Geschichte

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    Deutscher Antiamerikanismus: Das antikapitalistische Motiv

    Siegfried Frederick „Fred“ Singer ist ein distinguierter Wissenschaftler aus den Vereinigten Staaten von Amerika. Er lehnt die Hypothese von der anthropogenen Erderwärmung ab. Damit erregt er den Unwillen der Bundestagsfraktion „Bündnis 90/Die Grünen“. Am 3.11.2010 bringt sie eine Kleine Anfrage ein, deren Gegenstand Singer bildet:

    Ist der Bundesregierung bekannt, von wem Herr Singer in der Vergangenheit für seine Aktivitäten finanziert worden ist? Sind der Bundesregierung in Deutschland Geldgeber bekannt, die – ähnlich wie Exxon und Koch Industries in den USA – die Aktivitäten von Klimawandelleugnern finanzieren?

    […] Teilt die Bundesregierung die Einschätzung, dass man durch Veranstaltungen mit Herrn Singer reinen Interessenvertretern der fossilen Energiewirtschaft ein Forum gibt und damit deren unwissenschaftliche Arbeiten und unseriösen Aktivitäten bewusst aufwertet?[1]

    Wir erblicken ein klassisches adhominem-Argument. Eine inhaltliche Auseinandersetzung findet nicht statt. Dafür werden Verdächtigungen geäußert, welche die Glaubwürdigkeit Singers untergraben sollen. Der Hinweis auf die „Geldgeber“ soll den Wissenschaftler als käuflich desavouieren.

    Nun wirkt diese Angelegenheit in vielfacher Hinsicht bedenklich. Dirk Maxeiner empfiehlt sie Geschichts- und Sozialkundelehrern als Gegenstand einer Unterrichtsstunde zum Thema Totalitarismus[2]. Das mag noch übertrieben sein[3], obgleich das Vorgehen der Bundestagsfraktion „Bündnis 90/Die Grünen“ Anlaß zu mancherlei politischem, moralischem und auch ästhetischem Einwand gibt.

    Uns soll vor allem eines interessieren: Das antikapitalistische Motiv, und wie es auf die Vereinigten Staaten gemünzt wird. Ganz offenbar wird Singers Wirken von den Grünen im Bundestag als eine Bedrohung empfunden, zu der es ohne die Finanzierung durch amerikanische Konzerne nicht gekommen wäre. Die USA treten in diesem Szenario als Nation auf, welche am stärksten durch den Kapitalismus geformt, in welcher der Kapitalismus am schärfsten ausgeprägt ist – und nach Deutschland getragen wird. Als jener „Brand […], der in die umfriedeten Hütten unserer Kultur geschleudert wird“, wie es Werner Sombart im Jahre 1913 ausgedrückt hat[4]. Hier haben wir eines der wesentlichen Motive des deutschen Antiamerikanismus in seiner Kontinuität: Eine westliche Nation bedroht mit ihrem Kapitalismus deutsche Wege und Weisen, und wie sowohl die Feuer-Metapher, als auch die Emphase der Klima-Diskussion andeuten, handelt es sich dabei um einen Konflikt auf Leben und Tod.

    Zum Amerika-Bild deutscher Eliten vor 1914

    Zehn Jahre vor dem Ersten Weltkriege lud St. Louis zur Weltausstellung in die Vereinigten Staaten von Amerika. Unter den Gästen waren auch bedeutende Vertreter des reichsdeutschen Wissenschaftsbetriebs, Max Weber und Werner Sombart, einer der führenden Vertreter der Jüngeren Historischen Schule in der Nationalökonomie, Verfasser vieler damals für bedeutend gehaltener Bücher, die über das Fachpublikum hinaus gelesen wurden.

    Sombart kehrte mit Eindrücken aus Amerika wieder, die sich von denen Webers fundamental unterscheiden; er stieß sich an der (vermeintlichen oder tatsächlichen) Kommerzialisierung des Lebens in der Neuen Welt: „«Greetings from this ghastly cultural Hell» read one of his postcards back to Germany. To another colleague he wrote that America was the land of the «Götterdämmerung of culture»”[5]. Weber hingegen vermochte mehr zu sehen, nämlich zum einen die religiöse Fundierung des Gastlandes:

    Weber uncovered in the sects that he encountered in his America travels a “moral kernel” beneath what appeared to be that land’s shallow materialism. In doing so, he reversed the formula by which most German academics, including Sombart, viewed America. The American “sect,” for him, demonstrated that in the midst of modern capitalism the personal ethic of individual responsibility, about which he was writing in The Protestant Ethic, had survived and was the basis for social action.[6]

    Wer sich der Weber’schen Charakterisierung protestantischer Kirchenzucht (das Luthertum ausnehmend) erinnert[7], dürfte erkennen, daß auf dieser Ebene von Laissez-faire und Anything goes keine Rede sein kann.

