Steffen Dietzsch und Wilfried
Lehrke haben vor einiger Zeit ein Bändchen vorgelegt, in dem sie dafür werben,
den Begriff „Geheimes Deutschland“ ernstzunehmen. Die im Umkreis Stefan Georges
gebrauchte Fügung meint „die Idee dessen, was Deutschland jenseits bloßer
historisch-politischer Zeit und Geschichtslagen sein sollte“; sie gehöre „zu
den überempirischen Prinzipien, die uns über alle durchlittenen Schiffbrüche
hinweg – wenn auch oft genug nur im Klandestinen – immer auch Denkräume für das
Tiefste offen gehalten haben.“ (S. 68) Die beiden Verfasser schildern in
affirmativer Weise die wertstiftenden Bezüge Georges und seiner Anhänger auf
die Staufer, heben aber auch – und dies stärker als George oder gar gegen ihn –
die Bedeutung der deutschen Klassik hervor: „Weimar verkörpert als
seelische Landschaft des Deutschen dessen integrative Potenzen als etwas
Besonderes seines Nationalcharakters.“ (S. 54, Kursiv im Original) Mit
„integrative Potenzen“ dürften die Autoren u.a. die Fähigkeit vieler deutscher
Dichter und Denker – das Klischeehafte dieser Reihung möge dem Rezensenten
vergeben werden – verstehen, ästhetische Prinzipien und Bestandteile der
Weltauffassung des antiken Griechentums aufzunehmen. Den Deutschen eigne darum
dort, wo sie nicht lediglich im Praktisch-Tagespolitischen verhaftet bleiben,
etwas Übernationales, ja Europäisches. In jedem Falle will die Rede vom
Geheimen Deutschland, wie auch jene von der Klassik nicht auf ein Idyll hinaus.
Die Autoren unterstreichen „die Differenz von lebendiger Deutsche [sic] Klassik
und abstraktem Klassizismus (gleich welcher Couleur)“ (52): „Während
deutsche Klassik die facettenreiche Passionsnatur des Menschen als
Unabschließbares und Tragisches, damit Hochwidersprüchliches thematisiert, hält
Klassizismus dem Menschen ein ‚ewiges‘ Maß des ‚Guten‘, ‚Wahren‘ und ‚Schönen‘
vor.“ (ebd.)
Soweit, wie zu erkennen, das
Argument. Die kleine Abhandlung stellt – natürlich – keinen wissenschaftlichen
Text dar, sondern einen Essay, der von Andeutungen und überraschenden
Verknüpfungen lebt. So springen die beiden Verfasser recht unbekümmert zwischen
Passagen aus dem Werk und Manuskripten Stefan Georges, Friedrich Nietzsches und
Friedrich Gundolfs hin- und her, als ob das alles Bausteine eines Programmes
wären! Zudem wirken einige der angeführten George-‚Stellen‘ recht
konventionell. Wer sich nur ein wenig mit dem in Bingen aufgewachsenen Dichter
beschäftigt hat, findet bei Dietzsch und Lehrke manches Erwartbare (S. 19-21, 24,
26-27, 29-30, 35, 44, 49), aber kaum Überraschendes. Es scheint, als sollten
der Mensch Stefan George und sein Werk auf einen – in welcher Hinsicht auch
immer – passenden Mythos, eine passende Charaktermaske zurechtgestutzt werden. Als
in belebendes Gegenmittel sei die Monographie Das verfluchte Amerika. Stefan
Georges Bildnis von Unternehmertum, Markt und Freiheit (Würzburg 2016) aus
der Feder des Rezensenten empfohlen; darin vor allem der dritte Teil, der
Georges beträchtlichem Unternehmer-Talent gewidmet ist.
In das genannte Zurechtstutzen
Georges schreibt sich eine kaum anders als lachhaft zu nennende Monumentalisierung
ein (S. 23):
Und umgekehrt sahen die jungen Dichter aus dem Pariser Kreis um Mallarmé (1890) in Stefan George, der ja als einziger Deutscher dazugehörte, den neuen Sänger des – vorerst noch geheimen – wahren Deutschland. Er ist ihnen der geistige Bote eines anderen Deutschlands als des Machtdeutschlands, das die Franzosen jüngst unterworfen hatte.
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