Interessant, was Übertragungen aus Gedichten machen. Nehmen wir die erste Strophe von J.R.R. Tolkiens Zwergenlied vom Gold hinter den Nebelbergen:
Far over the misty mountains cold,
To dungeons deep and caverns old
We must away ere brake of day
To seek the pale enchanted gold.
Schön, nicht wahr? Wie aber so etwas übertragen? Es gibt verschiedene Möglichkeiten. Die deutsche Ausgabe vom Hobbit enthält eine Vers für Vers nachvollziehbare, wortgetreue Prosaübersetzung:
Weit über die kalten Nebelberge,
zu den tiefen Verliesen und uralten Höhlen
müssen wir fort, ehe der Tag anbricht,
das bleiche verzauberte Gold suchen.
Solche Genauigkeit hat natürlich (wie alles im Leben) ihren Preis: die Schönheit ist zerstoben. Man müßte das Original lesen oder sich vorlesen lassen, um seinen Reiz zu erahnen.
Zwei polnische Hobbit-Ausgaben gehen einen anderen Weg. Die ältere der beiden Editionen bietet folgende Nachdichtung an:
Ponad gór omglony szczyt
Lećmy, zanim wstanie świt,
By jaskiniom, lochom, grotom
Czarodziejskie wydrzeć złoto.
(Wörtlich übersetzt: Über der Berge umnebelten Gipfel
Laßt uns aufbrechen, bevor die Morgendämmerung anbricht,
Um den Höhlen, Verliesen, Grotten
Das zaubertätige Gold zu entreißen.)
Sie sehen: hier hat sich einiges verändert. Immerhin haben wir – im Unterschied zur deutschen Ausgabe – ein Gedicht vor uns, aber doch eines, dessen Inhalt und Form deutlich vom englischen Original abweichen. Schon die Reimordnung ist verändert worden. Tolkiens Gedicht folgt dieser Reimordnung:
a
a
bb
a
Die polnische Nachdichtung bietet zwei Paarreime (wenn man die Assonanz „grotom“ – „złoto“ akzeptiert). Dazu wirkt sie weniger feierlich, denn der Imperativ „lećmy“ hat etwas Umgangssprachliches an sich; hier ist keine Rede verpflichtender Aufgabe („we must…“) mehr. Das gesuchte Gold ist nun nicht mehr verzaubert (enchanted), sondern zaubertätig (czarodziejski). Blaß ist es weder hier, noch in der sogleich diskutierten Übersetzung; das geht einfach verloren.
Die jüngere polnische Hobbit-Ausgabe überträgt Tolkiens Zwergenlied in folgender Weise:
Wśród szczytów gór, w głębokich grotach
w otchłaniach hen, gdzie skalne wrota,
gdzie mrok i mgła, u kresu dnia,
my swego wciąż szukamy złota.
(Wörtlich übersetzt: Zwischen den Gipfeln der Berge, in tiefen Grotten,
In sehr weit entfernten Abgründen, wo felserne Tore sind,
Wo Dunkelheit und Nebel herrschen, am Ende des Tages,
suchen wir immerzu unser Gold.)
Hier hat sich noch mehr verändert. Doch das ist kein Zeichen von Willkür. Der Übersetzerin lag vor allem daran, den Rhythmus und die Reimordnung nachzubilden. Dies ist ihr, wenn man eine Assonanz (grotach) zugesteht, vorzüglich gelungen. Das „ch“ in „grotach“ ist nicht allzu stark zu sprechen.
Bei Tolkien haben wir die Reime:
cold
old
away – day
gold
Die jüngere polnische Edition bietet:
grotach
wrota
mgła – dnia
złota
Auch der Rhythmus scheint sich mir näher am Original zu bewegen; natürlich im Vers mit den Binnenreimen, außerdem im zweiten Vers. Ist dort nach „dungeons deep“ eine kleine Pause anzunehmen, gilt dies ebenfalls nach „hen“ („sehr weit entfernt“; die Bestimmung ist nachgestellt, was aus meiner Übersetzung der Nachdichtung nicht hervorgeht).
Um welchen Preis freilich dies alles erreicht wird! Das Gold ist hier weder verzaubert, noch zaubertätig. Der Nebel (mgła) erscheint weit, weit von den misty mountains getrennt, als habe er rein gar nichts mit ihnen zu tun. Die Bestimmung „ere break of day“ wird um rund zwölf Stunden verschoben. Wie mir einige Muttersprachler versichert haben, sei „u kresu dnia“, obschon wörtlich als „an der Grenze des Tages“ (und somit neutral im Hinblick auf Morgan und Abend) zu übersetzen, als abendlicher Zeitpunkt zu verstehen. Ob „u kresu dnia“ hier überhaupt noch auf die Stunde des Aufbruchs bezogen, als solche verstanden werden kann, wirkt fraglich.
Welche der drei Übertragungen ist nun die beste? Die wortwörtliche Prosa-Übersetzung der deutschen Ausgabe, die ältere oder die jüngere Nachdichtung in polnischer Sprache? Diese Entscheidung liegt bei Ihnen. Mir ging es lediglich darum zu zeigen, wie der Übersetzer mit der Materie (und sich selbst) verhandeln muß, wo ein Gedicht übertragen werden soll. Hier gibt es keinen Königsweg, sondern nur trade-offs. Jede Entscheidung ein Quid pro quo. Und, von Glücksfällen abgesehen, jeder Gewinn auch ein Verlust.
*
Die deutsche Übersetzung stammt von Walter Scherf (J.R.R. Tolkien, Der kleine Hobbit, München 2002). Die ältere polnische Nachdichtung erstellte Włodzimierz Lewik (J.R.R. Tolkien, Hobbit czyli tam i z powrotem, Warschau 1997), die jüngere polnische Übertragung Paulina Braiter (J.R.R. Tolkien, Hobbit albo tam i z powrotem, Warschau 2009).