„Der gute und der böse Neid“ – über Helmut Schoeck.
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„Der gute und der böse Neid“ – über Helmut Schoeck.

Junge Freiheit Nr. 40/23

Herr Professor Dahlmanns, ist Ihnen da ein Fehler unterlaufen?
Karsten Dahlmanns: Inwiefern?

Der Titel Ihres Buchs lautet: „Vom besonderen Unglück tüchtigerer Minderheiten“. Sicher soll das aber doch „Glück“ heißen?
Dahlmanns: Nein, denn alles hat seinen Preis, also auch der glückliche Umstand, ein besonderes Talent zu besitzen, außergewöhnlich attraktiv zu sein oder sorgsame, wohlsituierte Eltern zu haben. Da läßt der Neid der weniger von Fortuna Bedachten nicht lange auf sich warten.

Ich spüre in der Tat die Eifersucht schon brodeln …
Dahlmanns: Und wie gehen Sie damit um?

Manche treten ihren Hund … Ich natürlich nicht!
Dahlmanns: Meist äußert sich Neid in eher harmlosen Formen, etwa in despektierlichen Beschreibungen, unterfüttert mit einer Art Küchenpsychologie.

Zum Beispiel?
Dahlmanns: Der virtuose Programmierer wird zum „Nerd“, Gutaussehende firmieren unter „Beau“ oder „Prinzeßchen“ und verfügen angeblich über einen bestenfalls oberflächlichen Charakter, und Kinder aus gutem Hause, die sich benehmen können, werden dafür bedauert, keine richtigen Kinder sein zu dürfen. Der Publizist Rainer Zitelmann weist darauf hin, daß wirtschaftlich Erfolgreiche gern als gefühlskalt, rechen- und automatenhaft beschrieben werden: Wer reich ist, der „muß“ zum Ausgleich ein emotionales Defizit aufweisen.

„Hilf dir selbst, so hilft dir Gott“, „Das Glück ist mit den Tüchtigen“, „Dem Tüchtigen gehört die Welt“ Wenn tüchtig zu sein ein Unglück ist, führen uns dann diese Volksweisheiten seit Jahrhunderten in die Irre?
Dahlmanns: Nein, sie liegen schon richtig. Ihr Gegenstand taucht bereits in einem Gleichnis Jesu auf: Wer ein Talent erhält und es vergräbt – also nichts daraus macht –, kann auf Gnade nicht hoffen. Bemerkenswert ist, daß diese Volksweisheiten eine Ermunterung darstellen. Warum aber ist eine solche Ermunterung überhaupt nötig? Wohl deshalb, weil der Begabte einen Anstoß braucht, sein Glück trotz der im Falle eines Mißerfolgs zu erwartenden Häme seiner Nachbarn, Mitschüler, Kollegen zu erproben.

Aber ist Neid nicht eigentlich ein Problem des Neiders?
Dahlmanns: Wäre er ausschließlich das Problem des Neiders, lebten wir in einer anderen Welt. Der 1993 verstorbene Soziologe Helmut Schoeck nennt eine Fülle Beispiele aus aller Herren Länder, die zeigen, wie gefährlich es werden kann, wenn man beneidet wird – bis hin zum Mord aus Neid: Ein, wie Schoeck formuliert, „unansehnlicher Gelegenheitsarbeiter“ tötete einen jungen Mann, weil er „den Glanz des erfolgreichen Sportlers nicht ertragen“ konnte, oder ein begabter Musikstudent ermordete einen noch begabteren Musikstudenten. Der in Deutschland viel zu wenig bekannte US-Soziologe Thomas Sowell ergänzt Schoecks Forschung um weitere Beispiele aus Asien, Afrika und Lateinamerika: Wo auch immer eine Minderheit in irgendeiner Form tüchtiger ist, etwa mehr Universitätsabschlüsse erwirbt oder besser verdient als die umgebende Mehrheit, drohen ihr Übel. Dies gilt besonders dann, wenn sie sich äußerlich unterscheidet, wie etwa die meisten ethnischen Chinesen in Indonesien oder indische Händler im Osten Afrikas. Erstere hatten Pogrome zu erleiden, letztere wurden aus vielen in die Unabhängigkeit entlassenen Staaten vertrieben, mitsamt ihrem Know-how. Im Peru des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts bildeten japanische Immigranten eine tüchtigere Minderheit hinsichtlich Bildung und Geschäftstätigkeit, ja selbst bei bloßer Land- und Lohnarbeit; es gab Pressekampagnen gegen sie, Boykottversuche und schließlich ein Gesetz, das die Einwanderung von Japanern gründlich einschränkte. Und honduranische Bauern klagten, es sei „unfair“, mit allzu arbeitsamen Immigranten aus Deutschland konkurrieren zu müssen. Die Beispiele zeigen, wie Sowell Schoecks Ansatz fortführt, ohne – versteht sich –, von ihm abhängig zu sein. Da von Minderheiten die Rede ist: Die kleinste Minderheit bildet, mit der libertären Autorin Ayn Rand zu sprechen, das begabte Individuum. Schoeck legt seinen Finger immer wieder auf eine besondere Wunde: die Entmutigung des begabten oder sonstwie besser situierten Einzelnen durch unterschwellige oder auch gröbere Gemeinheiten einer neiderfüllten Umgebung.