    Zum anderen begreift Weber die Wirkung freiwilliger und zugleich anspruchsvoller Vereinigungen innerhalb und außerhalb der religiösen Sphäre. Da jeglicher Interessent sich um Aufnahme bewerben muß und, sofern durch keinen hinreichend anständigen Lebenswandel gewürdigt, abgewiesen werden kann, ist ein positiver Bescheid „gleichbedeutend mit einem Billet zum Aufstieg, vor allem mit der Bescheinigung vor dem Forum seines eigenen Selbstgefühls: sich «bewährt» zu haben.“[8] Weber bezeichnet diese Vereinigungen als „Träger jener ständischen Aristokratisierungstendenzen, welche, neben und – was wohl zu beachten ist – zum Teil im Gegensatz zur nackten Plutokratie“[9] wirken; „in der Vergangenheit und bis in die Gegenwart hinein war es ein Merkmal gerade der spezifisch amerikanischen Demokratie: daß sie nicht ein formloser Sandhaufen von Individuen, sondern ein Gewirr streng exklusiver, aber voluntaristischer, Verbände war.“[10]

    Wie das Wort „mehr“ andeutet, handelt es sich hier nicht bloß um eine Meinungsverschiedenheit zwischen Sombart und Weber, die als subjektiv zu übergehen wäre. Vielmehr erfaßt der Soziologe all dasjenige, was auch der Vertreter der Jüngeren Historischen Schule in der Nationalökonomie zu erblicken vermag, und darüber hinaus die beiden gegenwärtig beschriebenen Sachverhalte. Damit erweist sich Webers Diagnose als umfassender und also – vom Standpunkt des Kritischen Rationalismus – besser im Vergleich zur Sombart’schen. [11].

    Was Sombart auf seinen Postkarten nur anreißt, findet monumentalen Ausdruck in seinem Werk Der Bourgeois. Zur Geistesgeschichte des modernen Wirtschaftsmenschen, das im Jahre 1913 erschienen ist. Dort erscheinen die Vereinigten Staaten von Amerika als das am meisten „kapitalistische“ Land[12]. Dabei dienen die prominentesten Vertreter der „amerikanischen Dollarmenschen“[13] als Belege für die psychologisierende Hauptthese des Buches, daß der „moderne Wirtschaftsmensch“ zutiefst kindisch – und dessen Infantilität ansteckend sei:

    In der Tat scheint mir die Seelenstruktur des modernen Unternehmers, wie des von seinem Geiste immer mehr angesteckten modernen Menschen überhaupt am ehesten uns verständlich zu werden, wenn man sich in die Vorstellungs- und Wertewelt des Kindes versetzt […]. Die letzten Wertungen dieser Menschen bedeuten eine ungeheure Reduktion aller seelischen Prozesse auf ihre allereinfachsten Elemente […], sind also eine Art von Rückfall in die einfachen Zustände der Kinderseele.[14]

    Sombart läßt eine viergliedrige Analogie folgen, die diese These belegen soll. So spiegele zum Beispiel die Freude des Kindes an bloßer Größe, wie sie dessen Bewunderung für den Erwachsenen verrate, die Vorliebe des „modernen Wirtschaftsmenschen“ für das Quantitative:

    In Amerika, wo wir natürlich diesen „modernen“ Geist immer am besten studieren können, weil er hier seine einstweilen höchste Entwicklungsstufe erreicht hat, macht man kurzen Prozeß und setzt einfach den Kostenpreis vor den zu bewertenden Gegenstand […]: „Haben Sie den 50 000-Dollar-Rembrandt im Hause des Herrn X. schon gesehen?“[15]

    Wenn wir die Namen „Weber“ und „Sombart“ als Chiffren für zwei Weisen nehmen, in denen man sich den Vereinigten Staaten von Amerika nähern kann, unterliegt kaum einem Zweifel, daß der Sombart’sche Weg in Deutschland den Sieg davongetragen hat. Dies zu konstatieren, bedeutet natürlich nicht zu behaupten, daß ein jeder, der dem Sombart’schen Weg folgt, dessen Werke gelesen habe. Es geht schlicht darum, daß eine Haltung, die der Sombart’schen entspricht, sich unter deutschen Eliten weit verbreitet findet.

    Der Erste Weltkrieg dürfte dazu beigetragen haben. Beide Seiten befleißigten sich höchst „kreativ“ der Propaganda, und auch die geistigen Schichten wollten nicht zurückstehen[16]. Wie Ludwig von Mises in der Rückschau auf die erste Zeit des Krieges bemerkt, konnte manches Mitglied der Jüngeren Historischen Schule „sich in Anpöbelung der «Unkultur» der Franzosen und Engländer nicht genug tun.“[17] Nach Eintritt der Vereinigten Staaten sollte auch ihnen die nämliche Ehre zugekommen sein.

    Einen der verstörendsten Beiträge in diesem Zusammenhang liefert Max Scheler, der Begründer der Materialen Wertethik, welcher später einen großen Einfluß auf Karol Wojtyła/Johannes Paul II. ausüben sollte[18]. Der deutsche Philosoph zeigte schon vor dem Ersten Weltkrieg eine bis ins Eugenische vorgetriebene Angelsachsen-Verachtung. Seiner Auffassung nach rekrutiere in den Vereinigten Staaten und Großbritannien

    die repräsentative Frauenschicht – ceteris paribus – sich mehr und mehr, wahrscheinlich schon durch Auslese der Erbwerte, aus solchen Individuen […], die spezifisch weiblicher Reize bar sind und wenig durch Liebes- und Mutterschaftssorgen im sozialen Emporkommen, in „Berechnung“ und kontinuierlichem Dienst an einer wesentlich utilitaristischen Zivilisation, gehindert sind.[19]

    Scheler wiederholt den Fehler Sombarts – auf den er sich bei anderer Gelegenheit mit großem Lobe beruft[20] –, keinen tieferen Zug der amerikanischen Gesellschaft zu erfassen. Seine Ausführungen gehen somit an der Sache vorbei. Außerdem muten die Anwürfe Schelers trivial an – in dem Sinne nämlich, daß sie äußerst einfach herzustellen sind. Der Philosoph verläßt sich auf den Umstand, daß es für eine Frau, die sich in einen wohlsituierten Mann verliebt hat, unmöglich sein dürfte, einem Außenstehenden zu beweisen, daß sie jenen nicht seines Geldes wegen eheliche. Im Zweifelsfall läßt sich immer noch ein Essentialismus[21] – etwa „im Grunde“ oder „in letzter Konsequenz“ – einfügen, der alle Bemühungen der Dame zunichte macht. Vertreter des Kritischen Rationalismus sprechen in solchen Fällen von Immunisierung[22].

