Berlin als Unwille und Verstellung

Kürzlich mit einem Bekannten über Berlin als Stadt geplaudert, der wir vor Jahren entflohen sind. Sofort reproduzierten unsere Hirnschaltungen den unverwechselbaren Geruch der Berliner U-Bahn-Schächte und -Wagen, ein olfaktorisches Souvenir, auf das zivilisierte Menschen durchaus verzichten können. Die S-Bahn roch (damals) nicht viel besser, aber anders, zuweilen kurios ins Ranzige spielend.

Wie dem auch sei; Berlin war etwas, durch das man durch mußte – ganz so, wie es der Schweizer Benedict Neff in der NZZ beschreibt:

Generell bin ich in Berlin robuster geworden. Ich vermute, dass ich in den vergangenen drei Jahren in öffentlichen Verkehrsmitteln mehr Rippenstösse und Tritte auf die Füsse bekommen habe als in meinem gesamten Leben zuvor. An ungehobeltes Verhalten und eine gewisse Rauheit im öffentlichen Umgang muss man sich gewöhnen. Wenn ich in meinen Anfängen hier Reklamationen geäussert habe, wurden diese oft nicht verstanden oder sogar als etwas umständlich vorgetragene Komplimente interpretiert. In Berlin muss man sagen, was man will; das funktioniert mit «hätte gern», «ein bisschen» und «vielleicht» eher schlecht. Diese Phänomene haben vor allem mit Berlin zu tun, während sich die Sitten in anderen Landesteilen verfeinert haben und auch eine andere Geschäftigkeit herrscht. 

Dieses Ruppige, das natürlich auch mein Bekannter und ich beobachtet (oder besser: durchwatet) haben, entspringt, fürchte ich im Rückblick, weniger einer herzhaft-tappigen Menschenliebe, die sich um Konventionen wenig schert, als einer Disposition, die sich als geistige Ungewaschenheit bezeichnen ließe: Es war zu vielen Leuten zu viel egal, die gerade deshalb zu sehr von sich eingenommen waren.

Was sonst hätte einen Bediensteten der BVG-Hotline veranlassen können, den einleitenden Satz eines Anrufers, er wolle um Auskunft bezüglich einer Buslinie bitten – das Internet lag noch in den Windeln -, mit den hämisch-spöttisch intonierten Worten zu quittieren: „Ja, welche denn? Hähä.“, was den Busfahrer, seine Fahrgäste in bellendem Kasernenhof-Ton zurechtzuweisen, weil im übervollen Bus die hintere Tür sich erst mit dem zweiten Versuch schließen ließ? Von den Fahrkartenkontrolleuren mit ihrem ewigen „…mal bitte“ sei gar nicht erst begonnen; wohl aber davon, daß irgendwelche Verwaltungsunmenschen in jenen Jahren auf den bitterbösen Einfall gekommen waren, verschreckt dreinblickende Frührentner (oder reifere Langzeitarbeitslose) zu uniformieren und als ziellos herumfahrende Kundenbetreuer in das ÖPNV-Purgatorium zu stoßen.

Mit einem Wort: die von Neff erwähnte Härtung war dringend notwendig. Wer sie nicht erwarb, war verloren. Wie der sensible Lebensgefährte meiner Treppenabsatz-Nachbarin, der eines autokratischen Berliner Hausmeisters mit dem ihm sehr wahrscheinlich von seinem Therapeuten empfohlenen Sätzlein „Ich möchte jetzt nicht mit Ihnen sprechen.“ Herr zu werden versuchte. „Aber ich mit Ihnen, junger Mann!“ Und es begann eine Tirade, die mit einer Betrachtung über Fahrräder begann, die neben den für sie vorgesehenen Ständern abgestellt wurden, und alsbald ins Grundsätzliche tendierte. (Ich verdanke die Schilderung dieser Episode den akustischen Vorzügen eines vollständig umschlossenen Berliner Hinterhofs.)