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Götz Aly und Hans-Ulrich Wehler über Kapitalismus, Antisemitismus und Sozialpolitik

Der vorliegende Essay enthält einige Beobachtungen und Reflexionen, die an den Aufsatz „Zur Kontroverse um Götz Alys Warum die Deutschen? Warum die Juden?“ anschließen. Die neuerliche Beschäftigung mit Alys Forschung rechtfertigt sich aus dem Erscheinen seines neuesten Buches Europa gegen die Juden 1880-1945. Die 2017 publizierte Abhandlung stellt eine Weiterführung des Ansatzes dar, der Alys 2011 auf den Markt gekommenem Buch über den in letzter Konsequenz mörderischen Neid der Deutschen auf die Juden zugrunde liegt. Beide Aufsätze widmen sich also einem Forschungsprogramm, wenn Imre Lakatos’ Begriff in das Reich idiographischer Wissenschaft ausgedehnt werden darf (vgl. Lakatos 1982: 46-52).

Wie zuvor geschehen, sollen auch diesmal ausgewählte Reaktionen auf Alys Buch in der deutschsprachigen Presse diskutiert werden. Unter ihnen verdienen zwei Rezensionen besonderes Lob dafür, daß sie in einer Zeit, wo nur zu gern ‚mißverstanden‘ und entstellend zitiert wird, in prophylaktischer Absicht hervorheben, was auch der Verfasser der gegenwärtigen Zeilen über Alys Buch denkt:

An der deutschen Urheberschaft für den Holocaust lässt Aly keinen Zweifel. Nur böser Wille kann ihm die Absicht unterstellen, diese Schuld und Verantwortung relativieren zu wollen, wenn er betont, dass die Nationalsozialisten Helfer und Mittäter in ganz Europa fanden. (Jahr 2017)

Die Idee, Antisemitismus als europäisches Phänomen von Athen bis Budapest, von Paris bis Berlin zu deuten, ohne den Holocaust direkt in den Mittelpunkt zu rücken, ist originell. Darin nach heimlichen Entschuldungswünschen zu fahnden, ist keinen Gedanken wert, gerade bei einem Historiker, ohne den die hiesige Holocaustforschung um einiges ärmer wäre. (Reinecke 2017)

Darüber hinaus betrachtet der vorliegende Aufsatz ausgewählte Argumente Hans-Ulrich Wehlers, der uns als scharfer Kritiker Alys erinnerlich ist (vgl. Dahlmanns 2017: 45, 52). Dies geschieht in der Absicht, Wehlers Kritik zu kontextualisieren. Wie sich erweisen wird, könnte ein systematischer Grund für Wehlers Ablehnung des Alyschen Forschungsprogramms vorliegen. Er wäre in Wehlers kapitalismuskritischen Anschauungen zu finden, die – mit manchem sachlichen Fehler belastet – sozialdemokratische Vorstellungen von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft favorisieren, sowie dem Umstand, daß jedwede anthropologische Argumentation, die vollständig genug ist, um auch den Neid zu kennen, auf Ideen sozialdemokratischen oder sozialistischen Zuschnitts zu wirken pflegt wie das Tageslicht auf Vampire. Insofern wiederholt Wehler mit Aly, was Karl Marx mit dem französischen Schriftsteller Eugène Sue vornahm, nachdem jener einen Roman über den Neid und dessen Überwindung als Aufgabe für den Einzelnen, nicht für die Gesellschaft, veröffentlicht hatte (vgl. Schoeck 1966: 159-163).