    Fassen wir zusammen: Das Bild der Vereinigten Staaten von Amerika als zur Gänze kommerzialisierter und „bloß kapitalistischer“ Nation wird von Sombart und Scheler durch eine in dienlicher Weise unvollständige Bestandsaufnahme gewonnen und aufrechterhalten. Scheler folgend, vernichtet der Kapitalismus Weiblichkeit, Liebe und Ehe; die Grünen im Bundestag befürchten das Nämliche vom Einfluß des Kapitalismus auf die Wissenschaft. In beiden Fällen lägen die Dinge in Amerika am ärgsten. Die Bundestagsfraktion „Bündnis 90/Die Grünen“ nimmt ein Motiv auf, das bereits vor dem Ersten Weltkrieg unter deutschen Eliten virulent war.

    Mit wissenssoziologischen Argumenten gegen die Bedingungen der Möglichkeit von Wissenschaft

    Nun zeugt die Kleine Anfrage der Grünen im Bundestag nicht lediglich von der Fortdauer des Kapitalismus-Motivs im deutschen Antiamerikanismus, sondern auch von der ungebrochenen Vorliebe für „entlarvende“, das heißt wissenssoziologische Argumente. Was Professor Singer sagt und schreibt, erhält weniger Aufmerksamkeit als die Frage, wer dessen Studien (ko-)finanziere.

    Die Wissenssoziologie bildet eine von deutschen Denkern wesentlich geprägte Tradition. Scheler wird unter deren Vertreter gerechnet, Friedrich Nietzsche und Karl Marx zu deren Vorläufern. Die Wissenssoziologie „behauptet, daß das wissenschaftliche Denken und insbesondere das Denken über soziale und politische Angelegenheiten […] zum Großteil durch unbewußte und unterbewußte Elemente beeinflußt“[23] wird. „Diese Elemente bleiben dem beobachtenden Auge des Denkers verborgen, da sie gleichsam der Ort sind, den er bewohnt, sein sozialer Standort.“[24] Dabei besteht das Anliegen der Wissenssoziologie darin, zu größerer Objektivität beizutragen: „Der Weg zum wahren Wissen scheint in der Entschleierung unbewußter Annahmen, in einer Art […] Soziotherapie zu bestehen. Nur wer sozio-analysiert worden ist oder sich selbst sozio-analysiert hat“[25], darf hoffen, seine Irrtümer zu durchbrechen und objektives Wissen zu erlangen.

    Leider trügt diese Hoffnung. Denn es bleibt unklar, weshalb eine solche Sozioanalyse zu höherer Objektivität führen sollte. Schließlich könnte sie lediglich darauf hinauslaufen, daß bestehende Vorurteile durch andere Vorurteile ersetzt werden. Außerdem erweist sich die Wissenssoziologie als selbstüberwindend (self-defeating): Auch sie ist von Menschen erschaffen worden, die einen „sozialen Standort“ haben; – also dürfte nach ihren eigenen Maßgaben kaum geraten sein, ihr zu vertrauen[26].

    Wie wir spätestens seit Adam Smiths „unsichtbarer Hand“ wissen, unterliegen menschliche Handlungen dem Gesetz von den unbeabsichtigten Folgen[27]. Eine der ungewollten Konsequenzen der Wissenssoziologie besteht darin, daß sie die Bedingungen der Möglichkeit einer sachbezogenen Auseinandersetzung untergräbt. Nennt Marx Jeremy Bentham „dies nüchtern pedantische, schwatzlederne Orakel des gemeinen Bürgerverstandes des 19. Jahrhunderts“[28], vermeidet er eine Diskussion des Bentham’schen Standpunkts – und damit alles, was an Wissenschaft gemahnt. Dafür wendet er eine Waffe an, die als Ideologie-Verdacht zu bezeichnen üblich geworden ist.

    Auch die Bundestagsfraktion der Grünen bedient sich des Ideologie-Verdachts. Kollateralschäden: Vernunft und Wissenschaft.

    Cui bono?

    Heiko Beyer und Ulf Liebe untersuchen die Verwandtschaft von Antiamerikanismus und Antisemitismus[29]. Ihre Ergebnisse sind auch für den vorliegenden Aufsatz interessant, der den Antikapitalismus als Topos des Antiamerikanismus betrachtet. Schließlich zeigen auch Antisemitismus und Antikapitalismus manchen gemeinsamen Zug, wie in nuce Marx’ Aufsatz „Zur Judenfrage“ zeigt[30].

    Beyer und Liebe spüren Strukturprinzipien nach, die sowohl dem Antiamerikanismus, als auch dem Antisemitismus eignen. Dazu zählen sie (i) „Personifizierungen von Modernisierungsfolgen“, (ii) die „Konstruktion identitärer Kollektive“ und (iii) „Manichäismus“, sowie (iv) einen dienlichen Eklektizismus der Erfahrungswirklichkeit gegenüber[31].

    Wenn wir, diesen Strukturprinzipien folgend, die Frage nach dem Nutzen stellen – die immer auch die Frage einschließt, um wessen Nutzen es sich handle –, erhalten wir bemerkenswert ernüchternde Ergebnisse:

    Ad (i): „Die Bestimmung «Amerikas» als Ort einer beängstigenden Zukunft, […] bzw. der «Amerikaner» als deren Macher“[32]. Wer die Dynamik einer Offenen Gesellschaft als beängstigend empfindet, sich – wie etwa Scheler[33] – nach einer ständisch geordneten, ruhenden Gesellschaft zurücksehnt, mag es tröstlich finden, wenigstens in Gedanken die beständige Veränderung schaffenden Kräfte aus der eigenen Gesellschaft hinaus in eine andere Gesellschaft hinein zu verlagern. So „sind“ es dann die Amerikaner, welche die Jugend verderben, die Männer geldgierig und die Frauen aufsässig machen.