Freilich: es gab auch sie, die freundlichen Berliner. Eine weitere Nachbarin etwa, eine ältere Dame (von über achtzig Jahren) im Stockwerk unter mir, mit einer Wohnung voller Bücher. Es ließ sich wunderbar mit ihr plaudern, und schnell wurde ich zu einem regelmäßigen Kaffee-Gast. Sie hatte ab und an mit (in jeder Hinsicht des Wortes) gewöhnlichen Berlinern zu tun, und zog bei solchen Gelegenheiten vor, die Tüddelige zu spielen. Ein stoppeliger Autochthoner, mit dem ich (leider) geschäftlich zu tun hatte, nannte meine Nachbarin schlicht „die verrückte Alte“. So macht Neff denn auch darauf aufmerksam, daß die Toleranz, derer sich Berlin rühmt, nur eine Richtung kennt: nach unten, dem Grobschlächtigen gegenüber.

Je nach Bezirk kann […] eine Krawatte oder schon ein Hemd eine Provokation sein. Fragen wie «Arbeitest du in einer Bank?» sind in einer solchen Bekleidung durchaus erwartbar. 

Den meisten Ex-Berlinern kommt Verwahrlosung in den Sinn, wenn sie an den märkischen Moloch denken. Dies wirkt desto bedenklicher, sobald in Betracht gezogen wird, wie viele Menschen dort studiert haben oder promoviert worden sind: Was soll man von einer Elite halten, die es hinnimmt, dem Schönen, Guten und Wahren in Gebäuden nachzujagen, die „Rostlaube“, „Silberlaube“, „Osi“ oder „Stabi“ heißen (und ebenfalls olfaktorische Erinnerungen minderer Herrlichkeit auslösen)? Stephan Reimertz schreibt in der FAZ vom 8.12.2005 von seiner Begegnung mit einem Poeten und Doktoranden in jenem Bezirk, der als „Prenzlberg“ verballhornt wurde, als mein Bekannter und ich in der Hauptstadt weilten. Der Dichter-Doktorand arbeite

seit zwölf Jahren an seiner Dissertation. „Schreibe meine Diss“ war seine erste Auskunft. Das kam kurz und knapp wie „4. Regiment, 9. Kompanie“. Er grimassiert stark beim Sprechen und könnte einem Stummfilm von F.W. Murnau entsprungen sein

Das ist köstlich überzeichnet. Ja, es gab diesen Typus, und mein (übrigens ebenfalls freundlicher, sich über mehre geschäftliche Kontakte hin zunächst als unnahbar verlarvender) Optiker in Wilmersdorf lästerte über den typischen „Mann aus Mitte“ und dessen Vorliebe für dicke schwarze Hornbrillen. In den westlicher gelegenen Stadtteilen begegneten mein Bekannter und ich eher bärenhaften Figuren mit phantastisch bewaldeten Häuptern, die irgendwann im siebenundzwanzigsten Semester erkannt hatten, daß auch Rudolf Bahro keine gangbare Alternative zu weisen vermochte, und mit einiger Halsstarrigkeit ein Gelungenes Leben zu verkörpern beanspruchten; sie waren einigermaßen belesen, dumm oder nicht so dumm, einige von ihnen sogar sympathisch, bis sie über den Neoliberalismus im Allgemeinen und US-Imperialismus im Besonderen zu dozieren begannen; neben ihnen saßen, wenn überhaupt, Frauen mit grotesk verschorenem Haar, die bei jeder, aber auch jeder Gelegenheit verbissen wirkten.

Reimertz bringt die Sache auf den Punkt:

In Berlin gibt es viele Hunde, und der am meisten verbreitete Hund ist der Underdog. Die Stadt ist eine riesige Ansammlung leidender Egozentriker; arbeitsloser Akademiker und frustrierter Intellektueller, jener Humus, aus dem früher oder später die apokalyptischen Vorreiter einer allgemeinen politischen Radikalisierung auftauchen. Ihr Traum ist die Diktatur des intellektuellen Proletariats. So ist Berlin nicht zuletzt eine gefährliche Stadt […].

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