1 Alys Argument in grundsätzlicher Betrachtung

Alys neuestes Buch untersucht die Judenfeindschaft in Europa während der Jahre 1880 bis 1945, mit besonderem Gewicht auf der Zeit vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. Dabei wird der deutsche Sprachraum ausgespart; erforscht werden Frankreich, Polen, die Ukraine, Rußland, Litauen, Ungarn, Rumänien, Bulgarien und Griechenland.[1] Der Historiker beschreibt die verschiedenen Erscheinungen des Antisemitismus in diesen Ländern unter drei Aspekten:

  • Angehörige der Mehrheitsbevölkerung vieler der genannten Staaten berauben Juden ihres Besitzes, beschädigen oder vernichten deren Behausungen und Werkstätten, Ladengeschäfte etc., vergewaltigen, verstümmeln und morden (vgl. Aly 2017: 166-178 u.ö.).
  • Die Regierungen fast aller der genannten Staaten betreiben Sozialpolitik auf Kosten der Juden. Um die jeweilige Mehrheitsbevölkerung zu fördern, werden verschiedenste Gesetze erlassen, die Juden in ihrer Berufswahl und -tätigkeit behindern, jüdische Kaufleute und Unternehmer mit Sondersteuern und schikanösen Auflagen belegt. Auch im Bildungswesen wird den Juden das Fortkommen erschwert, um die Mehrheitsbevölkerung zu bevorteilen, z.B. durch konfessionell gebundene Studienplätze (vgl. ebd. 94-98, 205-208 u.ö.)
  • In den Jahren vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs wird in den meisten der genannten Staaten eine Politik favorisiert, die auf die Emigration ihrer jüdischen Minderheit zielt. Dies soll einen möglichst homogenen Nationalstaat schaffen, ist nicht nur gegen die Juden, sondern auch gegen andere Minderheiten gerichtet. Daher wird es von Aly u.a. im Zusammenhang mit Maßnahmen des Bevölkerungsaustausches betrachtet (z.B. zwischen Griechenland und der Türkei, vgl. ebd. 188-192).
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Götz Alys neuere Holocaust-Forschung und ihre Rezeption. Eine kritische Bestandsaufnahme (Auszug)

Götz Aly ist einer der bekanntesten deutschen Historiker, die über die Entrechtung, Ausplünderung und Ermordung der europäischen Juden forschen. Der vorliegende Aufsatz beschäftigt sich mit einigen jüngeren Veröffentlichungen Alys, angefangen mit der 2005 publizierten Studie Hitlers Volksstaat, die aufzeigt, welche Vorteile der gewöhnliche Volksgenosse von ‚Vater Staat‘ unter den Nationalsozialisten erwarten durfte. Sodann werden die Bücher Warum die Deutschen? Warum die Juden? (2011) und Europa gegen die Juden. 1880-1933 (2017) besprochen. Beide Werke fragen nach den Vorbedingungen des Holocaust, soweit Moral und Ethik, sozialpolitische und solche Maßnahmen in Rede stehen, die der Schaffung möglichst homogener Nationalstaaten verpflichtet sind (vgl. Aly, Europa, 2017, S. 375-376). Während das 2011 erschienene Buch sich auf den deutschen Sprachraum konzentriert, erweitert die 2017 publizierte Studie den Blick auf verschiedene Staaten Mittel- und Ostmitteleuropas.

Die drei genannten Buchveröffentlichungen bilden ein Forschungsprogramm im Sinne Imre Lakatos’, dessen „harter Kern“ (Lakatos, Methodologie, 1982, S. 47-49) sich wie folgt formulieren ließe: Aly fragt nach den greif- oder zählbaren Vorteilen, in deren Genuß eine Mehrheitsbevölkerung kommt, wenn der Staat eine Minderheit (oder mehrere Minderheiten) drangsaliert.