    Ad (ii): Indem den Amerikanern als „Fremdgruppe“ moralische Defizite unterstellt werden, wird „die Eigengruppe hypostasiert“[34], das heißt überhaupt erst als Gemeinschaft erlebbar gemacht. Ohne die Kontrastfolie eines äußeren Gegners oder Übels würde die Eigengruppe schnell in Untergruppen zerfallen, die einander gleichgültig oder abhold sind. (Beispiele: Der „Burgfrieden“ im innerlich zerstrittenen Deutschen Reiche; das Verhalten der Anhänger beliebiger Fußballvereine.)

    Ad (iii): Wie Licht den Schatten braucht, um wirken zu können, bedarf der Gute des Bösen, um sich auszuzeichnen. Wenn „«Amerika» auf der Seite des Bösen steht bzw. als das Böse schlechthin ausgemacht wird“[35], läßt sich die Eigengruppe als Kreis moralisch höherstehender Menschen erleben. Ein entsprechender Mechanismus greift, wenn die Amerikaner als bäurisch und von fast food verdorben beschrieben werden; dies erlaubt, die der Eigengruppe Zugehörigen als ästhetisch höherstehender, kultivierter zu erleben.

    Ad (iv): Natürlich bedarf es bei alledem eines in dienlicher Weise selektiven Umgangs mit der Erfahrungswirklichkeit. Gewissenhaftigkeit der Empirie gegenüber – jenes Bemühen um eine umfassende Bestandsaufnahme, die Max Weber vor Werner Sombart auszeichnet; dazu die von Karl Popper gepredigte Bereitschaft, sein Denken von der Erfahrungswirklichkeit korrigieren zu lassen[36] – dürfte es wenigstens erschweren, dem Antiamerikanismus anzuhängen.

    Wie die Einträge (i) bis (iii) zeigen, zahlt sich Antiamerikanismus aus. Wenn nicht in klingender Münze, so in Selbstüberhöhung. Wenn Sombart vom „amerikanischen Dollarmenschen“ schreibt, versichert er sich und anderen, kein Geldmensch zu sein. Wenn der Dichter Stefan George, ein Zeitgenosse Sombarts und Schelers, von „der angloamerikanischen Normalameise“[37] spricht, bezeugt er sich und anderen, kein Durchschnittsmensch zu sein. Und wenn die Bundestagsfraktion von „Bündnis 90/Die Grünen“ die Finanzierung Singer’scher Forschungsprojekte durch amerikanische Konzerne inkriminiert, vermitteln sie sich und anderen den Eindruck, keiner entsprechenden Einflußnahme zu unterliegen: Deutsche Politiker wollen objektiver als ein renommierter Wissenschaftler aus den USA sein[38].

    Um welchen Preis?

    Alles hat seine Zeit – und seinen Preis. So auch der Antiamerikanismus und die ihn erst ermöglichende (deshalb: dienliche) Unbekümmertheit der Empirie gegenüber. Leider erlaubt der beschränkte Rahmen eines Aufsatzes lediglich, einen grundsätzlichen Aspekt dieses mehr als faszinierenden Problemkomplexes zu betrachten.

    Antiamerikanismus führt zu einer folgenreichen Fehlorientierung, wo die großen Revolutionen des achtzehnten Jahrhunderts in Rede stehen. So hält es Popper für

    tragisch, daß Europa fast immer nur dem mißlungenen Beispiel der Französischen Revolution (mißlungen jedenfalls bis zu de Gaulles Etablierung der Fünften Republik) Beachtung geschenkt hat, während das großartige Beispiel der Amerikanischen Revolution – zumindest im Schulunterricht – kaum zur Kenntnis genommen und fast immer mißverstanden wird. Denn Amerika hat den Beweis geliefert, daß die Idee der persönlichen Freiheit, wie sie zuerst Solon von Athen zu verwirklichen suchte und wie sie Immanuel Kant durchdachte, kein utopischer Traum ist. Das amerikanische Beispiel hat gezeigt, daß eine Regierungsform der Freiheit nicht nur möglich ist, sondern die größten Schwierigkeiten überwinden kann; eine Regierungsform, die vor allem darauf gegründet ist, die Despotie zu vermeiden – nicht zuletzt auch die Despotie der Majorität des Volkes – durch eine Teilung und Verteilung der Macht und durch gegenseitige Kontrolle der geteilten Mächte.[39]

    Die Leistung der amerikanischen Revolution liegt somit darin, die Despotie des Adels abzuschaffen und sie nicht, wie in Frankreich (und später in Rußland und Deutschland) geschehen, durch eine neue Despotie des Pöbels, bzw. sich des Pöbels bedienender Intellektueller[40] oder sonstiger Glücksritter zu ersetzen; die amerikanische Revolution hat die alte Despotie beendet und keine neue Despotie an ihre Stelle gesetzt. Dies leistet die amerikanische Verfassung, wie Popper ausführt, durch ihre Checks and Balances, und durch Limited Government, den Schutz des Bürgers vor der Mehrheit seiner Mitbürger und vor dem Staate. Wie wichtig dergleichen Rechtsgüter sind, zeigen die Exzesse der französischen Revolution (über die jene des Ancien Régime nicht vergessen werden sollten[41]) und die Totalitarismen des zwanzigsten Jahrhunderts.

