Prolet, aber schnieke
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Prolet, aber schnieke

Wolf Jobst Siedler berichtet in seiner lesenswerten Aufsatz- und Briefsammlung Wider den Strich gedacht über den am Boulevard Unter den Linden angesiedelten Berliner

Herrenschneider Ludwig, der in seinem ausgebombten Haus noch nach dem Kriege sein Geschäft betrieb. Ein Kunde prägte sich ihm besonders ein, weil der stets Arbeiteranzüge und Schiebermützen bestellte, aber aus feinstem englischen Stoff. Sein Name war Bertolt Brecht.

Das war in jeder Hinsicht zu erwarten…

(Quelle: Wolf Jobst Siedler, „Bürgerliche Straßen in unbürgerlicher Welt“, in: ders., Wider den Strich gedacht, München 2006, S. 49-68, hier S. 61. Beitragsbild: Berlin, Unter den Linden (1890-1900), also einige Jahrzehnte zu früh, an Brecht gemessen; Library of Congress: No known restrictions on publication.)

Causerie
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Causerie

Max Ring (1817-1901) schreibt über Karl August Varnhagen von Ense (1785-1858):

Varnhagen war in der That ein Meister der gesellschaftlichen Rede, unerschöpflich in geistreichen Bemerkungen, Bonmots und pikanten Anekdoten, die er mit bewunderungswürdigem Geschick und ungesucht in das Gespräch zu verflechten wußte; im höchsten Grade anregend und geistvoll; dabei natürlich, ohne jede Prätension und Koketterie. Wie nur wenige Deutsche besaß er die Kunst der französischen „Causerie“, verstand er, anmutig, geistreich zu plaudern, vorausgesetzt, daß er in guter Laune war.

Können Sie das?

(Max Ring, Berliner Leben. Kulturstudien und Sittenbilder, Leipzig u. Berlin 1882, S. 79. Bild: Karl August Varnhagen von Ense, Lithographie von Paul Gottheiner nach einem Pastell von Ludmilla Assing, gespiegelt. Wikimedia Commons, gemeinfrei.)

777 Millionen

Der Ausbau des Bundeskanzleramts in Berlin soll mehr als eine dreiviertel Milliarde Euro kosten. Es wäre anständig gewesen, vom Ausbau des ohnehin gewaltigen – und bestürzend häßlichen – Bundeskanzleramts abzusehen und den Betrag den von galoppierender Inflation geplagten Bürgern in geeigneter Form zu erstatten. Natürlich wäre der Betrag per Bürger eher symbolischer Natur, aber für eins-zwei Burger dürfte er reichen. Aus Rindfleisch, versteht sich. Die Insektenburger können warten.

Nicht bloß anständig, sondern auch umsichtig wäre es gewesen, schon vor geraumer Zeit damit begonnen zu haben, wenigstens eine Ursache der Inflation zu bekämpfen, die zu bedeutendem Anteil als Grünflation bezeichnet zu werden verdient, weil sie aus ideologisch motivierter Brennstoff-Verknappung erwächst. Man hätte seine teutonisch verbiesterte, neuheidnisch unterfütterte Feindschaft gegen Kohle, Erdöl und Erdgas überwinden können. Ein wenig Fracking könnte ebenfalls nicht schaden, oder? Die große Gaia wird Euch nicht gleich zürnen, dessen bin ich sicher.

Nicht bloß anständig und umsichtig, sondern zudem ein achtenswerter Ausdruck von Lernfähigkeit wäre es gewesen, Kernkraftwerke nicht mehr unbesehen für Teufelszeug zu halten. Wir brauchen unsere noch betriebsfähigen Kernkraftwerke. Und wir brauchen mehr Kernkraftwerke. Laßt uns, Landsleute, den Windmühlen-Wahn beenden. Sich in unverspargelter Landschaft zu ergehen, welch ein Segen…

Aber zurück zum Bundeskanzleramt. Denn nicht bloß anständig, umsichtig und ein Ausdruck von Lernfähigkeit, sondern auch ein Zeichen von Weisheit in Staatsdingen – von Staatskunst im tieferen Sinne des Wortes – wäre es gewesen, die Idee eines noch riesenhafteren Kanzleramtsgebäudes von vornherein als das zu verwerfen, was sie ist: Symptom eines gewucherten, wuchernden Staates, der alles und jedes regeln will, den Bürger „betreut“ (Helmut Schelsky) und verzwergt.