Aly folgend, erklären diese Vorteile die erstaunliche Loyalität, welche die meisten Deutschen der nationalsozialistischen Führung entgegenbrachten, sie die massenhaften Verbrechen, von denen sie wußten oder ahnten, tolerieren ließen, sofern sie nicht selbst an den Greueltaten teilhatten. Alys Ansatz erlaubt ihm zudem, gewisse Sachzwänge der Hitlerschen „Gefälligkeitsdiktatur“, „jederzeit mehrheitsfähigen Zustimmungsdiktatur“ (Aly, Volksstaat, 2006, S. 36, 333) mit ihren vielfältigen Steuervergünstigungen, finanziellen und Sachleistungen für Geringverdiener, die keiner der als ‚minderwertig‘ klassifizierten Bevölkerungsgruppen angehören, auszumachen und als historischen Erklärungsansatz zu formulieren (ebd., S. 37, 51, 68, 70-71, 141-158, 325, 392). Dazu zählt die Unausweichlichkeit immer weiterer Eroberungen (ebd., S. 355), um auch die dortige Bevölkerung ihrer Lebensmittel und -grundlagen berauben zu können, der Raubmord an den europäischen Juden und das geplante Verhungern-Lassen von Millionen Menschen im Osten des Kontinents.

Alys Bücher pflegen teils heftige Reaktionen hervorzurufen. Unter diesen Reaktionen sollen im Folgenden besonders diejenigen interessieren, welche sich außerhalb der eigentlichen Fachdiskussion bewegen: jene also, die in den Feuilletons der großen Zeitungen und Zeitschriften und in sonstigen Stellungnahmen im weiteren Sinne politischer Natur zu finden sind. Denn Alys Forschungsprogramm hat einen Nebeneffekt. Es läßt nicht nur auf die verbrecherische „Gefälligkeitsdiktatur“ der NSDAP, sondern auf sämtliche Gemeinwesen anwenden, über die konstatiert werden darf, daß der fürsorgliche Staat seine Sozial- und sonstigen Programme auf Kosten einer Minderheit oder Fremder finanziere, während die Mehrheit seiner Bürger nicht danach frage – oder lieber nicht danach fragen wolle –, wo der Segen herkommt. Der „harte Kern“ von Alys Forschungsprogramm, der eine gewinnbringende Analyse und Kritik des nationalen Sozialismus im Deutschen Reich zwischen 1933 und 1945 ermöglicht, ermöglicht ebenfalls die Analyse und Kritik anderer Ausprägungen des Sozialismus oder Nationalismus. Dieser Umstand erklärt die Heftigkeit einiger der unten diskutierten Reaktionen auf Alys Werk, wie der Historiker im Nachwort zur Taschenbuchausgabe von Hitlers Volksstaat hinsichtlich des Sozialismus selbst vermutet (Aly, Volksstaat, 2006, 371-372; zum Verhältnis beider Ideologien Aly, Europa, 2017, S. 350).

Mehr in: Studia Niemcoznawcze / Studien zur Deutschkunde (Universität Warschau), Bd. LXII (2018), S. 89-101. Volltext als PDF verfügbar („SN62“).

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Zur Kontroverse um Götz Alys „Warum die Deutschen? Warum die Juden?“

Wortfolge/Szyk Słów 1 (2017), S. 39-62 (zitierfähiges PDF)

Die folgenden Seiten betrachten einige Aspekte des im Jahr 2011 erschienenen Buches Warum die Deutschen? Warum die Juden? von Götz Aly, das den Untertitel Gleichheit, Neid und Rassenhass trägt,[1] sowie ausgewählte Reaktionen auf dieses Werk in der deutschsprachigen Presse. Dabei werden besonders die logische Struktur und die – natürlicherweise teils impliziten – Voraussetzungen der Argumentation des in Rede stehenden Buches, als auch der Rezensionen und Kommentare in den Blick gefaßt. Eine solche Unternehmung verspricht Gewinn, weil dort, wo auf den Neid und dessen Folgen abgehoben wird, lehrreiche Verzerrungen und Mißverständnisse selten auf sich warten lassen.