    Die Früchte der beschriebenen Fehlorientierung zeigen sich bis in unsere Tage. Auch im heutigen Europa lassen sich autoritäre oder gar totalitäre Tendenzen ausmachen. Ökologismus und Klima-Kult weisen bereits hinreichend Faktenresistenz und Manichäismus auf,[42] um Sorge zu bereiten, und wie es sich für eine aufkeimende totalitäre Bewegung gehört, kommt es bereits zu Fällen vorauseilenden Gehorsams – indem etwa Kinder-Malwettbewerbe untergehenden Eisbären gewidmet werden[43]. Auch wird bereits von Gewaltakten wider Andersdenkende phantasiert, wie (nicht nur) der Skandal um einen Werbefilm für die Kampagne „10:10“ zeigt,[44] in welchem dissidente Schulkinder, Mitarbeiter u.a. schlankerhand in die Luft gesprengt werden[45]. Wenn eine solche Bewegung sich des Staats bemächtigt, oder der Staat gleichsam auf sie aufspringt, sind unter europäischen Verfassungen größere Übel für den einzelnen Bürger zu befürchten, als dies in Amerika der Fall wäre.

    Ein weiteres Zeichen, das Besorgnis erregt, bilden die jüngsten Prozesse gegen Bürger der Niederlande (Geert Wilders), Italiens (Oriana Fallaci), Dänemarks (Lars Hedegaard), Österreichs (Elisabeth Sabaditsch-Wolff, Susanne Winter) und Frankreichs (Michel Houellebecq, Brigitte Bardot), die von ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch machen, bzw. gemacht haben[46]. In den Vereinigten Staaten von Amerika wären derartige Prozesse durch den Ersten Verfassungszusatz ausgeschlossen.

    Zusammenfassung und Ausblick

    Das antikapitalistische Motiv im deutschen Antiamerikanismus setzt eine gewisse Blindheit bezüglich der Vereinigten Staaten voraus, und es befördert diese Blindheit. Wer wie Werner Sombart und Max Scheler in den USA bloß Kommerzialisierung und Kapitalismus erblickt, hat es versäumt, die tieferen Züge des Landes zur Kenntnis zu nehmen, wie es Sombarts Zeit- und Reisegenosse Max Weber vermochte. Mit dem antikapitalistischen Motiv im deutschen Antiamerikanismus verwoben zeigt sich ein wissenssoziologisch gefärbter Angriff auf die Glaubwürdigkeit amerikanischer Wissenschaftler; sie seien durch ihre Geldgeber korrumpiert. Dieser Anwurf wurzelt in einer von deutschen Denkern (Marx, Scheler) wesentlich geprägten Tradition. Zu deren nicht-intendierten Folgen gehört, daß sie die Bedingungen der Möglichkeit von Wissenschaft, mithin sachbezogener Diskussion untergraben. Das antirationalistische (und also antizivilisatorische, kulturzerstörende) Potential einer solchen Haltung sei hier noch einmal unterstrichen.

    Der Antiamerikanismus hat seinen (subjektiven) Nutzen; werden „die Amerikaner“ zum Bösen, läßt sich die Eigengruppe als Gruppe erfahren und in durch den (vermeintlichen oder tatsächlichen) Kontrast als höherwertig erfahren. Wie Popper ausführt, ist dafür der Preis einer sehr tief reichenden Fehlorientierung in staatsphilosophischen Fragen zu zahlen: Es bleibt unverstanden, wie wichtig der Schutz des einzelnen Bürgers vor der Despotie der Mehrheit seiner Mitbürger und des Staates ist. Wer in den USA nur Kommerz und Kapitalismus erblickt und an der Freiheit vorbeiblickt, die notwendig (negative) Freiheit des Einzelnen ist[47] und „bereits im Bereiche der Wirtschaft als der vordersten Frontlinie verteidigt werden“[48] muß, dem harren: Etatismus, Autoritarismus und, wenn es schlimm kommt, Totalitarismus.

    Anmerkungen

    [1] D. Maxeiner: Grüne machen mit Klimakatastrophen-Zweiflern den Sarrazin.
    Online: http://www.achgut.com/dadgdx/index.php/dadgd/article/
    gruene_kleine_anfrage_zwecks_aushebelung_der_meinungsfreiheit
    [Zugriff am 12.11.2010].

    [2] Vgl. ebd.

    [3] Vgl. jedoch unten, im Abschnitt „Um welchen Preis?“.

    [4] W. Sombart: Der Bourgeois. Zur Geistesgeschichte des modernen Wirtschaftsmenschen. Reinbek: Rowohlt 1988, S. 345.

    [5] C. Loader: Puritans and Jews: Weber, Sombart and the Transvaluators of Society. „Canadian Journal of Sociology“, Jg. 26, Nr. 4, 2001, S. 636.

    [6] Ebd., S. 639.

    [7] M. Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1988, S. 20-21.

    [8] Ebd., S. 215.

    [9] Ebd.

    [10] Ebd.

    [11] Dieses Argument orientiert sich am sog. Teilklassenvergleich, wie er von K. Popper beschrieben wird. Vgl. K. Popper: Logik der Forschung. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1976, S. 80–81 beschrieben wird.

    [12] Vgl. W. Sombart: Der Bourgeois…, S. 150, 294.

    [13] Ebd., S. 27; vgl. ebd. S. 169–170, 172, 180–181.

    [14] Ebd., S. 171.

    [15] Ebd., S. 172.

    [16] Vgl. G. Moore: The Super-Hun and the Super-State: Allied Propaganda and German Philosophy During the First World War. „German Life and Letters“, Jg. 54, Nr. 4, 2001, S. 310–330.

