeit vieler deutscher Dichter und Denker – das Klischeehafte dieser Reihung möge dem Rezensenten vergeben werden – verstehen, ästhetische Prinzipien und Bestandteile der Weltauffassung des antiken Griechentums aufzunehmen. Den Deutschen eigne darum dort, wo sie nicht lediglich im Praktisch-Tagespolitischen verhaftet bleiben, etwas Übernationales, ja Europäisches. In jedem Falle will die Rede vom Geheimen Deutschland, wie auch jene von der Klassik nicht auf ein Idyll hinaus. Die Autoren unterstreichen „die Differenz von lebendiger Deutsche [sic] Klassik und abstraktem Klassizismus (gleich welcher Couleur)“ (52): „Während deutsche Klassik die facettenreiche Passionsnatur des Menschen als Unabschließbares und Tragisches, damit Hochwidersprüchliches thematisiert, hält Klassizismus dem Menschen ein ‚ewiges‘ Maß des ‚Guten‘, ‚Wahren‘ und ‚Schönen‘ vor.“ (ebd.)

Soweit, wie zu erkennen, das Argument. Die kleine Abhandlung stellt – natürlich – keinen wissenschaftlichen Text dar, sondern einen Essay, der von Andeutungen und überraschenden Verknüpfungen lebt. So springen die beiden Verfasser recht unbekümmert zwischen Passagen aus dem Werk und Manuskripten Stefan Georges, Friedrich Nietzsches und Friedrich Gundolfs hin- und her, als ob das alles Bausteine eines Programmes wären! Zudem wirken einige der angeführten George-‚Stellen‘ recht konventionell. Wer sich nur ein wenig mit dem in Bingen aufgewachsenen Dichter beschäftigt hat, findet bei Dietzsch und Lehrke manches Erwartbare (S. 19-21, 24, 26-27, 29-30, 35, 44, 49), aber kaum Überraschendes. Es scheint, als sollten der Mensch Stefan George und sein Werk auf einen – in welcher Hinsicht auch immer – passenden Mythos, eine passende Charaktermaske zurechtgestutzt werden. Als in belebendes Gegenmittel sei die Monographie Das verfluchte Amerika. Stefan Georges Bildnis von Unternehmertum, Markt und Freiheit (Würzburg 2016) aus der Feder des Rezensenten empfohlen; darin vor allem der dritte Teil, der Georges beträchtlichem Unternehmer-Talent gewidmet ist.

In das genannte Zurechtstutzen Georges schreibt sich eine kaum anders als lachhaft zu nennende Monumentalisierung ein (S. 23):

Und umgekehrt sahen die jungen Dichter aus dem Pariser Kreis um Mallarmé (1890) in Stefan George, der ja als einziger Deutscher dazugehörte, den neuen Sänger des – vorerst noch geheimen – wahren Deutschland. Er ist ihnen der geistige Bote eines anderen Deutschlands als des Machtdeutschlands, das die Franzosen jüngst unterworfen hatte.

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Stefan George (12.07.1868-4.12.1933)
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Stefan George (12.07.1868-4.12.1933)

Heute vor einhundertfünfzig Jahren wurde Stefan George geboren. Ein Leserbrief-Schreiber auf der Achse des Guten fragt, warum er lesen solle, was „dieses unverständliche, mystisch überzogene Ego“ verfaßt habe.  Nun, darum vielleicht:

Sie sagen dass bei meinem sang die blätter
Und die gestirne beben vor entzücken ·
Dass die behenden wellen lauschend säumen ·
Ja dass sich menschen trösten und versöhnen.
Erinna weiss es nicht · sie fühlt es nicht.
Sie steht allein am meere stumm und denkt:
So war Eurialus beim rossetummeln
So kam Eurialus geschmückt vom mahle –
Wie mag er sein bei meinem neuen liede?
Wie ist Eurialus vorm blick der liebe?