Alys Argumentation

Der Titel des Aly’schen Buches stellt zwei Fragen, die im Wesentlichen durch den mittleren Eintrag im Untertitel beantwortet werden. Es sei vor allem der Neid gewesen, der die Deutschen zur Judenfeindschaft getrieben habe – eine Einschätzung, die viele Zeitzeugen jüdischer und nicht-jüdischer Herkunft teilten (Aly 2011:92-93, 110-113, 186-187). Zum Anlaß habe gereicht, daß die Juden in Deutschland all jene Möglichkeiten, die die sich öffnende und industrialisierende Gesellschaft des neunzehnten Jahrhunderts bot, besser – das ist: öfter und früher, gründlicher und umfassender – genutzt hätten als ihre nicht-jüdischen Nachbarn. Zu den wichtigsten Ursachen für diesen Unterschied zählt der Verfasser bestimmte Züge der jüdischen Kultur, die man als „Bildungswille“ (Aly 2011:38) zusammenfassen kann. Jüdische Eltern zeigten sich äußerer Armut ungeachtet sehr oft bereit, bis zu einem Sechstel ihrer Einkünfte für den Hebräisch- und Elementarunterricht ihrer Söhne auszugeben. Die Stunden vermittelten eine Sprache, die den Zugang zu den Quellen der eigenen Religion ermöglichte, doch im Umgang mit nicht-Juden durch (wenigstens) eine weitere Sprache ergänzt werden mußte. Das Ergebnis beschreibt Aly wie folgt:

Jüdische Jünglinge lernten zu abstrahieren, zu fragen, nachzudenken. Sie schulten den Verstand am Umgang mit Büchern, im gemeinsamen Lesen und Auslegen und im kontroversen Debattieren der heiligen Schriften. So trieben sie geistige Gymnastik, so praktizierten sie ihre Religion und wurden im wörtlichen Sinne mündig. Zudem beherrschten Juden meistens zwei oder drei Sprachen mit ihren unterschiedlichen Grammatiken und Ausdrucksfinessen. Vielfach benutzten sie neben der hebräischen auch die lateinische Schrift. Derart geschulte junge Männer verfügten über eine gediegene, leicht ausbaufähige intellektuelle Basis für den Aufstieg kraft Bildung. (Aly 2011:38)

Über die religiösen und weltlichen Bildungsbemühungen der christlichen Gegenseite vermerkt der Autor, sie „legten Wert auf das Auswendiglernen von Glaubenssätzen, hielten Diskussionen für Teufelszeug, vor dem sie die ‚Laien‘ bewahren müssten […]. […] Bis ins 20. Jahrhundert hinein warnten christliche Eltern ihre Kinder: ‚Lesen verdirbt die Augen!‘“ (Aly 2011:39) In der Folge habe die christliche Mehrheit eine weit geringere Mobilität hin zu Bildung und Wohlstand an den Tag gelegt, als sie bei den Juden zu beobachten war.

Nun reicht der Hinweis auf den Neid angesichts kultureller und also auch materieller Unterschiede natürlich nicht hin, die Ausgrenzung und Ermordung der deutschen und europäischen Juden zu erklären. Neid ist etwas Allgemein-Menschliches; Antisemitismus als Ausfluß des Neides etwas recht Verbreitetes[2]; die massenhafte Tötung der Beneideten eine Ausnahme. Darum führt Aly drei weitere historische Umstände an, die seiner Meinung nach dazu beigetragen haben, aus der schwelenden Disposition einen lodernden Brand zu fachen: (1) den wachsenden Erfolg nicht-jüdischer Deutscher, was Bildung und soziale Mobilität in die höheren Ränge der Gesellschaft angeht; (2) die zunehmende Desavouierung des überkommenen – gern als „bürgerlich“ bezeichneten, aber natürlich weit älteren – Begriffs von Eigentum durch die sozialistische Bewegung; (3) die Vermählung von sozialistischem und nationalistischem, auch rassistischem Denken. Die einzelnen Punkte sollen nun je für sich dargestellt werden.