    [17] L. von Mises: Erinnerungen. Stuttgart: Gustav Fischer 1978, S. 40.

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    Aus: Majkiewicz / Dus (Hrsg.), Idea przemiany 3, Czestochowa 2011, S. 165-177

  • Christian Graf von Krockow: Drei Blicke auf Preußen

    „Die Deutschen in ihrem Jahrhundert 1890-1990“ ist ein bemerkenswertes Buch. Es bietet eine Fülle nachdenklicher Passagen, die selbst dort, wo man seinem Verfasser Graf von Krockow nicht zustimmen möchte, bedenkenswert sind. Zumal auch der Ton des Werks angenehm wirkt; man hat den Eindruck, einem gelehrten und kultivierten Manne zu lauschen, wie dieser seine Gedanken entwickelt.

    Es folgen drei Passagen aus dem Werk des Grafen, die von Preußen handeln. Deren erste weist darauf hin, was Preußen nicht ist:

    Hitler behauptet, daß er die preußische Armee zum Vorbild nimmt. Dort aber gab es den absoluten und blinden Gehorsam der Befehlsempfänger gerade nicht. Es galt vielmehr die Eigenverantwortlichkeit in der Ausführung – wie die Anekdote aus der Schlacht bei Königgrätz anschaulich macht: Ein Major hat etwas Unsinniges getan und beruft sich auf den Befehl, der ihm erteilt wurde. Doch er bekommt zu hören: „Herr, dazu hat Sie der König von Preußen zum Stabsoffizier gemacht, daß Sie wissen, wann Sie einen Befehl nicht ausführen dürfen!“

    Die zweite Passage reicht tief in die Ethik und Geschichtsphilosophie; sie fragt nach dem summum bonum „des“ Preußen – und sucht den Kontrast in der Neuen Welt:

    …kommt es auf den Idealismus des Selbstopfers im Dienst für das Höhere und Höchste an, sei dies der Staat, das Volk, die Gemeinschaft oder was auch immer. Nicht das Lebensglück zählt, sondern die Pflichterfüllung. Auch dafür hat der Soldatenkönig das Muster geschaffen; in seinem Zeichen steht der Kampf mit dem Thronerben – und der Sieg des Vaters über den Sohn. Was wiegt dagegen der persönliche Preis, den Friedrich zahlen muß, die unerbittlich wachsende Einsamkeit, am Ende die Menschenverachtung, der bloß noch Hunde als Gefährten bleiben?

    Unsere Kathedrale der Pflichterfüllung, über einer Schädelstätte des Glücks aufgetürmt: Es ist des Nachdenkens wert, daß noch zu Lebzeiten des großen Königs, 1776, fern im Westen der Gegenentwurf seine Gestalt finden wird, der dazu bestimmt ist, Epoche zu machen: „pursuit of happiness“, das Streben nach Glück als ein dem Menschen eingeborenes und unveräußerliches Recht.

    Ernst Jünger allerdings hat wiederum dazu die Gegenparole gefunden: „Jede Haltung“, sagt er 1932, „der ein wirkliches Verhältnis zur Macht gegeben ist, läßt sich auch daran erkennen, daß sie den Menschen nicht als Ziel, sondern als Mittel… begreift. Der Mensch entfaltet seine höchste Kraft, entfaltet Herrschaft überall dort, wo er im Dienste steht. Es ist das Geheimnis der echten Befehlssprache, daß sie nicht Versprechungen macht, sondern Forderungen stellt. Das tiefste Glück des Menschen besteht darin, daß er geopfert wird, und die höchste Befehlskunst darin, Ziele zu zeigen, die des Opfers würdig sind.“ Das erwies sich keineswegs als Wahn, sondern als eine deutsche Wahrheit – oder wenn es denn Wahn war, als der schreckensvoll wirksame.“

    Die dritte und letzte Passage schließlich beleuchtet anläßlich der de-facto-Vernichtung Preußens den deutschen Regionalismus, eine – wie bei dieser Gelegenheit zu bemerken sowohl sinnvoll, als auch verzeihlich sein mag – aus polnischer Perspektive oftmals unterschätzte Größe in der deutschen Geschichte:

    Der Verfasser ist zufällig Zeuge eines Festakts zur Gründung der „Niedersächsischen Landespartei“ im Jahre 1946 gewesen. Damals stellte der Hauptredner – später Bundesminister, dann Ministerpräsident von Niedersachsen – die geschichtliche Stunde unter das Motto: „Der Erbfeind (Preußen) liegt zerschmettert am Boden, die achtzigjährige Schmach von Langensalza (Kapitulation der hannoverschen Armee vor der preußischen) [oben] ist gelöscht und die gelbweiße Fahne wieder am Mast!“

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    Christian Graf von Krockow, „Die Deutschen in ihrem Jahrhundert 1890-1990“, rev. und erw. Ausgabe, Reinbek bei Hamburg 1990, Seiten 162-163, 413 und 442.

  • „Naseweise klüglinge/vnd gehessige Neidharten“

    Es wird Zeit, wieder einmal etwas Schönes zu hören. Deshalb folgt nun die Vorrede („Author ad Isagogen“) aus Heinrich Stahls „Anführung zu der Esthnischen Sprach“, die 1637 in Reval, dem heutigen Tallinn erschienen ist.

    GEhe hin/meine Anführung/in die Welt/vnd vnter die Leute/und hilff denen/so zur Esthnischen Sprache beliebung tragen/das sie zu deroselben wissenschafft gelangen/vnd ihrer gebrauchen/Gott zu Ehren/ihnen selbst zu zeitlichem vnd ewigen gedeyen/vnd vielen Menschen zu nutz vnd frommen/wie du dann vmb solcher/und keiner andern Vrsachen willen von mir abgefertiget wirst.

