Der „Eiertanz“ (Popper 1984: 109) um Rolf Peter Sieferles 2017 im Verlag Antaios erschienenes Büchlein Finis Germania, zwischenzeitlich persona non grata auf der Bestsellerliste von Norddeutschem Rundfunk und Süddeutscher Zeitung, ist weithin bekannt (Müller 2017, Wang 2017). Die gegenwärtige Rezension befaßt sich nicht mit der Antaios-Publikation, sondern mit Sieferles Abhandlung Das Migrationsproblem, die ebenfalls 2017 erschienen ist, bei Manuscriptum.
Sieferles Migrationsproblem teilt sich in fünf
Teile: „Migrationsursachen“, „Situation in den Zielländern“, „Narrative zur
Legitimation“, „Motive der Akteure“, „Die längere historische Perspektive“. Der
Großteil seiner Erwägungen betrifft die Situation in Europa, mithin jene
Länder, die Ziel der Migration sind. Hier sieht der habilitierte Historiker
Tendenzen zur Selbstdestruktion am Werke, die mit geregelter oder ungeregelter
Einwanderung nichts zu tun haben, wohl aber von ihr verstärkt werden. Seine
Argumente entstammen der – wenn man möchte, ‚klassischen‘ – liberalen[1] und
auch der konservativen Kritik an der modernen Massendemokratie; die Ausuferung
des Sozialstaats, deren volkswirtschaftliche und moralische Folgen werden
beklagt. „Ein Produkt dieser Entwicklung“, so Sieferle im Anschluß an Helmut
Schelsky, sei
der „betreute Mensch“, der die Vielfalt von sozialstaatlichen Leistungen, die ihm zufließen, für selbstverständlich hält: Bildung/Ausbildung, Gesundheitswesen, Infrastruktur, Kindergärten, Erziehungsgeld, Schwimmbäder, Sportstadien, Altersheime etc. Der betreute Mensch wird im Zuge dieser Entwicklung immer weicher und unselbständiger. Die Jungen werden zu Mädchen erzogen. Die Menschen werden empfindlicher, allergischer, veganer. (111-112)
Ein solcher Dekadenz-Befund
ist nichts Neues, geschweige denn Originelles – aber auch nichts Überholtes! –,
und sein Vorkommen ist weder auf das beginnende einundzwanzigste Jahrhundert,
noch auf Deutschland beschränkt. Doch beeinträchtigt dieser Umstand keineswegs das Vergnügen, Sieferles Migrationsproblem zu lesen. Denn sein
Buch schöpft aus der europäischen Bildungstradition seit der Antike, spricht
von Barbaren, wo Barbaren (jeglicher Zeit und Herkunft) gemeint sind, und ruft
damit einen gelinden, deshalb desto wirkmächtigeren Anklang an das Schicksal
des (west-)römischen Reiches hervor; es nennt „ochlokratische Tendenzen“ als
grundlegendes Problem jeder Demokratie (92), bezeichnet die gegenwärtigen
Europäer im abschließenden Kapitel über mehrere Seiten mit Nietzsches
Zarathustra als „letzte Menschen“ (130-132). Der Nietzsche-Bezug bleibt
unausgewiesen; wie ja auch die Anklänge an Helmut Schoecks gewaltige Studie Der Neid zwar merklich sind, aber nicht
belegt werden. Arnold Gehlen, Max Scheler und Max Weber stehen (ebenfalls nicht
immer genannt) Pate, wo Sieferle mit den Begriffen der Hypermoral und Gesinnungsethik
arbeitet, die Moral eines allumfassenden Humanismus als etwas Gefährliches, da
Selbstzerstörerisches begreift.
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