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Laß Dir nicht einreden, Du könnest nichts tun

Laß Dir nicht einreden, Du könnest nichts tun

Jeder kann sich dort, wo er ist, bewähren. Vor allem sollte er sich nichts anderes einreden lassen.

Wie Götz Aly berichtet, weigerten sich Bank- und Verwaltungsleute im unterworfenen Belgien, mit den Deutschen bei der Ausplünderung der Juden zu kooperieren:

Die belgischen Generalsekretäre der einzelnen Ministerien, die an Stelle der geflohenen Regierung ein Verwaltungskabinett bildeten, verweigerten „die Mitarbeit mit Rücksicht auf Verfassungsschwierigkeiten“. Ihre Haltung hob sich von der sonst in fast allen Ländern Europas üblichen Kollaboration deutlich ab. […] Auch zeigt sich, wie der Erfolg der deutschen Enteignungspolitik dort abnahm, wo das antisemitische Wohlwollen landeseigener Beamten und Bankangestellter ausblieb. […] So hatte der Procureur du Roi den Notaren des Landes schlicht untersagt, Verträge zu beurkunden, mit denen Liegenschaften von Juden veräußert werden sollten. Die Besatzungsgewaltigen […] zwangen den Mann zum Rücktritt. „Seine Anordnung blieb jedoch wirksam“, weil sich niemand in der belgischen Justiz bereit fand, sie zu annullieren.

Damit nicht genug. Auch die Registergerichte des Landes spielten nicht mit:

Sie weigerten sich beharrlich und bis zum Schluss, jene 6057 jüdischen Unternehmen, die von den Deutschen liquidiert worden waren, aus dem Handelsregister zu tilgen. Daraufhin sollte das belgische Justizministerium die Streichung von Amts wegen vornehmen. Auch das misslang.

Wie in anderen besetzten Ländern auch, verlangten die deutschen Machthaber, daß die belgischen Juden ihre Vermögen deklarieren. Insgesamt wurden 28.100 Vermögenserklärungen eingereicht.

Doch konnten sich viele belgische Juden der Preisgabe ihrer liquiden Mittel, Schließfächer, Konten und Aktiendepots entziehen, weil sich die Direktoren wie die Angestellten belgischer Banken nicht um die Identifizierung ihrer jüdischen Einleger kümmerten. Selbst auf den ersten Blick erkennbare Konten von Juden blieben unberührt.

So eben ist es: Jeder kann sich dort, wo er ist, bewähren. Und er sollte sich nichts anderes einreden lassen.

(Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus. Durchgesehene und erweiterte Ausgabe, Frankfurt a.M. 2006, S. 230-232. Bild: John Singer Sargent, Study of a Figure for Hell, Wikimedia Commons.)

Gewissen sein vs. Gewissen haben
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Gewissen sein vs. Gewissen haben

Zu Beginn seines Dutzende wertvoller Einsichten schenkenden Buches Unser Kampf. 1968 beruft sich Götz Aly auf Odo Marquard, der meinte, weite Teile der bundesdeutschen Jugend seien 1968 aus dem Gewissen-Haben in ein Gewissen-Sein geflohen, und erläutert:

Das Gewissen-Sein bietet einen kommoden Ausweg.

Wer Gewissen ist, braucht sich nicht in dem Maße mit den Verbrechen seiner Väter und Großväter auseinandersetzen wie seine Altersgenossen, die auf dergleichen Selbstveredelung verzichten. Denn er ist ja, wenigstens für und vor sich selbst, etwas ganz anderes, geläutert und gerettet durch eigene Anstrengung oder den Segen einer revolutionären Lehre, die ihn herausreißt aus dem Elend der Väter und Großväter und durchtrennt, was ihn an die Vorfahren und deren Verfehlungen gebunden hat. So kann er belehren und bekehren – im Besitze der Wahrheit, im Vollgefühl der eigenen Güte. (Letzteres in beiderlei Sinne des Wortes.)