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Deutschland ohne Google-Campus

Wie Michael Kreutz auf transatlantic annotations bemerkt, haben London, Warschau, Madrid, Sao Paulo, Seoul und Tel Aviv einen Google-Campus, nicht aber Berlin. Unsere glücklose Hauptstadt habe es vor drei Jahren fertig gebracht, einen solchen Campus in ihren Mauern zu verhindern – in recht unflätiger Weise übrigens. Der Software-Gigant möchte bis auf Weiteres kein derartiges „Inspirationszentrum für Startup-Gründer, die Google früh an sich binden will“ (Kreutz), in Deutschland betreiben.

Nun mag man von Google halten, was man will. Daß Google sich woke geriert, seine Suchmaschine entsprechend kalibriert, darf als allgemein bekannt gelten; es schlug im Falle James Damores einige Flocken. Der woke-pädagogische Einschlag Googles wurde von Douglas Murray in seinem Buch The Madness of Crowds (2019) ausführlich besprochen. Das aber ist etwas anderes als die naßforsche Kapitalismus-Feindschaft in vielen Kiezen der Bundeshauptstadt. Kreutz kommentiert:

Berlin ist zu einem wahren Soziallabor geworden, in dem wir das Deutschland der Zukunft aufleuchten (und vielleicht schon bald verlöschen) sehen.

Zweifellos. Aber immerhin sind wir Marktführer in Lastenfahrrädern – oder werden es bald sein.

Soviel zu Mitte, jetzt in den Westen und Südwesten

Weitere Sittenbilder aus unserer exzentrischen Front- und Hauptstadt. Diesmal von Maximilian Tarrach auf seinem Blog Philosophische Auszeit. Zunächst eine kurze Skizze über das Berliner Bürgertum, die wiederum Antiamerikanismus verzeichnet:

In Berlin ist man als Bürgerlicher offen und liberal. Man schätzt die „Diversität“ dieser „großen Stadt“, hier sei einfach „immer etwas los“, die Stadt „werde nie langweilig“, außerdem erfreue man sich an den vielen Kulturen Kreuzbergs. Man ist ja pro Flüchtlinge, schließlich hat man Vorfahren aus Pommern, man geht ins kritische linke Theater und klatscht beim politischen Kabarett zu den antiamerikanischen Witzen. Nach so viel Klassenkampf und antikapitalistischer Revolte fährt man zurück in sein Villenviertel in Dahlem oder in den Grunewald und gießt seinen Vorgarten, sorgt sich um den Glanz der Mercedes S-Klasse oder eines SUV des persönlichen Geschmacks. Man setzt sich selbstredend für Chancengleichheit in der Gesellschaft ein, die eigenen Kinder jedoch schützt man vor zu viel schlechtem Umgang und hält die Gymnasien, auf denen bereits die eigene Familiendynastie das Abitur ablegte, auffällig ausländer- und niedriglohnsektorfrei.

Der launig geschriebene Text handelt eigentlich vom örtlichen Wohnungsmarkt; er lohnt eine Lektüre.

Da von Dahlem die Rede ist: Zwischen den Villen und reizenden kleinen Parks brummt eine Hochschule, und was sie ausbrütet, ähnelt dem, was sie schon vor Jahren hervorbrachte.

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Von abgestanden Feindbildern
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Von abgestanden Feindbildern

Über eine erwartbar „fortschrittliche“ Theater-Inszenierung in unserer glücklosen Hauptstadt (vor dem großen Lockdown) berichtet Juri Tonal auf dem Blog en arrêt!:

Die Eintönigkeit und Ideenlosigkeit der antiamerikanischen Kulturszene in Deutschland deutet auf ein tiefsitzendes Ressentiment. […] Willkommen im Berliner Kunstbetrieb. Wenn die neueste Aufführung im Berliner Ensemble also als ein “Debüt nach Maß” [(RBB)] beschrieben wird, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es sich um Schrott handelt. […]