    Ich will dir aber zuvor sagen/vnd verkündigen/wie es dir gehen werde/vnd was du wirst zu erwarten haben/auff das du dich desto besser in die Zeit schicken/darnach richten/vnd gegen männiglich der gebühr nach verhalten/vnd bezeigen möges.

    Es werden dir/liebe Anführung/begegnen viele fromme hertzen/die dich mit frewden empfangen/annemen/vnd deiner gebrauchen werden: Denen selben soltu dienen/vnd so viel möglich/befürderlich sein/das sie die Esthnische Sprache fassen/vnd wesser art sie sey/erkennen/oder/da sie selbige schon zuvor wissen/das sie sich mit dir eine kleine weile belüstigen/ und ergetzen; Darnach soltu deine Großgünstige Herren auch fleissig ersuchen/das sie für lieb annemen/was ich/mit vielfältiger mühe vnd schwerer Arbeit häuffig vnd überlüssig beladen/in kurtzer Zeit/schleunigst entworffen/vnd dir mitgetheilet/vnd sich nicht wundern lassen/dafern etwas unverhoffentlich untergeschlichen/das allerdings nicht besteht/vnd sie besser verstehen […]. So aber einem oder dem andern düncket/das an dir/oder meinen andern Schriften/die außgekommen/vnd hinführo außkommen werden/etwas zu endern/zuzusetzen/außzuwerfen/vnd zuverbessern/allermassen ich selbst erkenne/das du noch vnvollkommen/vnd nur auß dem gröbesten gehawen/den oder dieselben soltu bitten/das sie mich dessen Schrifft- oder Mündtlich ohne schew erinnern/Ich erbiete mich solches danckbarlich anzunehmen/vnd guten Raht williglich zu folgen.

    Neben diesen wirstu auch antreffen Naseweise klüglinge/vnd gehessige Neidharten/welche bald hie/bald dort etwas herfür suchen und außklauben/selbiges durch ihren klugen Kopff ziehen/anzischen/lästern/tadeln/vnd nach ihrer hocherhabenen Naseweißheit meistern vnnd klügeln werden/nicht das sie dazu gnugsahme vrsachen hetten/sondern die Leute sehen/hinder ihren grossen Bärten/vnnd anschlägigen Köpffen stecke auch/vnd sey vergraben/grosse/vnerforschliche/thörliche klugheit/für welcher sie bersten möchten.

    Stahl fährt fort:

    Denenselben soltu melden/Erstlich/das es zeit sey/von ihrer Mißgunst abzustehen/vnd GOtt keine Ehre/auch den Menschen ihr bestes zu vergönnen/massen sie mit solcher ihrer Mißgunst/da sie vngern sehen/das die Esthnische Sprache gemein wird/keinen höher/als sich selbst/beleidigen/ihr eigen Hertz quelen/vnnd doch das aller geringste an meinem führhaben nicht behindern: Darnach/das sie zum Artzten gehen/und sich curiren lassen von der gefährlichen Seuche der Faulheit/damit sie beladen sind/ehe dieselbe gar überhand nimmet/vnnd sie in derselben mit grosser schmach und schande sterben vnd vntergehen: vnnd endtlich/das sie aus der Schatzkammer ihrer Weißheit etwas bessers an den Tag bringen/so werden männiglich dessen gebrauchen/Ihnen dafür Lob und Danck sagen/vnd ihre Weißheit/wie billich/in den Himmel erheben.

    Zitiert nach der zweiten Auflage des Neudrucks, Brampton/Tartu 2000.

  • 23./24. August 1939: Hitler-Stalin-Pakt

    Richard Wagner erinnert an ein Datum, das viele „Progressive“ lieber vergessen möchten: Vor 72 Jahren haben Hitler und Stalin die vierte Teilung Polens beschlossen. Der Hitler-Stalin-Pakt bildet einen blinden Fleck im historischen Bewußtsein vieler Deutscher – wohl auch deshalb, weil er von deutschen und russischen Historikern als Randerscheinung behandelt wird.

    Wagner:

    „In der Akademie für politische Bildung in Tutzing fand im Juli eine deutsch-russische Historikertagung statt. Es ging um „Erinnerungsorte des 20. Jahrhunderts im russischen und deutschen Gedächtnis.“ Der Titel wurde durch drei Jahreszahlen aufschluss-und folgenreich markiert: 1941, Hitlers Angriff auf die Sowjetunion; 1961, Mauerbau und 1991, das Ende der Sowjetunion. Der Hitler-Stalin-Pakt von 1939 war zwar am Rande auch ein Thema, aber nur am Rande.

    Sein Status als Marginalie erlaubt es über die Ereignisse vom 23.August 1939 bis zum 22. Juli 1941 hinwegzusehen. Diese aber stellen eine mustergültige Zeugenschaft für den Totalitarismus dar. Ihre Betrachtung macht jede Debatte über die Vergleichbarkeit der beiden extremistischen Systeme überflüssig. Ihre Verbrechen erweisen sich als so überzeugend austauschbar, dass noch in späten Projekten, wie dem der ersten Wehrmachtsausstellung, Dokumente falsch zugeordnet werden konnten.“

    Wagner schließt:

    „In den von Stalin besetzten Gebieten beginnt das „Rote Jahr“ 1940, das von Willkür und Terror, Enteignung und Deportation geprägt ist. Es ist für die Völker Ost- und Ostmitteleuropas die Einführung in das, was sie mit dem Kalten Krieg, von dem sie noch nichts wissen können, in der Nachkriegszeit erwartet.“

    Die Angehörigen dieser Völker dürften sich wundern, daß ein Artikel, wie ihn Wagner geschrieben hat, überhaupt notwendig ist. An der Weichsel etwa hält kaum jemand eine „Debatte über die Vergleichbarkeit der beiden extremistischen [oder totalitaristischen] Systeme“ für unabdingbar. Von Polen aus ist die Sache klar – wie sie übrigens auch für den sowjetischen Schriftsteller Vasilij Grossman klar gewesen ist.