Es dürfte nicht fehlgehen, wer hier etwas erblickt, das in der gegenwärtigen Diskussion um die illegale Einwanderung („Flüchtlingskrise“) eine Rolle spielt. Die das Gewissen sind (oder es zu sein glauben), geben den Ton an; sie machen das leuchtende, hellere Deutschland aus. Die ein Gewissen haben, weil sie z.B. an ihre Kinder denken, die in der „neuen“ Bundesrepublik leben werden müssen, sind diejenigen, welche die Erklärung 2018 unterzeichnen.

Der Lärm und die kaum glaublichen Anwürfe gegen diese ihrem Inhalt nach schlichte und selbstverständliche Erklärung entlarven sich selbst. Freilich zeigt sich (auch) hier nichts Neues. Aly erinnert sich an 1968:

Als „Faschisten“ galten damals alle, die sich dem revolutionären Gedankengut versperrten oder gar dagegen angingen. (S. 92)

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Brexitus

Brexitus

Einige der Reaktionen auf den Entschluß des Vereinigten Königreichs, seine Geschicke außerhalb der Brüsseler Herrschaft zu suchen, wirken rundweg hysterisch. Darunter findet sich der Hinweis auf altersbedingte Vorlieben – wie z.B. auf dieser Graphik im Stern, die „Alte“ und „Junge“ gegenüberstellt: Die jüngere Generation habe pro Europa abgestimmt, die Älteren für den Brexit. In zeitgeistig korrekter Lesart bedeutet das: Die Ollen haben den Jungen die Zukunft verhunzt.

In der FAZ verkündet Mathias Müller von Blumencron, die ältere Generation verbaue

ihren Nachfahren die Zukunft. […] Es wird Zeit für eine neue Rebellion. Es wird Zeit, dass die Jüngeren wieder härter mit den Älteren abrechnen. Es wird Zeit für einen Aufstand der Zukunfts-Ideen gegen das Rückwärts-Ideal.

Die Jüngeren mögen, resümiert von Blumencron, „ihre Zukunft in ihre eigene Hand nehmen und den Populisten Einhalt gebieten.“

Nun sind Populisten – natürlich – immer die Anderen. In diesem Falle wohl alle, die den EU-Träumen eines von Blumencron nicht zustimmen. Mit dergleichen Ad-hominem-Etüden ist schon lange kein Blumenpott mehr zu gewinnen. Gleichwohl bestürzt der Aufruf an die Jüngeren, „wieder härter mit den Älteren ab[zu]rechnen“, in seiner Heftigkeit. So fragt denn auch Nicolaus Fest „Ist dieser SA-Slang der FAZ angemessen, und angemessen einer demokratischen Entscheidung?“

Haben die Jungen stets recht?

Oder gereicht eine Präponderanz der Halb- und Unerfahrenen zum zivilisatorischen Manko? Hören wir dazu Götz Aly:

Wie alle Revolutionäre erzeugten die überaus jungen Gefolgsleute der NS-Bewegung die Aura des Jetzt-oder-nie. Zum Zeitpunkt der Machtübernahme 1933 war Joseph Goebbels 35 Jahre alt, Reinhard Heydrich 28, Albert Speer 27, Adolf Eichmann 26, Josef Mengele 21, Heinrich Himmler und Hans Frank waren 32. Hermann Göring – einer der Älteren – hatte gerade den 40. Geburtstag gefeiert. Noch mitten im Krieg konnte Goebbels aus Anlass einer statistischen Erhebung feststellen: „Danach beträgt das Durchschnittsalter der führenden Persönlichkeiten auch in der mittleren Schicht der Partei 34 und innerhalb des Staates 44 Jahre. Man kann also in der Tat davon sprechen, dass Deutschland heute von seiner Jugend geführt wird.“ Zugleich verlangte er nach „personeller Auffrischung“.