In Ubu Rex, das seit dem 13. Februar 2020 im Berliner Ensemble zu sehen ist, versucht sich Stef Lernous an einer Neufassung des Klassikers von Alfred Jarry, der 1896 einen gefräßigen, ordinären König inszenierte. Dieser geht auch über Leichen, um Macht und Einfluss zu gewinnen. Jarrys Original ist eine Herrschaftskritik, wenn man so will, die 1896 für einen echten Skandal sorgte, als die Uraufführung wegen Tumulten unterbrochen wurde. Der Autor der 2020er-Neufassung will dieses Stück ins Heute übersetzen. 

Es sei “[e]in ehrgeiziger Abend”, schreibt eine Autorin der Berliner Zeitung. Vorgenommen hat sich der Regisseur ein Stück über Donald Trump und den Verfall der Werte in Zeiten des Fernsehens. Zumindest mutet es so an: “Auf der Bühne sieht es aus wie bei Trumps unterm Sofa”, schreibt die Berliner Zeitung. Zwischen Chipstüten, heruntergekommenen Möbeln und Reality-TV thront Pa Ubu, der im Original von Alfred Jarry König Ubu ist. Es folgt diese Szene: “‘Gott hat die Welt nach seinem Ebenbild geschaffen. Gott ist rund. Ich bin rund’, und Pa schaut stolz an seinem Fettwanst hinunter über das gelb versiffte Hemd und die Schlabberkurzhose hinweg. ‘Also bin ich Gott!’” Da bleibt kein Auge trocken. Es ist das Bild der ungebildeten Unterschicht mit ihren fettleibigen Körpern und verschmutzter Kleidung, eine Symbolik der – natürlich selbstverschuldeten – Verkommenheit. Man könnte in ihr die Kehrseite der Kapitalgesellschaft erkennen, aber um die geht es nicht. Die Unterschicht mag man hier ohnehin nicht und zum Glück wohnt die jetzt in Amerika.

Der ganze Text, der im weiteren Verlauf u.a. Dan Diner aufbietet, ist hier zu finden.

(Bild: Pixabay.)

Berlin als Unwille und Verstellung

Berlin als Unwille und Verstellung

Kürzlich mit einem Bekannten über Berlin als Stadt geplaudert, der wir vor Jahren entflohen sind. Sofort reproduzierten unsere Hirnschaltungen den unverwechselbaren Geruch der Berliner U-Bahn-Schächte und -Wagen, ein olfaktorisches Souvenir, auf das zivilisierte Menschen durchaus verzichten können. Die S-Bahn roch (damals) nicht viel besser, aber anders, zuweilen kurios ins Ranzige spielend.

Wie dem auch sei; Berlin war etwas, durch das man durch mußte – ganz so, wie es der Schweizer Benedict Neff in der NZZ beschreibt:

Generell bin ich in Berlin robuster geworden. Ich vermute, dass ich in den vergangenen drei Jahren in öffentlichen Verkehrsmitteln mehr Rippenstösse und Tritte auf die Füsse bekommen habe als in meinem gesamten Leben zuvor. An ungehobeltes Verhalten und eine gewisse Rauheit im öffentlichen Umgang muss man sich gewöhnen. Wenn ich in meinen Anfängen hier Reklamationen geäussert habe, wurden diese oft nicht verstanden oder sogar als etwas umständlich vorgetragene Komplimente interpretiert. In Berlin muss man sagen, was man will; das funktioniert mit «hätte gern», «ein bisschen» und «vielleicht» eher schlecht. Diese Phänomene haben vor allem mit Berlin zu tun, während sich die Sitten in anderen Landesteilen verfeinert haben und auch eine andere Geschäftigkeit herrscht. 

Dieses Ruppige, das natürlich auch mein Bekannter und ich beobachtet (oder besser: durchwatet) haben, entspringt, fürchte ich im Rückblick, weniger einer herzhaft-tappigen Menschenliebe, die sich um Konventionen wenig schert, als einer Disposition, die sich als geistige Ungewaschenheit bezeichnen ließe: Es war zu vielen Leuten zu viel egal, die gerade deshalb zu sehr von sich eingenommen waren.

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