Prophet an Kasseler Rippspeer
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Prophet an Kasseler Rippspeer

Friedrich Reck-Malleczewen berichtet über sein doppeltes Zusammentreffen mit Stefan George:

Eine Woche bin ich in Hechendorf am Pilsensee Gast meines Freundes Clemens zu Franckenstein, der noch zwei Wochen vor Kriegsausbruch in London ein Konzert dirigiert hat und Gast von Winston Churchill gewesen ist. […] Wir sprechen über die kürzlich veröffentlichten, in ihrer Arroganz wirklich maßlosen Briefe, die Stefan George an Hugo von Hofmannsthal geschrieben hat, und zu Clés Erheiterung erzählte ich ihm die Einzelheiten einer Audienz, die ich bei George hatte, als er mich, auf erhöhtem Sitz zwischen zwei silbernen Armleuchtern thronend, nach meiner Einstellung zu Aristoteles fragte, und zwei Stunden später sah ich dann den Dichterfürsten auf dem Heidelberger Bahnhof, wie er im Wartesaal II. Klasse fettspritzend und mit einem geradezu pöbelhaften Appetit ein Kasseler Rippspeer mit Sauerkraut verschlang.

Nun gut. Aber wäre es nicht besser gewesen, in der Manier Bertrand Russells darauf zu reagieren?

I remember meeting for the first time one of the leading literary men of America, a man whom I had supposed from his books to be filled with melancholy. But it so happened that at that moment the most crucial baseball results were coming through on the radio; he forgot me, literature, and all the other sorrows of our sublunary life, and yelled with joy as his favourites achieved victory. Ever since this incident I have been able to read his books without feeling depressed by the misfortunes of his characters.

*

Nachweise: Friedrich Reck-Malleczewen, Tagebuch eines Verzweifelten, Frankfurt am Main: Eichborn 1994, S. 109; Bertrand Russell, The Conquest of Happiness, London: George Allen & Unwin Ltd. 1930, S. 154.

Stefan George: Hannover, die „fahlste“ Stadt Deutschlands
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Stefan George: Hannover, die „fahlste“ Stadt Deutschlands

Ein Bekannter verdingte sich als Lohnschreiber bei einem Wochenblättchen. Einer seiner ersten (und, dank emsigen Aufwärtsstrebens bei beträchtlichem Talent, letzten) Marketing-Texte begann mit der gewaltigen Fügung: „Schon Goethe schätzte Wurst im Naturdarm.“

So habe denn nun ich das besondere Vergnügen, folgenden Satz in die virtuelle Welt zu meißeln: „Schon Stefan George lästerte über Hannover.“

(Den nicht-Hannoveranern sei hier am Rande mitgeteilt, daß die eigentlichen und auch die gottlob ehemaligen Bewohner der niedersächsischen Hauptstadt ein recht vielschichtiges Verhältnis zu dem spröden und erschütternd schmutzigen Konglomerat an Leine und Maschsee pflegen.)

Wie dem auch sei. Der Meister schrieb in seinem großen Gedicht „Der Krieg“, das, zuvor, und gänzlich unmeisterlich, als Sonderdruck vulgo Flugschrift kursierend, in den Band Das neue Reich einging:

Wo zeigt der Mann sich der vertritt? das Wort
Das einzig gilt fürs spätere gericht?
Spotthafte könige mit bühnenkronen ·
Sachwalter · händler · schreiber – pfiff und zahl.
Auch in verbriefter ordnung grenzen: taumel ·
Dann drohnde wirrsal .. da entstieg gestüzt
Auf seinen stock farblosem vororthaus
Der fahlsten unsrer städte ein vergessner
Schmuckloser greis .. der fand den rat der stunde
Und rettete was die gebärdig lauten
Schliesslich zum abgrundsrand gebracht: das reich ..

Da haben Sie’s: Hannover, die „fahlste“ aller Städte Deutschlands. Der Greis ist Paul von Hindenburg; das „farblose vororthaus“ sehen Sie oben – die Villa Köhler, hier als Villa Hindenburg bezeichnet.

Vielleicht trifft der downgrade, welchen der Dichter dem Domizil des Herrn von Hindenburg verpaßt hat, die Stadt am Rande mit; als ästhetisch-weltanschaulicher Kollateralschaden. Vielleicht war es gezielte und sauber dosierte Bösartigkeit. Wer kann das wissen – außer dem Meister?

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Bildnachweis. Ein wenig mehr über George, von Hindenburg, die Villa Köhler in Hannover und das Gedicht „Der Krieg“ in meinem Aufsatz „Geist bei George. Beobachtungen“, in: Aneta Jachimowicz, Tomasz Żurawlew (red.), Geisteskultur zwischen Ästhetik und Poetik, Würzburg 2016.