Für die Mehrzahl der jungen Deutschen bedeutete der Nationalsozialismus nicht Diktatur, Redeverbot und Unterdrückung, sondern Freiheit und Abenteuer. Sie sahen darin eine Verlängerung der Jugendbewegung, ein körperliches und geistiges Anti-aging-Programm. Die tonangebenden 20- bis 30-Jährigen erhoben sich 1935 verächtlich über die Kleingeister. Sie sahen sich als moderne, antiindividualistische Tatmenschen. Sie belächelten des „Spießers Sorgen – denn uns gehört das große Morgen“. […]

Im Jahr 1933 ergriffen Studenten und frisch gebackene Hochschulabsolventen die Macht. Zu ihnen gehörten die rebellischen Kinder der alten Eliten und die selbstbewusst gewordenen jungen Männer, die vom sozialdemokratisch geförderten Aufstieg der Republik profitiert hatten. Die Heterogenität ihrer Herkunft überwanden sie in der sozialromantischen, zugleich technizistisch-modern ausgelegten Utopie vom nationalen Sozialismus. Sie begriffen sich und ihresgleichen als Avantgarde eines „jungen Volkes“. Aus Erfahrung skeptische Alte verspotteten sie als „Friedhofsgemüse“, lang gediente, prinzipienfeste Beamte als „Herrschaften, denen der Kalk aus den Hosen rieselt“. […] Der Nationalsozialismus kann aus guten Gründen als Jugenddiktatur begriffen werden. Sie entwickelte sich binnen weniger Jahre zu dem im zerstörerischen Sinn erfolgreichsten Generationsprojekt des 20. Jahrhunderts. (Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt a.M. 2006, S. 12-15.)

Natürlich geht es hier nicht darum, den „Remain!“-Stimmenden zu unterstellen, sie seien Nazis; dergleichen „Argumente“ führen Andere.  Alys Ausführungen verdeutlichen so drastisch, wie es in unserer lauten Zeit notwendig sein mag, daß das „Friedhofsgemüse“ womöglich ernster zu nehmen sei, als es in unseren Tagen geschieht, und dasjenige, worauf „lang gediente, prinzipienfeste Beamte“ klopfen, nicht schlankerhand abgetan werden sollte. (Alys Hinweis auf Sozialromantik und Technokratie sei gegenwärtig übergangen, obschon daraus einiges zu machen wäre.)

Besonders drollig wirkt, daß von Blumencron den Brexit-Befürwortern Verzagtheit unterstellt, als könne er ihnen von Ferne in die Seelen blicken. Die Brexit-Befürworter seien

die neue Generation „Nein Danke“, eine Generation, in der sich die Furcht um die Zukunft mit einer eigenartigen Sorge um die Reinheit der Heimat zu einem Cocktail aus Verzagen und Abgrenzen mischt.

Das ist viel zu einfach. Wagemut und Abenteuersinn könnten auch entgegengesetzt verteilt sein, wie David P. Goldman (Spengler) in seiner Kolumne „Britain embraces risk once again“ ausführt:

Along with all the pundits, I underestimated the British–a common enough error, which puts me in the distinguished company of the whole of the mainstream media, the vast majority of hedge funds, not to mention Philip II of Spain, Napoleon, and Hitler. In a May 2 dispatch from England I wrote that the British had lost their appetite for risk, as a modest post-Imperial power with a lot to be modest about. On the contrary, the British took the plunge, and that by itself is a good thing. The outcome of Brexit is uncertain, yet the British chose to bet on it. Betting on uncertain outcomes is the key to success in economics–as well as love, war, art, and life.

Europe is dying of risk-aversion. Its unabated economic misery stems from its refusal to embrace uncertainty. The propensity to bear the burden of uncertainty does not stem from economic policy alone. First and foremost it is a cultural trait. […]

I agree […] that “Brexit’s consequences will be neutral to moderately negative for the UK.”  In the short run, and in a static framework, leaving the EC will cost Britain some investment and trade. But there is something much more important at work. For both good and evil, the British once were the world’s preeminent risk-takers: inventors, tinkerers, entrepreneurs, builders, as well as adventurers, traders and Imperial conquerors. Their enterprising spirit put nearly half the world under their rule before their empire crumbled. One can find odious apologies for the British Empire (for example by Niall Ferguson) and nonetheless acknowledge that the British had real grit. Perhaps they will get it back after their long post-Imperial slumber.

Schon wägt Gunnar Heinsohn die wirtschafts- und sicherheitspolitischen Aussichten für das Vereinigten Königreich mit einer Hingabe, als gelte es, einen Adelstitel zu erlangen…  Godspeed, thou sceptered isle.