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    Rudyard Kipling: Gestern vor knapp 800 Jahren

    Rudyard Kiplings „The Reeds of Runnymede“ (Magna Charta, June 15, 1215) — mit einigen Hervorhebungen und Kommentaren.

    At Runnymede, at Runnymede
    What say the reeds at Runnymede?
    The lissom reeds that give and take,
    That bend so far, but never break.
    They keep the sleepy Thames awake
    With tales of John at Runnymede.

    At Runnymede, at Runnymede,
    Oh, hear the reeds at Runnymede: —
    „You mustn’t sell, delay, deny,
    A freeman’s right or liberty.
    It wakes the stubborn Englishry,
    We saw ‚em roused at Runnymede!

    Rechte sind „negativ“; sie verbieten dem Staat und dem Mitbürger, dies und jenes mit einem Menschen zu tun. Und sie müssen verteidigt werden.

    „When through our ranks the Barons came,
    With little thought of praise or blame,
    But resolute to play the game,
    They lumbered up to Runnymede;
    And there they launched in solid line
    The first attack on Right Divine —
    The curt, uncompromising ‚Sign!‘
    That settled John at Runnymede.

    „At Runnymede, at Runnymede,
    Your rights were won at Runnymede!
    No freeman shall be fined or bound,
    Or dispossessed of freehold ground,
    Except by lawful judgment found
    And passed upon him by his peers.
    Forget not, after all these years,
    The Charter Signed at Runnymede.“

    Rechte fallen nicht vom Himmel; sie müssen erkämpft werden.

    And still when Mob or Monarch lays
    Too rude a hand on English ways,
    The whisper wakes, the shudder plays,
    Across the reeds at Runnymede.
    And Thames, that knows the moods of kings,
    And crowds and priests and suchlike things,
    Rolls deep and dreadful as he brings
    Their warning down from Runnymede!

    Die Herrschaft des Rechts (Rule of Law) darf nicht mit der Herrschaft der Mehrheit des Volkes verwechselt werden. Die Frage, wer herrschen soll, ist irreführend. Es geht darum, was herrschen soll: Ein Recht, das jeden einzelnen Bürger vor Staat und Mitbürgern schützt.

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    Der Bildungsauftrag öffentlich-rechtlicher Medien in historischer Perspektive

    Als Winston Churchill ’störte‘. Milton Friedman:

    From 1933 to the outbreak of World War II, Churchill was not permitted to talk over the British radio, which was, of course, a government monopoly administered by the British Broadcasting Corporation. Here was a leading citizen of his country, a Member of Parliament, a former cabinet minister, a man who was desperately trying by every device possible to persuade his countrymen to take steps to ward off the menace of Hitler’s Germany. He was not permitted to talk over the radio to the British people because the BBC was a government monopoly and his position was too „controversial“.

    (Capitalism and Freedom, Chicago 2002, S. 19.)

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    Mit Rudyard Kipling zum neuen Jahr

    Dane-Geld

    A.D. 980-1016

    It is always a temptation to an armed and agile nation
    To call upon a neighbour and to say: —
    „We invaded you last night – we are quite prepared to fight,
    Unless you pay us cash to go away.“

    And that is called asking for Dane-geld,
    And the people who ask it explain
    That you’ve only to pay ‚em the Dane-geld
    And then you’ll get rid of the Dane!

    It is always a temptation for a rich and lazy nation,
    To puff and look important and to say: —
    „Though we know we should defeat you, we have not the time to meet you.
    We will therefore pay you cash to go away.“

    And that is called paying the Dane-Geld;
    But we’ve proved it again and again,
    That if once you have paid him the Dane-geld
    You never get rid of the Dane.

    It is wrong to put temptation in the path of any nation,
    For fear they should succumb and go astray;
    So when you are requested to pay up or be molested,
    You will find it better policy to say: —

    „We never pay any-one Dane-Geld,
    No matter how trifling the cost;
    For the end of that game is oppression and shame,
    And the nation that pays it is lost!

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    Wie man die schlechte Nachricht höflich überbringt

    Hagen Schulzes „Kleine deutsche Geschichte“ zeichnet – neben vielem anderen – die deutsche Sozialstaatstradition nach. Der Historiker übt Zurückhaltung. Denn die Fakten sprechen für sich.

    Schulze über das Deutsche Reich von 1871:

    Das Sozialistengesetz von 1878 war die staatliche Antwort auf die Kampfansage der „Umsturzpartei“, wenn es sich auch in Kenntnis politischer Unterdrückungsmaßnahmen des 20. Jahrhunderts fast harmlos ausnimmt – immerhin blieb die SPD-Reichstagsfraktion bestehen und erstarkte von Wahl zu Wahl. Auf der anderen Seite führte die Reichsregierung seit 1880 Schritt für Schritt eine staatliche Sozialversicherung ein, die vorbildlich für ganz Europa wurde, um aus besitzlosen Sozialisten konservative Rentiers zu machen – was das anging, erwies sich die europaweit vorbildliche, wenn auch ganz aus dem Geist des ostelbischen Paternalismus erdachte Sozialpolitik als erfolglos, denn nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes 1890 war der Zustrom zur SPD stärker denn je. (Kleine deutsche Geschichte, S. 136)

    Ansprüche auf Ansprüche (entitlements) wachsen mit dem Essen.

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